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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)


Sie eilte in die Hütte, um sich durch die gewohnte Arbeit zu zerstreuen, aber sie erkannte bald, daß das nicht der geeignete Ort für dies Vorhaben war, denn Alles erinnerte hier an ihn und an das Geschehene. Dort vor der Fallthür zum Keller war der Entsetzliche gestanden … sie sah ihn vor sich, sie fühlte, wie sein durchbohrender Blick voll der unsäglichsten Verachtung auf ihr lag … sie hörte ihn mit Gotthard's Stimme die vernichtenden Worte sprechen „Du grundschlechte Seel’!“ … Aber sie hatte ihm dafür vergolten! Sie hatte ihn bis in’s Tiefste getroffen! Mit dem einzigen Worte „Mörder“ hatte sie seinen Hochmuth geknickt, seine Verachtung entwaffnet … wie gebrochen, wie so ganz nach außen und innen vernichtet war er dahingegangen — dem baldigen sichern Tode entgegen! Gotthard und sie selbst war an ihm gerächt … und doch, wenn sie ihn in Gedanken so dahinschreiten sah, dem Tode zu, nicht mit dem wilden Trotze des Verbrechens, sondern mit einer Erschütterung, die fast aussah, wie die tiefste Reue — dann wich die Strenge, und ein Strahl von Mitleiden dämmerte auf in der Nacht ihres Gemüths.

Hastig raffte sie sich dann auf und fuhr mit der Hand über die Stirne, als wären diese Gedanken etwas Aeußeres, das sich wegnehmen und lüften ließe, wie ein drückendes Band. „Wie kommt mir so was in den Sinn!“ murmelte sie vorwurfsvoll vor sich hin. „Geschieht ihm denn nicht recht? Und wenn sie ihm das Härteste anthun, ist es mehr, als er verdient hat? Nein — und wenn ich es nochmal zu thun hätte — ich würde mich keinen Augenblick besinnen und es wieder ebenso machen! Ich glaube, ich könnte zusehn, wie sie ihm den Kopf …“

Sie vollendete den Gedanken nicht – denn im Augenblick sah sie diesen Kopf vor sich, so männlich kühn und doch so gutmüthig, daß seine Schuld wie eine Unbegreiflichkeit erschien; sie empfand diese braunen, tiefdringenden Augen auf sich gerichtet, wie damals, als er neben ihr, am Hüttenfenster stehend, ihre Hand gefaßt hatte … und immer wieder tönte ihr die leise trauliche Frage in’s Ohr: … „Thät’ es Dir leid? … Bist Du mir gut?“ … Und jene Hand, die so vertraulich in der ihrigen gelegen, hatte Gotthard über den Felsen gestürzt — was hatte sie auf diese Fragen geantwortet und wem? Und wenn diese Fragen noch einmal an sie gerichtet würden … und sie wollte wahr sein gegen sich selbst, was konnte sie noch jetzt darauf antworten? War nicht etwas in ihr, was trotz alles Geschehenen sich nicht beschwichtigen ließ und dem Manne zu Gunsten sprach, den sie haßte und verfolgte als Mörder und Verbrecher?

Die Hütte ward ihr zu eng: sie füllte sich immer mehr mit sie umdrängenden Gestalten und Bildern der letzten und früherer Vergangenheit, die sie wegängstigten und vertrieben. Sie mußte fort und sie wußte, wohin sie sollte … sie konnte nicht zweifeln über den Ort, an welchem dieses wilde Gewirr von Empfindungen sich lösen und aller Zwiespalt in Ruhe verhallen mußte.

Vor die Hütte tretend, wandte sie sich gegen eine höhere grüne Berghalde zu, von welcher, eingerahmt von Wald und Gebirg, eine andere Sennhütte heruntersah, und stieß eine Art Juhschrei aus: es war das Zeichen, das die Sennerinnen sich zurufen, wenn sie der Hülfe der Nachbarinnen bedürfen. Es währte nicht lange, so ging oben die Thüre der Almhütte auf, die Sennerin trat heraus, schaute umher und erwiderte den Ruf. Als Sabine geantwortet, sah man, wie die Sennerin oben die Hütte schloß und eilig die Berghalde herunterkam. Es dauerte nicht lange, so kam sie an Sabinens Alm heran und hörte gläubig und theilnehmend deren Bericht, wie sie von einem besonderen Wehthun befallen worden sei, daß sie es nicht mehr auszuhalten vermöge und unten im Dorf Hülfe suchen müsse. Das war auch in anderem Sinne nicht unwahr und mochte der Sennerin, einer ältlichen, gutmüthigen Person, um so glaublicher sein, wenn sie das verstörte Wesen der Nachbarin sah und wie die „Hitz’ und die Kält’“ in ihrem Gesicht wechselten und der Athem ihr vom Munde ging, „so brennend heiß, zum Anzünden“.

Sie versprach, bis zu ihrer Wiederkehr oder Ablösung Hütte und Heerde wie die eigene zu besorgen, und Sabine flog bald durch den morgenduftenden Bergwald dahin. Es war vergebens, daß im thaufrischen Gebüsch die Amsel sang, daß die tropfenden Tannenzweige sich perlschimmernd im leichten Morgenwind wiegten und die Sonne goldgrün durch die hellen Buchenkronen brach — die Sennerin schritt heute hastig und tiefsinnend vorüber, ihr Auge war blind für die Schönheit, ihr Herz unempfindlich für den Frieden um sie her. Als sie in die kühle Schlucht am Fuße der langen Wand ankam und gegen das Marterl einbog, hielt sie erst den eilenden Schritt etwas an und athmete auf, als wolle sie die zwischen den Felsen herrschende Kühle wie eine Erfrischung in sich schlürfen.

Vor dem Täfelchen mit dem Doppelkranze angelangt, brach sie wie erschöpft in die Kniee, schlug beide Hände vor das Gesicht und ließ ihren Thränen freien Lauf, die nun erst sich die Bahn zu brechen vermochten und erleichternd von Herz und Auge strömten. Sie fand bald Stimmung und Worte zum Gebet, und so inbrünstig, wie vielleicht noch nie, flossen die frommen Sprüche und Segenswünsche für die Ruhe des Todten von ihren Lippen. Wenn etwas Wahres war an der Sage, daß der Gemordete unruhig an die Erde gebannt sei und in die Freuden des Himmels erst dann eingehen dürfe, wenn der Mörder durch das eigene Blut das fremde gesühnt habe, so stand ja bald nichts mehr im Wege, die arme Seele durfte bald zum ewigen Frieden eingehen und zum Leuchten des ewigen Lichts, denn die Sühne seines Blutes war nahe.

In der Innigkeit ihres Flehens falteten sich die Finger in einander, und die Hände sanken vor dem Antlitz der Betenden herab, die Augen hoben sich empor zu dem Morgenhimmel, der über dem Felsenspalt blaute, und blieben dann an dem Martertäfelchen haften. Im Augenblick brach Sabine das Gebet ab und sprang empor, wie erschrocken über einen unvermutheten fürchterlichen Anblick; dann ergriff sie den Kranz aus Tannenreisig, riß ihn von dem Bilde und schleuderte ihn weithin in’s Gestein, wie man etwas von sich wirft, was man vor Abscheu kaum zu berühren wagt. Es dünkte ihr wie eine frevelhafte Entheiligung, wie ein neues Verbrechen, daß der Mörder es gewagt, den Schauplatz seiner entsetzlichen That wieder zu betreten und gleichsam wie mit einem Siegeszeichen zu schmücken!

(Schluß folgt.)




Auch ein Beitrag zum Hermann’s-Denkmal.

Wie Alles schwieg von Deutschlands Ehre
Und stumm erlitt des Feindes Hohn,
Da trat das Volk mit voller Schwere
Heran zu seiner Fürsten Thron:

5
„Was duckt ihr vor den frechen Franken

Und wartet auf den bessern Tag?
Hier sind des deutschen Bären Pranken,
Hier ist des deutschen Bären Schlag.

Dort ist der Feind, nun gilt es Schlagen!“

10
Gesagt, gethan; es ging zur Schlacht,

Gebrochen ward nach blut’gen Tagen
Des nie Bezwung’nen Zaubermacht.

Man ging nach Haus, man lebte weise,
Man träumte ruhig weiter fort,

15
Die Jahre schwangen sich im Kreise;

Vergessen war das Heldenwort.

Als funfzig Jahre dann verflossen,
Da dachte man der alten Zeit;
Wie jubelten die Festgenossen

20
Und schwelgten in Vergangenheit!


Man sammelte zu einem Tempel
Zu Hermann’s, des Befreiers Ruhm,
Der ganzen Nachwelt zum Exempel,
Der Nation zum Ehrenthum.

25
Da schlich, die Sichern zu berücken,

Vom Norden her der Dänenwolf
Und marterte mit alten Tücken
Das deutsche Blut am Ostseegolf.

Und ihr? Ihr knirscht wohl in den Zügel,

30
An Waffen fehlt’s dem Volk zum Strauß;

Auf, schmeißt den Hermann in den Tiegel
Und gießet euch Kanonen d’raus!
 Dennoch.



Zur Beachtung. Wiederholt erklären wir, daß wir es mit der Tendenz und dem ernsten Zwecke unserer Zeitschrift für durchaus unvereinbar halten, das Publicum durch sogenannte Prämien zu gewinnen. Unser Blatt ist weder ein Bilderbuch, noch eine Kinderzeitung, wo derlei spielerische Lockspeise vielleicht am Orte sein dürfte.
Leipzig, im Januar 1864. Redaction und Verlagshandlung der „Gartenlaube“. 



Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_064.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)