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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Schmerzensgeldern übernahm er eine Theaterdirection in Krakau, die aber, als die Summe zugesetzt war, ein vorschnelles ruhmloses Ende erreichte. Nestroy behauptete, der Stich wäre ein so unverhofftes Glück für Würth gewesen, daß er jetzt im Lande herumreisen werde, um sich stechen zu lassen!

Ich habe diese Episode geschildert als charakteristische Bezeichnung für die Lebensweise Kunst’s, so lange er im Zenith seines Ruhmes stand. Kein deutscher Schauspieler war je von Natur und Glück so mit vollen Händen überschüttet worden, als er, und keiner hat je weniger für seine Ausbildung gethan, an seine Zukunft gedacht, und an’s Ende, als er, der die großen Summen, die er erwarb, leichtsinnig und nutzlos für sich und Andere vergeudete, bis die reiche Quelle versiechte und der Verschmachtende vor ihr erlag.

Als der Sohn eines armen Schuhflickers wurde Wilhelm Kunst 1799 in Hamburg geboren, wo er, nachdem er sich oft auf Liebhaberbühnen ohne sonderlichen Erfolg versucht hatte, seiner schönen Gestalt wegen am Stadttheater als Statist verwendet wurde. Nebenbei suchte er durch Bedienung der ersten Künstler des in jener Zeit in hohem Ansehen stehenden Institutes sich kärglich durchzubringen. Später nahm sich der damals berühmte und berüchtigte Komiker Wurm seiner an und unterrichtete ihn in den Anfängen seiner Kunst und in – manchem Anderen.

Im Jahre 1823 finden wir ihn bereits als vielbeliebten und gefeierten Schauspieler in Köln; ein Jahr später war er dort schon wieder, nach seiner Manier, sans adieu abgefahren und ging zum Director Carl nach München, 1825 aber mit diesem in dessen neue Entreprise nach Wien.

Wilhelm Kunst als Karl Moor.

Dort machte er durch seine glänzenden Mittel und seine wilde Genialität fast beispielloses Aufsehen, hauptsächlich in Rollen, die kein tieferes Nachdenken forderten, wie z. B. als Otto von Wittelsbach, als Wahnsinniger im Irrenhaus zu Dijon, und ganz besonders als Karl Moor.[1] So mochte sich Schiller in seinen kühnsten Träumen den löwenkräftigen Räuber gedacht haben, der mit dem sonoren, mächtigen, glockenähnlichen Organ und der prachtvollen Gestalt seine wilde Bande im Zügel hielt und alle Gesetze unter die Füße trat. Noch denke ich mit Bewunderung dieser kolossalen Leistung, neben welcher eben nur eine so geniale, fein berechnende Künstlernatur wie Carl La Roche als Franz Moor ebenbürtig bestehen konnte. Es war dies eine Zusammenleistung, wie sie gewiß nie wieder auf einer deutschen Bühne vorkommen wird. Wie dankbar aber für Kunst alle Aufgaben erschienen, wo seine volle Naturkraft in hinreißender Wildheit wirken konnte, so wenig vermochte er tiefere Gestalten, wie z. B. Wallenstein, Goethe’s Faust etc. wiederzugeben. Sein „Hamlet“ in der Schröder’schen Verballhornung war eine seiner Meisterleistungen, während der Shakespeare-Schlegel-Tieck’sche ihm total mißlang.

Obwohl ein Hauptmagnet des Carl’schen Unternehmens, von seinem Director reich bezahlt und auf den Händen getragen, gelangte er mit seiner genialen Rastlosigkeit doch zu keinem festen Domicile. So oft wechselte er ohne irgend eine Berechtigung, contractbrüchig und schuldenbelastet, seine Engagements, so oft versetzte er Carl in peinliche Verlegenheit und großen pecuniären Nachtheil, daß dieser ihn endlich steckbrieflich verfolgen ließ und in einem Circular an alle Theaterdirectoren (1832) die Bühne für ehrlos erklärte, welche Kunst Asyl oder Gastfreundschaft gewähren würde.

Nun begann er ein Wanderleben der eigenthümlichsten Art. Bald nach Art eines kleinen Fürsten in eigener Prachtcarosse, bald in einem schäbigen Hauderer, bald von einem Secretair und von zahlreicher Dienerschaft und manchem anderen Anhange begleitet, bald von aller Welt verlassen, durchreiste er die Länder, so weit die deutsche Zunge reicht. Keine Residenz und kein Städtchen, kein großes Hoftheater und kein Winkelbühnchen gab es, wohin nicht Kunst seinen Stab gerichtet hätte. Anfangs überall mit offenen Armen aufgenommen und der strotzendsten Cassenresultate theilhaftig, sah sich gegen den Schluß seiner Laufbahn der zudringlich immer Wiederkehrende, den seine Mittel verlassen, dessen Stern erblichen war, die kleinsten Wanderbühnen verschlossen.

Ein Wiener Blatt brachte nach seinem Tode Auszüge aus einem Tagebuche, einem trockenen Verzeichniß von Städten und Einnahmen, von Kunst’s eigener Hand, seit dem Jahre 1845, als sein Ruhm bereits sehr im Abnehmen war, Tag für Tag nachgetragen. Dann und wann sind diese Zahlenreihen unterbrochen von einem Worte „stürmisch hervorbrechender Empfindung“, welche sich unter diesen Ziffern ergreifender ausnimmt, als bogenlange Erörterungen.

Noch im Jahre 1845 finden wir unter der Rubrik: „Petersburger Gastspiel: 25. Mai. Räuber. 1882 Rubel. NB. Die Kaiserin zugegen“, und hierauf eine lange Reihe von Einnahmen von 1070 bis 900 Rubel.

Dann verschwinden zwar die höchst respectablen kaiserlich russischen Rubel, aber die Tagesrechnungen halten sich auf einer achtungswerthen mittleren Höhe von 176, 150, 100 Thalern etc. Selbst das verhängnißvolle Jahr 1848, welches Kunst wie in unbestimmter Vorahnung mit einem „Mit Gott“ anfängt, zeigt kein besonderes Eingreifen der damaligen gewaltigen Ereignisse in die Bühnenwirksamkeit Kunst’s. Von da ab aber tritt die düstere Wendung seines Schicksals mit immer grelleren Ziffern hervor.

Da finden wir in dem Verzeichniß die Tageseinnahmen mit fünf, ja zwei, selbst einem Gulden verzeichnet; da kommen an die Stellen des Erträgnisses Nullen und Ausrufungszeichen, wir stoßen auf Gastspielorte, welche zu den dunkelsten Stellen der Bühnengeographie zählen, wir verfolgen unwillkürliche Ausbrüche überströmender Empfindungen, z. B. 1850: „Ende des unglücklichen Jahres. Schaffhausen ist die schändlichste Stadt, die es auf der Welt giebt! Sie sei verflucht!“ Die Jahreseinnahmen fallen vom Jahre 1845 bis zum August 1859 von 4805 Thalern auf 473 Gulden. Hier bricht das Verzeichniß ab, es gab eben nichts mehr zu verzeichnen!

Im Jahre 1857 wendete er sich in einem herzbrechenden Briefe an mich, worin er mich bat, ihm einige Gastrollen zu bewilligen. Es sei eine Lebensfrage für ihn, wieder einmal an einem guten Theater zum Auftreten zu gelangen, und ich würde mich überzeugen, daß er noch „der Alte“ sei. Ach, er war nicht mehr der Alte in dem Sinne, wie er es meinte, sondern es war in der


  1. Unter seiner winzigen Verlassenschaft fand man ein Exemplar von Schiller’s Räubern aus der Bibliothek des Dichters, welches ihm der Sohn Schiller’s, als er ihn in der Rolle des Carl Moor (1835) bewundert hatte, mit einem höchst schmeichelhaften Schreiben verehrte. In welche Hände mag dies merkwürdige Buch gekommen sein? – Ob Schiller aber sich seinen Karl Moor in dem überschwänglichen Costüme gedacht hat, wie ihn Kunst zu geben pflegte, steht freilich zu bezweifeln.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 169. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_169.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)