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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

hingelagerte, siebenfach gethürmte Dent du Midi in den klaren Himmel, und an sie reihen sich in hundertfacher Kalkzerklüftung die kecken Contouren der savoyischen Berge, bis gen Westen endlich der einförmigere Halbbogen der niedrigern Jurakette den Horizont begrenzt.

„Schön wie ein Traum!“ so hat Byron ausgerufen, als er, allerdings von anderem Höhenpunkte, drüben vom Jamanpasse, der aus dem Saanenthale in’s Waadtland führt, zuerst den Leman erschaute; aber schön wie ein Traum ist auch, was hier, bei Châtel-St.-Denis, unserm trunkenen Auge erschlossen ist. In mehr als einem Sommer sind wir kreuz und quer in den Alpen umhergestreift, von der Berninagruppe oben im wilden Bündnergebirge bis dahin, wo der Riesendom des Montblanc über dem Hochthale von Prieuré thront; von manchem Kalkgipfel, von mancher Granitkuppe haben wir hinabgeblickt auf die reiche, schöne Schweizer Landschaft und denken mit Wonne und Wehmuth zurück an die Morgen und Abende, die wir in nervenstärkender, herzerquickender Alpenfrische genossen, — allein vorzugsweise bleibt unsere Erinnerung doch immer auf der Hochfläche des kleinen Freiburger Ortes haften, von wo aus sich uns zuerst das Paradies der Lemanufer entrollte und zu dem wir nachmals noch gar oft hinaufgestiegen sind, um uns an der Alpenmajestät und südlichen Farbengluth des Zauberpanoramas neu zu weiden.

Nach diesem Städtlein Châtel-St.-Denis, das der sich weiter westlich zum See hinabwindende Oroneisenweg noch um ein gut Theil stiller gemacht hat, als es schon immer war, wanderten Sonntags am 27. September des vorigen Jahres einige fünfzig deutsche Männer aus dem anderthalb Stunden entfernten Vevey hinauf. Drei Fahnen flatterten dem Zuge voran: die schwarz-roth-goldene, die eidgenössische mit dem weißen Kreuze im Scharlachfelde und die rothe der deutschen Arbeiter mit ihren Inschriften: „Durch Bildung zur Freiheit“ und „Freiheit, Gleichheit und Bruderliebe“. An allen dreien aber hingen Trauerflöre. Denn es galt dem Andenken eines vor wenigen Jahren im fernen Exile aus dem Leben geschiedenen deutschen Patrioten, dem 1859 in unserm obscuren Châtel-St.-Denis verstorbenen Arzte Karl d'Ester. Ihm, dessen Grab bis jetzt nur ein namenloses Holzkreuz bezeichnete, einen Denkstein zu errichten, hatte der deutsche Nationalverein in Vevey vor einigen Monaten einstimmig beschlossen. Dies anspruchslose Mal stand nun fertig, und die Mitglieder jenes und die des deutschen Arbeiterbundes zogen jetzt hinauf zu einem schlichten Weihefeste.

Der Tag war kühl und regnerisch, die Berge und Schneehäupter ringsum bargen streichende Nebelschleier, aus denen nur ab und zu einmal drüben auf den mattenreichen Höhen des linken Veveyseufers eine und die andere braune Sennhütte auf Momente zum Vorschein kam. Dennoch strebte die kleine deutsche Schaar rüstig weiter und sang ihre lieben vaterländischen Lieder tapfer und feierlich in die regengraue Welt hinaus.

Nachdem sich in einem vor dem Städtchen gelegenen Gasthofe neue Festgenossen dem Häuflein angeschlossen hatten, ging es in wohlgeordneten Reihen in den winkeligen Ort hinein, wo auf dem kleinen freien Platze, zu dem sich die Hauptgasse vor der Kirche ausweitet, Halt gemacht wurde.

Trotz des jetzt strömenden Regens hatte sich hier bereits eine große Volksmenge versammelt, welche in ehrfurchtsvoller Stille dem Chore der fremden Männer lauschte, die dann paarweise die Stufen zum engen Friedhofe hinanstiegen, — mit entblößten Häuptern, doch ohne Fahnen und ohne Gesang, denn Beidem hatte die Geistlichkeit den Todtenacker verschlossen. Lautlos und andächtig folgte die Menge. Die Hülle des Monuments fiel, und den Blicken Aller zeigte sich der einfache Steinblock, der, einige Fuß hinter dem blumengeschmückten Grabhügel d'Ester’s, auf der Mauer des Kirchhofs aufgerichtet worden war. Da die Oertlichkeit diesem letztern nur einen sehr beschränkten Raum gestattet, so müssen nämlich die Gräber alle fünfzehn Jahre umgeworfen werden, um den neuen Schläfern Platz zu geben. Und so hatte man vorgezogen, den Denkstein auf die Umfassungsmauer selbst zu setzen, von der aus es hoffentlich noch den späteren Geschlechtern die Stätte künden wird, wo ein edles deutsches Herz — wärmer hat keines je für des Vaterland geschlagen! — nach den bitteren Täuschungen eines schmerzenvollen Lebens in fremder Erde zur Ruhe gebettet worden ist. Der Stein ist schwarzer Marmor aus den Brüchen des zwischen Aigle und Bex mitten in’s Rhonethal und hart an die sogenannte italienische Eisenbahn vorgeschobenen Bergkegels von St. Triphon; rauh, unregelmäßig, nach oben zugespitzt. Ein ausgehauenes, sauber polirtes Oval trägt in goldenen Buchstaben die folgende Inschrift:

Karl d’Ester
Arzt und Parlamentsmitglied
geb. 1811 zu Vallendar, gest. hier im Exil
den 18. Juni 1859.
Dem braven Patrioten
die deutschen Nationalvereinsmitglieder in Vevey
am 21. Sept. 1863.

Nachdem eine deutsche Rede in kurzem Lebensbilde die Verdienste des Verstorbenen zusammengefaßt und eine französische dem anwesenden schweizer Publicum d’Ester’s politische und menschliche Bedeutung klar gemacht hatte, wurde das Denkmal den Bewohnern von Châtel-St.-Denis, in deren Mitte d’Ester während seiner letzten Lebensjahre seine geistige Begabung, seine ärztlichen Kenntnisse und seine Herzensgüte so reichlich bethätigt hatte, als ein heiliges Vermächtniß übergeben. Einer der deutschen Arbeiter hing noch einen frischen Lorbeerkranz auf den Denkstein, und in schweigender Andacht, wie sie eingetreten, verließ die kleine Festschaar den Friedhof, während sich jetzt Gruppen von Einheimischen neugierig an das Monument herandrängten, aus dessen goldenen Lettern sie nur das einzige Wort „d’Ester“ zu enträthseln vermochten. Zwar fehlte das Kreuz auf dem Grabsteine, wie der Curé vorwurfsvoll bemerkt hatte, auch hatte der Heimgegangene ohne Beichte geendet, so daß es erst die nachdrücklichste Verwendung seines Freundes, des wackern Ortspräfecten Perrier, durchsetzte, daß er überhaupt bestattet werden durfte, — allein das Volk erinnerte sich, was es dem menschenfreundlichen, bei Tag und bei Nacht gleich willig zu Rath und Hülfe bereiten, im höchsten Grade uneigennützigen Arzte verdankte.

Inzwischen hatten sich die Feiernden in das Hôtel de Ville begeben. Dort im festlich ausgezierten Saale umrahmte üppiges Epheugeblätter d’Ester’s Bildniß, jenes Portrait mit dem Facsimile der bekannten Worte, welche der Verstorbene einst dem Ministerium Manteuffel in’s Gesicht geschleudert hatte: „Sie lachen, meine Herren; es wird aber die Zeit kommen, wo Sie wahrlich nicht lachen werden.“

Hier im nämlichen Gasthause hatte d’Ester gewohnt, unmittelbar neben dem Gemache, in welchem man heute sein Andenken beging; hier haben wir selbst noch wenige Wochen vor seinem Tode mit ihm zusammengesessen, mit ihm und einem andern deutschen Flüchtlinge, bei der guten alten Wirthin und ihren freundlichen Töchtern. Die wackern Leute haben dem theuern Verbannten viele Freundlichkeit erwiesen und bewahren ihm ein treues Gedächtniß, und wenn Ihr in schönen Herbstmonaten einmal zum Rebeneden des Leman pilgert und d’Ester’s Grab aufsucht auf seiner aussichtreichen Höhe, dann drückt der biedern Familie die Hand und dankt ihr für die Liebe, mit welcher sie dem Verbannten die „finstere Fremde“ zu erheitern bemüht gewesen ist!

Unter Reden und Gesang verstrich der Nachmittag, und manches kernhafte deutsche Wort gedachte des Vaterlandes, gedachte der Männer, die als Märtyrer ihres Patriotismus und ihrer Ueberzeugung im Exile enden mußten. Um fünf Uhr sammelte man sich zum Rückmarsche. Ehe man aber am schwarzweißen Freiburger Grenzpfahl vorüber in die von Grün und Weiß behütete Waadt heimschritt, faßte man noch einmal Posto vor dem Hause des schon erwähnten Präfecten Perrier, um ihm aus voller Brust in Lied und Rede für den kräftigen Schutz zu danken, welchen der Ehrenmann, unbeirrt von allen pfäffischen und aristokratischen Insinuationen, dem vielgehetzten Flüchtlinge hatte angedeihen lassen. Mittlerweile hatte sich der Himmel geklärt. Hell und dunstfrei zog der Mond am Himmel hinauf, und magisch schimmerten in seinem Silberlichte die Bergkuppen und Schneehörner und der glatte Seespiegel unten, als man in ernster Stimmung dem Felsenbette der Veveyse entlang heimwanderte in’s schöne Lemanthal.

So war die einfache Feier gewesen, mit welcher eine kleine Anzahl von Deutschen fern vom Vaterlande den Manen eines der edelsten Freunde ihres Volkes ihre Ehrfurcht an den Tag legen und zeigen wollte, daß ihr auch im wälschen Lande das „treue deutsche Herz“ nicht abhanden gekommen ist. –

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 140. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_140.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)