Seite:Die Gartenlaube (1864) 090.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

des Landes meiner Sehnsucht; war es der ungeheure Contrast zwischen dieser Sehnsucht und der Lage, in die sie mich geführt, oder das Bewußtsein gänzlicher Schuldlosigkeit – da mir auch nicht das Geringste, nicht das lumpigste Polizeivergehen, etwa die Unterlassung einer Polizeivisa oder dergleichen vorgeworfen werden konnte, noch vorgeworfen worden war – gegenüber einer brutalen, aber ganz unangreifbaren Gewalt: kurz, mich durchdrang plötzlich eine innere Freudigkeit, vor der das Dunkel meines Verließes schwand und seine Mauern wichen. Ich mußte mir Luft machen im Gesang, und nachdem ich Luthers „Feste Burg“ mit aller Inbrunst durchgesungen, holte ich meinen ganzen Liederschatz hervor, geistlich, weltlich, Kriegslieder, Volkslieder, Studentenlieder, von „Lützow’s Jagd“ bis zum „Bursch von echtem Schrot und Korn“ und dem „Käfer, der auf dem Zaune saß“, und fand gar kein Ende; denn zu meiner eigenen Ueberraschung fiel mir immer wieder ein neues ein.

Endlich – es war längst stockfinstere Nacht geworden – schien doch die Natur erschöpft und verlangte Ruhe. Das Strohsacklager mit seinem lebendigen Inhalt hatte keinen Reiz für mich; ich tastete mich in den dem Kübel entgegenstehenden Winkel, quetschte mich stehend in die Ecke und verlor bald die wirkliche Welt aus dem Bewußtsein. Aber nach einiger Zeit mochte ich auch das Gleichgewicht verloren haben: ich erwachte, am Boden in einer Schmutzlache sitzend. Zugleich vernahm ich, wie draußen an die Gangfenster heftige Regengüsse anschlugen und der Wind durch die Straße pfiff. Es war Morgen geworden, und bald hörte ich das Gerassel der Schlüssel, die meine Kerkerthüre öffneten. Nach dem Genuß einer Suppe, wie der gestrigen, ward ich hinabgeführt.

Vor dem Polizeigebäude hielt ein Karren, auf welchem bereits der mehrgenannte Sträfling angekettet saß. „Aufgesessen!“ herrschte der Polizeiknecht mich an. „Das thue ich nicht!“ war meine Antwort. „Ich setze meine Reise nach Innsbruck zu Fuß unter Begleitung eines Führers fort. Das allein habe ich unterschrieben. Mir ist nicht das Geringste zur Last gelegt, und Ihr wollt mich wie einen gemeinen Verbrecher behandeln. Ich verlange den Herrn Commissär zu sprechen.“ Statt aller Antwort that einer der Polizeiknechte einen Pfiff; Beide aber packten mich mit Gewalt, hoben mich auf den Karren und setzten mich neben den Sträfling. Im selben Augenblick wurde aus dem obersten Stockwerk des Gebäudes eine Kette geworfen, und ehe ich mich’s versah, war sie mir um’s Bein gelegt und mit dem andern Ende an den Karren befestigt.

So war ich denn ohne Anklage und ohne Spruch, ja selbst nicht einmal nach einer Voruntersuchung, in eine Lage gebracht, die mich einem schweren Verbrecher oder einem eines schweren Verbrechens Angeklagten gleichstellte. Das ist aber die nothwendige Folge einer illiberalen Staatsraison, die – wenn noch so anständig in den obern Regionen ausgeübt – in den Händen der Beamten in untern Schichten aus bloßem Diensteifer zur rohesten Gewalt ausartet. Es war diesen gemeinen Polizeiknechten nicht genug, mich mit meinem ohnmächtigen Widerstand verlachen zu können: sie mußten ihr Müthchen noch weiterhin kühlen. Der Himmel ergoß sich in strömendem Regen; die Dachrinnen von Sterzing spieen ihre Wasser aus Drachenköpfen von oben und von beiden Seiten auf die Mitte der Straße. Das gab den Polizeiknechten die erwünschte Gelegenheit, ihren auf den Karren angeschlossenen Gefangenen, indem sie uns immer unter die Traufe führten, ein kaltes Sturzbad zu bereiten, woran sie ein um so größeres Vergnügen empfanden, je unangenehmer, ja, je schrecklicher die Wirkung auf uns, namentlich auf mich, war. Ich hatte nur leichte Sommerkleider an und bereits keinen trockenen Faden mehr auf dem Körper, als wir Sterzing hinter uns hatten; dabei regnete es unaufhörlich und war empfindlich kalt, und auf dem engen Karrensitz dicht an den Sträfling geschlossen, fühlte ich so zu sagen seine nasse Haut auf der meinigen. Von der ekelhaften Krankheit, die ihm im Gesicht stand, sprach ich schon; man kann denken, wie mir um’s Herz war: das Singen von voriger Nacht war mir vergangen. Auf der Höhe des Brenners ließ der Regen nach, und nun kam uns ein eisiger Nordwind entgegen, der Wäsche und Kleider auf dem Leibe trocknete. Ich fühlte deutlich eine schwere Krankheit wie durch eine offene Thür eintreten.

Es war Mittag geworden, als wir in Steinach ankamen. Die Leute im Dorfe waren mit Abernten der Aepfel- und Nußbäume beschäftigt, und als ich eine Familiengruppe, an der wir vorscherfuhren, grüßte, weil sie theilnehmend auf mich zu blicken schien, erhielt ich einen so freundlichen Gegengruß, daß ich mich doch wieder unter Menschen fühlte. Vor der Steinacher Obrigkeit gab’s keinen Unterschied mehr zwischen mir und meinem aufgedrungenen Reisegefährten: wir wurden in ein Gefängniß gesperrt und bekamen die Mittagkost in einer Schüssel vorgesetzt. Bereits fehlte mir die Lust oder die Kraft, mich zu widersetzen; aber es ward auf andere Weise für mich gesorgt. Am Gitter der Gefängnißthür erschien ein allerliebster Mädchenkopf und winkte, und als der Sträfling sich nahte, sagte der Kopf: „Nein, der Andere!“ Und so ging ich an das Gitter, und das Mädchen – es gehörte zu der von mir gegrüßten Familiengruppe – reichte mir einige Aepfel, Nüsse und ein Stück Brod, sagte kein Wort und – verschwand. Andächtiger habe ich nie zu Mittag gegessen.

Beim Eintritt in ein Gefängniß war mir in der Regel abgenommen worden, was man bei mir in den Taschen und Händen fand; beim Austritt erhielt ich’s zurück. In Sterzing aber hatten meine beiden sehr schönen Taschenmesser soviel Verdacht erregt, daß ich sie nie wieder zu Gesicht bekam. Als der Commissär von Steinach im Begriff war, mir das eben Abgenommene wiederzugeben, und vorher noch meine Reisekarte von Deutschland aufschlug, brach er in die Worte aus: „Da haben wir’s! Das ganze Deutschland auf einem Blatt! Das ist die offenbare Revolution!“ und damit behielt er die Reisekarte zurück, und nie habe ich sie wieder gesehen.

Es war gegenüber dem Schicksal des vorigen Tags eine große Vergünstigung, daß ich desselben Tags noch ein Tyroler Gefängniß kennen lernen sollte. Wir wurden auf’s Neue auf einen Karren gesetzt und fuhren bis Matrey. Die Schönheit des Abendhimmels und der wundervollen Landschaft unter ihm hatten mir die Hoffnung erregt, auch zu mildern Menschen zu kommen und meine Lage sich besser gestalten zu sehen. Die Enttäuschung ließ nicht auf sich warten. Ich bat den Commissär in Matrey, der uns in Empfang nahm, unter kurzem Reisebericht, er möge mir die Kette wieder abnehmen, mit welcher Hand und Fuß zusammengeschlossen waren. „Meine Instruction verlangt,“ antwortete er, „die Arrestanten so zu behandeln, wie ich sie bekomme,“ und zum Hohne seiner eigenen Worte ließ er mich mit dem Sträfling in ein Gefängniß sperren und uns durch eine Kette zusammenschließen. Natürlich auch wieder nur ein Napf mit Brodsuppe, aber wirklich zwei Löffel! Ich erlangte von meinem Mitgefangenen die Gunst, daß er mir gestattete, erst allein einige Löffel der schwarzen Kost zu mir zu nehmen, worauf ihm das Uebrige zu behaglichem Genuß verblieb. Aber schwierigere Aufgaben blieben zu lösen, daran ich noch jetzt nach mehr als vierzig Jahren nicht ohne Schaudern denken kann. Für die eine fehlt mir das Wort, mit dem ich nicht das Gefühl der Leser verletzen möchte. Wie aber sollte es mit dem Schlafen werden, für das es für uns ohnehin zusammengeketteten Menschen nur eine Stelle gab? Zum Glück hörte ich eine Thurmuhr schlagen. Ich machte deshalb meinem Gefährten den Vorschlag, die Bettstelle – eine Pritsche mit Strohsack – derart zu benutzen, daß wir abwechselnd darauf liegen sollten, Einer immer zwei Stunden, während dessen der Andere daneben sitzen und nach Verlauf der Zeit ihn wecken sollte. Der Vertrag ward geschlossen; ich machte den Anfang, schlief wider Erwarten ruhig zwei Stunden und überließ nun für den übrigen Theil der Nacht das Lager meinem Mitgefangenen. Das Gefängniß war reinlich, auch frei von Ungeziefer; dennoch war die Nacht peinlicher fast, als die Sterzinger, die ich zum großen Theil mir weggesungen. Ich habe aber dabei erfahren, daß ein junger und gesunder Mensch viel aushalten kann, und darauf scheint die österreichische Polizei gerechnet zu haben.

Waren wir von Sterzing her auf Armesünderkarren von Pferden geführt worden, die besser zum Abdecker gehörten, so bekamen wir in Matrey wenigstens ein gutes Fuhrwerk und ein gutes Pferd davor, so daß wir zeitig des Vormittags in Schöneberg eintrafen. Auch hier berief sich der Commissär, den ich bat, meine Fesseln zu lösen, auf seine „Instruction“, und bedauerte zugleich, meinem zweiten Verlangen nach sofortiger Weiterreise nicht entsprechen zu können, da er vor morgen kein Gefährt zur Verfügung habe.

„Wenn Sie zu Fuß nach Innsbruck gehen wollen –“

„Ja, mit Vergnügen,“ erwiderte, ich; „dann fallen die Ketten ja wohl von selber.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_090.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)