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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

dem ein verantwortliches Reichsministerium zur Seite stand, das als anerkannte Macht mit den deutschen Regierungen verkehrte; heute fanden sich in schwerer Zeit 500 deutsche Abgeordnete zusammen, ohne Mandat, ohne Executivgewalt zur Seite, verleugnet, und beargwöhnt von fast allen Regierungen, auf nichts gestützt als auf den Widerhall, den ihre Beschlüsse etwa im Volke finden würden. Vor 15 Jahren war keine Frage des deutschen Verfassungsrechtes so weitreichend, daß sich das Parlament nicht hätte dafür zuständig halten dürfen; heute wurde aus der eigenen Mitte der Versammlung Verwahrung eingelegt gegen einen Antrag, der nichts weiter wollte, als einen ständigen Ausschuß bestellen, als „Mittelpunkt der gesetzlichen Thätigkeit“ für Schleswig-Holstein. Sind das die Fortschritte, die wir gemacht?

Es ist nöthig, auch einmal diese, die peinliche Frage zu stellen; denn über dem Festjubel und Festgepränge von Frankfurt, La Chaux de Fonds und Leipzig droht uns der Maßstab verloren zu gehen für das, was wir haben und was wir haben sollten. Die großen Feste sind vorüber gerauscht, aber das deutsche Elend ist geblieben, und nun, da der Tag der Noth gekommen, strecken wir nach wie vor die Hände in die leere Luft. Ein unersetzliches Kleinod soll aus unserer Reichskrone herausgebrochen, der tüchtigste und treueste deutsche Stamm soll auf’s Neue seinem Erbfeind überliefert werden; uns schnürt es das Herz zu bei den flehentlichen Hülferufen, das Ausland aber höhnt uns und schlägt uns in’s Angesicht, in den Cabineten treibt gar der blanke Verrath sein offenes Spiel – und fünf lange Wochen müssen verstreichen, ehe die Vertreter der großen deutschen Nation ein Gesammtwort abgeben können. Und was ist’s denn nun weiter mit diesem Gesammtwort der deutschen Volksvertreter? Haben sie ein Heer über die Elbe, eine Flotte in die Ostsee schicken, haben sie die Landesverräther vor ihr Gericht stellen können? O nun, nichts von alledem! Dies Gesammtwort gab ja kein Parlament, es gaben es nur 500 Abgeordnete aus den Einzelstaaten ab, die das äußerste Maß ihrer polizeilich gestatteten Zuständigkeit schon erschöpften, wenn sie – einen Centralausschuß niedersetzten für Schleswig-Holstein.

Es hat viel trübere Tage in der jüngsten deutschen Geschichte gegeben. Als die würtembergischen Truppen das Parlament auseinander sprengten, als in Rastatt die blutigen Exempel statuirt wurden, als in Kurhessen die Kriegsgerichte ihr schauerliches Amt verwalteten, als ein preußisch-österreichisches Heer die schleswig-holsteinische Armee entwaffnete, und alsdann nach all diesen Erntetagen des neuesten deutschen Soldatenruhmes es stille ward im deutschen Laud, ganz stille – gewiß, da war eine viel trübere Zeit. Aber wenn dies Trauertage waren für unser Volk, so bleibt deshalb doch der 21. December ein nationaler Bußtag. An diesem Tage, wo die Vertreter unseres Volkes rathlos und machtlos in derselben Stadt sich zusammen fanden, in der schon vor einem halben Menschenalter ein deutsches Parlament getagt, an diesem Tage, wo auch die aufrichtigste Einmüthigkeit nicht den kleinsten Theil der organisirten Macht uns wieder zurückgeben konnte, die wir vordem von Rechtswegen besaßen, an diesem Tage haben unsere Parteien Buße dafür thun müssen, daß sie in den Tagen des Glückes mit dem deutschen Erbfehler gesündigt, bittere Buße für die frühere Uneinigkeit über die obersten Lebensfragen unserer Nation. Ich weiß, es hat ihnen beiden am Herzen gebrannt, als sie nun da saßen, die „Großdeutschen“ und die „Kleindeutschen“ und mußten sich beide ihre Ohnmacht gestehen; aber wie hart die Strafe auch war und wie sehr wir zu Gott hoffen, daß nicht die Unschuld darunter leiden werde verdient war diese Strafe. Diesen Beweis der Folgen ihrer Sünden gerade an der liebsten und theuersten Ehrensache, mußten unsere Parteien erst erhalten, wenn ihnen die Augen über sich selbst und über einander aufgehen sollten.

Das sind herbe Worte, wie sie nur der demüthigende Gang einer solchen nationalen Ehrensache abpressen und nur die völlige Gleichmäßigkeit des Vorwurfs rechtfertigen kann. Ich leugne und verkleinere darum ebensowenig irgend einen der Schritte, die wir seit fünf Jahren wieder vorwärts gemacht, wie ich die hohe politische Bedeutung des Frankfurter Tages unterschätze. Wir haben in Frankfurt einen Wechsel auf die Zukunft gezogen, und der Tag wird kommen, wo wir ihn zur Zahlung präsentiren. Die Zukunft aber, sie gehört dem Volke und reift unter unablässiger mühevoller Arbeit der edelsten Kräfte unserer Nation heran. Denn das ist eben der tröstende Zug wiederkehrender nationaler Gesundheit an unserer tief bewegten deutschen Gegenwart, daß neben der officiellen Thätigkeit unserer Regierungen leise und unscheinbar, aber in der Gesammtwirkung bereits deutlich erkennbar, viele Hunderte von Männern ohne Amt und Titel auch ihr Werk verrichten und im wahren Geist der Nation die Entwickelung unseres Volkes fördern helfen. Diese nationalen Freiwilligen, wie ich sie nennen möchte, waren es, die auch in Frankfurt zu gemeinsamer Arbeit versammelt waren. Wer weiß, was die Zukunft für sie bringen wird? Vielleicht daß dem Einen oder dem Andern von ihnen noch einmal in fremdem Land als Flüchtling das Herz bricht; vielleicht auch, daß ihnen das Geschick gestattet, recht bald im berufenen Amt die Sache des Volkes zu führen und zu vertreten. Wer mag es wissen, wie heute die Dinge im deutschen Lande liegen? Noch aber sind sie unser als echte nationale Freiwillige, und deshalb bringe ich hier die Bilder von einigen der Besten, wie ich sie zufällig auf und neben der Rednerbühne aufgelesen.

Am Präsidententische sitzt ein Mann, der die Fünfzig wohl überschritten haben muß; zwar schlank, jedoch nicht von allzukräftiger Haltung, das regelmäßige, offene, Vertrauen erweckende Gesicht etwas abgemagert, die Stimme leicht angegriffen, denn sie klingt gedämpft und füllt bei aller Anstrengung kaum den Raum des großen Saales. Das ist Dr. Sigmund Müller, Advocat und Notar der freien Stadt Frankfurt, vieljähriger Präsident ihrer gesetzgebenden Versammlung und in weiteren Kreisen besonders bekannt geworden als Vorsitzender des Ausschusses für das große deutsche Schützenfest. Was ist es doch, was an dem schlichten Mann mit dem ungesuchten anspruchslosen Auftreten so anzieht? Vor dreißig Jahren, als diese hellen blauen Augen im ersten Jugendfeuer glänzten, als diese jetzt noch so vollen braunen Locken in noch üppigerer Fülle um die freie heitere Stirn fielen, als diese schlanke Gestalt in voller elastischer Kraft sich bewegte, vor dreißig Jahren hätte uns wohl das Aeußere allein bestechen können. Heute ist dieser Jugendschmelz natürlich abgestreift; aber Charakter und innerer Gehalt haben dafür einen anderen dauerhafteren Schmelz über den Mann gegossen. Sigmund Müller ist ein charakteristischer Beleg dafür, wieviel eine Persönlichkeit Reiz gewinnen kann, die in voller Unbefangenheit, nicht von Ehrgeiz, sondern nur von Pflicht- und Rechtsgefühl getrieben, jeder Aufgabe gegenüber nichts weiter als ihre volle Schuldigkeit hat thun wollen. Sigmund Müller ist kein Gelehrter, kein hinreißender Redner ersten Ranges, keine tief angelegte staatsmännische Natur; aber – er glaubt auch dies Alles nicht von sich. Ihn haben niemals hochfliegende Pläne gequält, noch hat er früher je von sich geglaubt, daß sein Name einmal durch ganz Deutschland genannt werden würde. Ruhig und gelassen ist er stets weniger an die öffentlichen Fragen herangetreten, als vielmehr diese an ihn; von nichts Anderem getrieben, als von dem, was das innere Pflichtgefühl ihm gebot, war er allezeit zufrieden mit dem Erfolg, den sein klarer, gesunder, im Leben gewiegter Verstand und seine hingebende Selbstverleugnung ihm gewannen. Und gerade darum, weil er so selbstlos auftrat und sich nirgends ungestüm als besonders berufen vordrängte, gerade darum fürchtete man für keine Sache, wenn er sie in die Hand nahm, und trug ihm bereitwillig mit der Zeit nur um so mehr entgegen. Sigmund Müller ist einer von den wenigen glücklichen Menschen, die selbst im scharfen Zugwind des Parteilebens ohne Neider und ohne Feinde geblieben sind, in seinem ganzen Verhalten das Bild eines Mannes, wie wir sie in Deutschland leider noch nicht allzuhäufig treffen, das Bild eines pflichttreuen freien Bürgers im besten Sinne des Wortes.

Rechts von Sigmund Müller am Präsidententische sitzt fast unbeweglich, aber mit gespanntester Aufmerksamkeit auf Alles achtend, ein um mindestens zehn Jahre jüngerer Mann, mit kräftig schlanker Gestalt, voll Energie und doch fein und gewandt in allen Bewegungen; der runde, schön geformte Kopf ist von kurzem, dunkelem Haar bedeckt, das Gesicht von einem vollen braunen Bart eingerahmt, die Stirne hoch, breit und entwickelt, das braune Auge liegt etwas vor und ist bei außerordentlichen Gelegenheiten, wie diesmal, mit der Brille bewaffnet, die auf der etwas kurz ausgefallenen und, wie es scheint, auf der Hochschule leicht beschädigten Nase nicht recht haften will. Aus dem ganzen Gesicht spricht Festigkeit, Verstand und Entschiedenheit, und wir wissen – wenn auch nicht von heute – daß der breiten gewölbten Brust eine klare, wohlklingende Stimme mit norddeutschem Accent entspricht. Es ist Rudolf v. Bennigsen, der Präsident des Nationalvereins.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_094.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)