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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

können. – Es ist nicht allein Ihretwegen, so viel sich auch Fräulein Eugenie nach dem Gespräche mit dem Vater für den Menschen zu interessiren scheint,“ fuhr er fort; „es ist noch etwas Anderes, man bekommt ein Vorgefühl über bestimmte Dinge, wenn man so lange in einem Geschäfte ist, wie ich hier, und mir ist es gerade, als wäre eine schwarze Gewitterwolke über unser Aller Köpfen aufgestiegen.“

„Sie sind wunderlich,“ erwiderte der junge Mann, leicht den Kopf schüttelnd, während seine zusammengezogenen Augen indessen einen ganz anderen Gedankengang verriethen; „wenn Jemand den Stand des Geschäfts kennt, das sich vor keinem In- oder Ausländer zu fürchten braucht, so bin ich es doch. Aber Sie haben in anderer Beziehung Recht; es ist für mich vielleicht gut, wenn ich morgen diesem Fremden nicht zum ersten Male und völlig unbekannt entgegentrete – ich werde ihn zu treffen suchen. Wenn Jemand, nach Ihren eigenen Andeutungen, etwas zu fürchten hat, Willmann, so bin ich es nur allein, auch nach der ganzen Weise, wie Herr Hellmuth verfahren – Unbekannte ladet man nicht gleich zu Tische, reißt sich auch nicht aus der Arbeit, um ihr Eintreffen sofort den Töchtern anzukündigen –“

„Aber ich kann Ihnen sagen, daß der Principal noch vor einer Stunde nichts über die Absichten des Menschen in unserer Stadt wußte,“ unterbrach ihn der Kleine mit gedämpfter Stimme eifrig, „kann Ihnen bestimmt sagen, daß es eine besondere Bewandtniß mit ihm haben muß –!“

„Ja wohl! vielleicht überrascht uns die Verlobung einer Tochter des Hauses mit ihm, als dem Sohne irgend eines alten Geschäftsfreundes. Nachdem der junge Mann die ersten Tage im Stillen verwandt, um gründliche Erkundigungen über uns im Orte einzuziehen, hat er sich als der Erwartete gemeldet, wird morgen in der Familie vorgestellt, tritt möglicherweise selbst mit in das Geschäft – und wenn, wie vorauszusehen, Eugenie die Erwählte wäre, die schon gegen Sie ihr lebendiges Interesse für ihn kund gegeben, könnte Gruber höchstens seine Entlassung nehmen – dürfte sich auch kaum mit irgend einem Rechte beklagen, denn es sind ja bis jetzt immer nur halb unbestimmte Hoffnungen gewesen, die ihm von der jungen Dame geworden. – Die Idee mag Ihnen etwas plötzlich erscheinen,“ fuhr der Sprecher fort, langsam die Flamme seiner Lampe niederschraubend, „aber Alles, seit Sie mir zuerst von dem Fremden gesagt, mahnt mich daran, selbst Meier’s unerwarteter Abgang, der schon meine bevorzugte Stellung nur ungern ertrug! – Ich sage Ihnen morgen Weiteres, Sie sind ja immer mein alter Freund gewesen!“ schloß er, dem Kleinen die Hand reichend, und verließ dann das Comptoir.

Eine Viertelstunde darauf trat er auch aus dem Hause, in dessen Seitengebäude er neben dem Zimmer des Comptoirdieners seine Wohnung hatte, blickte eine kurze Weile nach den Fenstern empor, deren helles Licht ihm den Aufenthalt der Töchter des Hauses anzeigte, und nahm dann den ziemlich langen Weg nach dem Hôtel Français auf. Es war ihm kaum anders, als sei er am Ende eines langen, süßen Traumes angelangt und soeben erst zur nüchternen Wirklichkeit erwacht. Die Zeit trat vor sein inneres Auge, in welcher er als ganz junger Mensch durch die Vermittelung eines Verwandten seine erste Commisstelle in Hellmuth’s Geschäfte erhalten; damals hatte die Frau des Principals noch gelebt, die, von dem Aeußern des kaum erwachsenen Gehülfen angesprochen, ihm eine Wohnung im Hause bewilligt und für ihn, den sie seiner langen, blonden Haare wegen nur „unsern Johannes“ genannt, wie eine halbe Mutter gesorgt hatte. Damals war Eugenie vierzehn und Anna dreizehn Jahre gewesen, und während die Erstere als halbes Fräulein ihn entzückt, war das „wunderliche Kind“ Anna in ihrer ernsten Weise seine Freundin geworden, die ihn selbst über Manches, das sie aus ihrem wohlbenutzten Unterricht besser zu wissen gemeint, zu belehren unternommen, aber sich auch niemals verletzt gefühlt hatte, wenn seine Aufmerksamkeit sich den lustigen Tollheiten Eugenie’s zugewandt. Fast mehr um des wohlthuenden häuslichen Familienlebens willen, als aus unabhängigem innerem Antriebe, hatte er fortdauernd alle seine Kräfte angespannt, um sich eine volle Zufriedenheit des Principals zu erwerben, hatte jedoch dadurch bereits nach dem ersten Jahre sich eine Gewohnheit der Gewissenhaftigkeit angeeignet, welche damals schon die Aufmerksamkeit Hellmuth’s auf ihn gezogen. Dann war die Mutter nach einer plötzlichen Erkrankung gestorben, Eugenie war in eine Erziehungsanstalt, Anna aber zu der Mutter der Todten in eine Provinzialstadt gekommen, und für den jungen Mann war es gewesen, als sei ihm selbst Alles, was er lieb gehabt, gestorben.

In dieser Zeit hatte er sich zum ersten Male dem Comptoirdiener angeschlossen, welcher fast seit der Geburt der Mädchen im Geschäfte war, um nur von den letzteren reden zu können; dem völlig in seinem Leide verschlossenen Hellmuth gegenüber aber war es ihm eine Herzenspflicht geworden, das Möglichste zu dessen Befriedigung aufzubieten – und der Principal schien dies zu empfinden. Wenn er stumm aus seinem Cabinet durch das Comptoir ging und Willmann ihm ernst folgte, um nach jedem seiner Privatbedürfnisse zu sehen, hatte er doch ein Nicken für Gruber, welcher die hellblauen Augen in voller Theilnahme zu ihm aufgeschlagen; später hatten sich hieran einzelne freundliche Worte geschlossen, und zuletzt war ihm sogar von Hellmuth lächelnd mitgetheilt worden, daß Anna in einem ihrer Briefe angefragt, ob Gruber immer noch der „blonde, sanfte Johannes“ sei. Dem jungen Manne hatte dabei eine Frage nach Eugenien auf den Lippen geschwebt, aber sie war nicht zu Tage getreten, und beim Einschlafen an demselben Abende hatte er sich darüber gefreut. Die still Geliebte mußte bis dahin weit in ihrer körperlichen Ausbildung vorgeschritten sein, er konnte sich fast ein Bild von ihr malen, wie sie einmal nach Hause zurückkehren würde, und in welcher Beziehung durfte dann er, der arme Commis, zu ihr stehen? Und dies war ferner auch seine Anschauungsweise geblieben, trotz des wachsenden Vertrauens des Geschäftsherrn, das sich bald in den ihm zugetheilten Arbeiten und in dem mit jedem Neujahr erhöhten Gehalte gezeigt, bis eines Tages, fast vier Jahre nach dem Tode der Frau, ihn Hellmuth zu sich in sein Cabinet gerufen.

„Wir haben mancherlei drängende Geschäfte,“ hatte der Letztere gesagt, „aber ich möchte gern meine Töchter wieder um mich haben, bedarf auch einer kurzen Erholung und weiß nicht, ob die nächste Zeit uns nicht noch Drängenderes bringt. Ich habe deshalb gedacht, mit den Mädchen eine kurze Reise zu unternehmen und sie dann wieder in’s elterliche Haus zu führen. Sie, Herr Gruber, sind in allem Laufenden au fait; es fragt sich indessen nur noch, ob Sie sich getrauen, mich während einiger Wochen zu vertreten; für wichtigere Fälle würde ich Sie immer in Kenntniß erhalten, wohin an mich zu schreiben!“

In des jungen Mannes Gesicht war, ob des ihm gezeigten Vertrauens, ein helles Roth getreten, zugleich aber auch etwas in ihm aufgestiegen, was ihm bis jetzt immer nur leise zum Bewußtsein gekommen – das Gefühl seiner eigenen Fähigkeit, welchem sich in diesem Augenblicke fast der Wunsch angeschlossen, seine Energie und Hingebung für das Geschäft in einer schwierigeren Lage, als sich voraussehen ließ, erproben zu können. Er hatte in einfacher Weise, aber hörbar bewegt geantwortet: „Ich getraue mir Alles, wofür Sie mich selbst für fähig halten, Herr Hellmuth!“ und der Kaufherr war nach einem Nicken voll schweigender Befriedigung daran gegangen, ihm seine besonderen Anweisungen zu geben, sowie das Comptoirpersonal von der getroffenen Anordnung zu unterrichten. Ob ihm bei diesem Letzteren das erbleichende Gesicht Meier’s, des Aeltesten im Geschäft, aufgefallen, hätte sich kaum bestimmen lassen; Gruber aber hatte aus zwei Blicken des Letztern die Ueberzeugung gewonnen, daß aus seiner Bevorzugung ihm ein unversöhnlicher Feind erwachsen sei, und instinctmäßig war er nach Hellmuth’s Abreise jeder näheren Berührung mit dem alten Buchhalter ausgewichen. Erst als die Depesche eines auswärtigen befreundeten Hauses über das unvermeidliche Fallissement eines mit der Firma in Verbindung stehenden Geschäfts einlief, eine Nachricht, die ebenso das schleunigste Handeln, als die tiefste Verschwiegenheit erforderte, hatte er unter dem Vorgeben, daß der Principal eine Rücksprache mit ihm verlange, die ihm gewordene Verantwortlichkeit an Meier übertragen und war in derselben Nacht abgereist. Als er aber nach verschiedenen Tagen der Strapaze und der Arbeit, indessen mit einem Gesichte voll glücklicher Zufriedenheit zurückkehrte, sah er das Arbeitscabinet des Principals erleuchtet.

Meier empfing ihn mit den ausgeprägt hämischen Worten: „Sie haben jedenfalls Herrn Hellmuth verfehlt – er erwartet Sie jetzt wenigstens schon seit heute Morgen!“ und ein vollkommen undurchdringliches Gesicht blickte ihm entgegen, als er vor den Geschäftsherrn trat. In zwei Minuten war selbstverständlich Alles erklärt; eine halbe Stunde mochte es hierauf noch zu genauem Bericht bedurft

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_099.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)