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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Als er in Frankfurt bei der Gründung des Nationalvereins die immer noch uneinigen Süddeutschen und Norddeutschen durch die prachtvollen Worte zur Einigung zwang: „Ich lasse Sie nicht, bis Sie sich geeinigt haben; der Geist der Nation steht hinter der Thüre und harrt darauf, daß wir uns einigen“; als er in Gotha die versammelten Zunftmeister durch den einen Satz zur Gewerbefreiheit bekehrte: „Ihr seid die Raubritter des neunzehnten Jahrhunderts“ – da sprach eben der Dichter Schulze-Delitzsch, der Dichter, der es vermag, eine ganze Kette von Gedanken zu bewegen und in einem instinktiv gegriffenen Bild zu concentrirter Wirkung zusammenzufassen. Wäre Schulze-Delitzsch um dreißig Jahre früher geboren, er würde uns vermuthlich nur in unserer Literaturgeschichte als lyrischer, vielleicht auch als dramatischer Dichter genannt werden. Damals kannte man eben keine höhere Leistung des Menschengeistes, als seine Gedanken und Gefühle in Verse zu bringen.

Wir wollen darum nicht geringschätzig auf diese Zeit herabsehen, denn wir würden – von allem Anderen abgesehen – heute keine Redner wie Löwe-Calbe, wie Ludwig Häusser und Schulze-Delitzsch haben ohne die poetische Sättigung, mit der diese versemachende Epoche unsere Nation erfüllte. Aber freuen wollen wir uns darum doch, daß wir aus der Zeit der dichterischen Empfindungen in die Zeit der ernsten nationalen Arbeit übergetreten sind, daß eine Kraft wie Schulze-Delitzsch im praktischen Dienste der Nation eine Bürgerkrone, statt im Nachtrab Goethe’s und Schiller’s einen Lorbeerkranz, hat erringen können. Den Dichter Schulze-Delitzsch würden vielleicht nur unsere Gelehrten kennen, den Volkswirth und Staatsmann Schulze-Delitzsch aber, den kennen wir Alle, denn das ist – „unser“ Schulze-Delitzsch. –

Es sprach noch ein Dichter im Saalbau, und zwar einer, dem die Statur diesen Zug noch tiefer eingegraben hat, ein Landsmann von Ludwig Uhland, der ihm als Schüler zu Füßen gesessen, dem aber trotz seiner 53 Jahre das Herz noch viel heißer schlägt, als es Uhland vielleicht je geschlagen. Ich meine Dr. Ludwig Seeger aus Stuttgart. Der hat als Bube im heimathlichen Schwarzwald den Finken und Amseln nicht blos das Singen abgelauscht, er hat ihnen auch den freien Flug und Zug abgesehen, und sein Leben lang nicht wieder vergessen können. Der Mann duldet keine Schranken um sich, wenn er sie nicht selbst als recht und gerecht anerkannt. Wie ihm das Halstuch lose und frei und der Rock weit und bequem am Leibe sitzen muß, so verlangt er in allen Dingen freies Feld für sich, und wer ihn ansieht, fühlt das auch alsbald aus dem energischen Ausdruck seines Gesichtes heraus. Der fest geschlossene Mund, die hellen blauen Augen, die einem fast noch jugendlich trotzig hinter den großen Brillengläsern entgegensehen, die runde hohe Stirn und die kräftigen Bewegungen des stämmigen Körpers – das Alles verräth eine Natur, die leicht dazu kommen mag, die Dinge auf Ja oder Nein zu stellen.

Ludwig Seeger trägt eben sein eigenes Maß in sich. Dem Stand des Pfarrers entsagte er nach dreijähriger Wirksamkeit und entzog sich dem unerträglichen politischen Druck der dreißiger Jahre, um in die freie Schweiz überzusiedeln. Aber als er zwölf Jahre dort als Lehrer der Schweizerjugend an Gymnasium und Hochschule zu Bern gewirkt und der Märzwind des Jahres 1848 von Deutschland her über die Alpen wehte, da zog es ihn doch wieder zurück in das alte liebe Vaterland, um auch dabei sein zu können mit Wort und That. Er führte damals die Feder in der „Ulmer Schnellpost“, und man wußte im Schwabenlande bald, was Ludwig Seeger geschrieben, auch wenn sein Name nicht darunter stand. Das Ministerium Römer wußte es auch, aber es wollte nichts davon wissen und ließ ihn zwei Mal sechs Wochen lang auf den Hohenasperg führen, als es das deutsche Parlament auseinandersprengte und Ludwig Seeger seinen ganzen Zorn darüber ausgoß.

Die schwäbischen Bauern freilich sahen die Sache anders an und schickten den Mann, der so ganz in ihrem Sinn geschrieben und gesprochen, noch in demselben Jahre nach Stuttgart in die Kammer. Sie meinten, wer auch auf der hohen Schule des Asperg sich den Doctortitel erworben, der sei der rechte Doctor für sie. Und das muß er wohl auch gewesen sein, denn die Bauern von der rauhen Alp schicken ihn noch heute in die Kammer. Nun sitzt er still in Stuttgart und schlägt wohl einmal, wenn es ihm gar zu arg wird, ein „Eulenspiegel“ dazwischen, oder es fällt wohl auch manchmal noch ein frisches Lied nebenher ab. Aber seine ganze volle Kraft legt er mit unermüdlichem Fleiß in einem Werke nieder, das er sich als Lebensaufgabe gestellt: er will den freiesten Geist der britischen Nation, er will Shakespeare dem deutschen Volke noch viel lebendiger und wahrer zugänglich machen, als es durch Schlegel und Tieck geschehen. Die mittelgroßen Menschen sind nicht nach Ludwig Seeger’s Art und die kleinen gar nicht, darum hat er immer nach den freiesten und größten gegriffen: so jetzt nach Shakespeare, so früher nach dem großen Griechen Aristophanes, dessen Lustspiele er in unübertroffener Weise in’s Deutsche übertragen hat. Schwierigkeiten schrecken ihn dabei nicht ab, sie reizen ihn nur, und die eigene Dichternatur, das eigene freie, starke Herz und ein tiefes Verständniß des Wesens der Sprache befähigen ihn allerdings wie Wenige zu so hohen Leistungen. Die Schwaben haben früher die Sturmfahne des deutschen Reiches in den Schlachten getragen, und Ludwig Seeger wenigstens ist nicht aus dieser guten schwäbischen Art geschlagen. Der trüge sie auch heute noch, wenn es gelten sollte; denn er ist nicht blos ein Dichter, er ist auch ein Mann des Kampfes, ein treuer kühner Streiter für alle freiheitliche Entwickelung und eine echte, wahre volksthümliche Natur. Beruf und Lebensstellung haben ihn freilich nie so recht ausschließlich in das öffentliche Leben eintreten lassen, auch sagt es seiner Art nicht zu, dem langsamen Fortschreiten einer Bewegung auf Schritt und Tritt zu folgen, aber wo es galt im schwäbischen Land, da hat er nie gefehlt und seine außerordentliche Redegabe der guten Sache bereitwillig zur Verfügung gestellt.

Ludwig Seeger ist eigentlich nur Volksredner, aber einer vom ersten Rang. Sein schneidend scharfer Verstand, die groteske Komik seines Witzes, seine mächtige, donnernde Stimme, seine wuchtige, markige, plastische Sprache, die in hellem Zorn über Lüge und schiefe Winkelzüge wie ein Sturmwind dahinfahren kann, und die tiefe sittliche Ueberzeugung, die stets aus seinen Reden herauslodert, reißen seine Zuhörer mit ihm fort, sie mögen wollen oder nicht. Er tritt als Redner dem Volke noch um eine Stufe näher als selbst Schulze-Delitzsch und spricht ihm noch mund- und sinngerechter als dieser, denn Schulze-Delitzsch bleibt als Volksredner immer noch Lehrer und väterlicher Freund des Volkes, Ludwig Seeger aber spricht mit ihm, ohne im Geringsten platt zu werden, als Seinesgleichen, als guter treuer Camerad. –

An Schulze-Delitzsch und Ludwig Seeger reihe ich einen Dritten, der auch als Volksredner viel genannt wird: Dr. August Metz aus Darmstadt. Die deutschen Feuerwehrmänner haben ihn einmal in einem launigen Toast auf seinen technischen Namensvetter in Heidelberg, im Gegensatz zu diesem, als den Metz bezeichnet, „der den Brand schürt“, und sie haben damit die hervorstechende Eigenthümlichkeit des Mannes viel treffender charakterisirt, als die deutsche Presse, die sich daran gewöhnt hat, ihn besonders als Volksredner hervorzuheben. August Metz ist gewiß ein Redner von Beruf, er hat auch gerade als Volksredner schon manche glänzende Probe davon abgelegt; aber doch ist er, wie ich glaube, nicht in erster Linie ein Volksredner. Metz ist vielmehr seinem innersten Wesen nach Volksagitator, Parteimann im besten Sinne des Wortes und als Redner vor Allem ein geborner Vertheidiger.

Von Ludwig Seeger nicht zu reden, würde Schulze-Delitzsch ungeachtet des Vorurtheils, das in Baiern und Oesterreich gegen ihn bestanden hat, in einer großen Volksversammlung dort, wenn auch vielleicht mit einer politischen Rede nicht alsbald durchdringend, aber doch jedenfalls eine mächtige Wirkung erzielen. Schulze-Delitzsch würde dies vermögen, weil er wirklich zum Volke schlechthin – das ja überall gleichmäßig fühlt und denkt – zu sprechen versteht und das Volk instinktiv in ihm die verwandte Natur herausfühlt. Metz würde hierzu schwerlich im Stande sein, weil er nur für Parteigenossen ein Volksredner ist und bairische und österreichische Zuhörer nicht zehn Minuten lang in die Ansicht würde versetzen können, daß er, auf gleichem Boden mit ihnen stehend, die Wahrheit gemeinschaftlich mit ihnen suche. Er wird sie durch seine glänzende Logik vorübergehend zu der Ansicht zwingen, daß er Recht habe, aber er wird sie kaum überreden und in keinem Falle bekehren. Um dies zu können, müßte er fähig sein, sich selbst ganz auf denselben Ton zu stimmen, auf den die ihm gegenüberstehende, anders gesinnte Menge gestimmt ist. Dazu aber ist er nicht im Stande, weil er immer aus dem Gegensatz, aus der Unrichtigkeit einer andern Ansicht die eigene rednerische Grundstimmung entlehnen muß.

Das eigentliche Feld für das Rednertalent von Metz ist daher die gerichtliche Vertheidigung und die parlamentarische Rede als

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 105. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_105.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)