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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Nach dieser kurzen Verzögerung trat Edgar den Weg nach Wendelstein an. Sobald er aber Dorf und Schloß hinter sich hatte, verließ er die Landstraße und kehrte auf Seitenpfaden die zurückgelegte Strecke wieder zurück.




Einen großen Theil seines gefahrvollen Weges mußte Heinrich von der Dunstschichte aufgenommen und eingehüllt zurücklegen. Bei der Biegung um die Heinrichswand trat er endlich in freiere Atmosphäre und sah nun, den ganzen Wolkenzug unter sich, die fahlfarbige Säule noch gebundenen Lichts über dem Thale wallen.

In der Sennhütte, einem dumpfen, durch das Heerdfeuer rauchigen Raum, erwartete ihn Angelo.

Graf Waldenburg, in Schweiß gebadet und doch von Frost durchschauert, nahm in der Ecke Platz, wo die Bank der rohgefügten Balkenwand entlang lief, und der Tisch stand. Dort hing auch der künstlerische Schmuck der Almhütte, ein grellbemaltes Crucifix und ein eingerahmter Holzschnitt der „wunderthätigen Madonna von Wendelstein“. Darüber kreuzte sich der geweihte Zweig einer Palmweide mit einer Pfauenfeder.

Trotz seiner Erschöpfung begann Heinrich sofort, dem Freunde die Ereignisse des vergangenen Tags zu erzählen. Angelo blieb vor dem Tische stehn und unterbrach den leidenschaftlichen Erguß des vielgeprüften Herzens mit keinem Wort.

„Und so ist eingetroffen, was Du prophezeitest,“ schloß Waldenburg. „Die Welt meiner Träume versank. Schiffbrüchig sehe ich nach dem letzten Felsen aus, der mich aus diesen ewig schwankenden, falschen Wogen, ich will nicht sagen retten, sondern zerschellen will.“

Er sank ächzend zurück.

„Du bist blaß, angegriffen, erschöpft,“ begann der Priester und gab seiner Stimme den sanftesten Ausdruck. „Laß uns nicht jetzt weiter sprechen, nicht in der Aufregung und voreilig einen Entschluß fassen! Ich will überlegen. Schlaf Du unterdessen; Du bedarfst der Ruhe, der Erquickung! Thu’s mir zu lieb: sprich nicht mehr, sondern strecke Dich aus und schlaf!“

Heinrich fühlte selbst seine Schwäche und Hinfälligkeit zu sehr, um sich diesem wohlgemeinten Rath zu widersetzen. „Ach, Freund,“ sprach er mit einem schwermüthigen Lächeln, das selbst Angelo’s Augen feuchtete, „warum wecktest Du mich damals?!“

Er streckte seine müden Glieder, schloß die Augen und sank bald in wohlthätigen Schlaf. Lange betrachtete Angelo das stille Dulderantlitz des Schlummernden, riß dann sich mit einem Seufzer los und trat in’s Freie vor die Hütte.

Vom Wiesenabhang, der hinter dem Hause lag, klang das Geläut der Leitkuh und der Lockruf der Schwaigerin, die zum dritten Mal molk. Wunderbar klar und frisch war die Luft. Die Schneeberge, welche ringsum über schwarzen Waldgebirgen lagen, glänzten im Sonnenschein, aber hinter der Heinrichswand rollte und grollte es; fernab, in der Richtung von Waldenburg, ging die donnernde Wolkenschicht nieder.

Angelo setzte sich auf die Fensterbank nieder und stützte das Haupt in die Hand.

„So stünde ich doch nicht über den Gewittern?!“ dachte er. „So wanderte ich immer noch im Nebelthal und könnte der Sturmwind mich ergreifen? Wie klar schien der Weg, den ich mit Heinrich wandeln wollte, vor mir zu liegen! und jetzt ist mein Blick verwirrt; ich sehe plötzlich hundert Pfade sich vor uns kreuzen. Leidenschaften, die ich abgethan wähnte, schlagen plötzlich die Flügel auf – und schlimmer als dies Alles: ein Zweifel faßt mich, ob ich auch recht gethan?!“

Er sprang jählings empor. „War ich denn fromm, gläubig, rein bisher? Wohl entsagt’ ich allen Genüssen, die Menschen begehren, schwelgte in meiner Erniedrigung und schritt, wie ein Triumphator über eine königliche Leiche, über meine Erdenhoffnung, hin. Aber wem nützte ich durch mein Beispiel? Wer ward besser und frömmer durch mich? Siegreich ist die Wahrheit! Wo sind meine Schüler? Und was ist ein Sieg, der nur den Kämpfer befreit, nicht seine Brüder?“

„Die Menschen nannten mich einen Mystiker. Wenn mystischen Sinn Der hat, dem diese Welt Nichts, aber jene Welt desto größer und wichtiger ist – was war mir denn jene Welt? Ein Aufgehen in Gott. Aber mit Entsetzen sehe ich jetzt, daß die Sonne, dieser winzige Theil des Weltalls, größer, herrlicher, fruchtbarer ist als mein Gott.“

„Weltgeist!“ rief er aus und sank, von seinen eignen Gedanken zerschmettert, in die Kniee, „Dich glaubte ich zu begreifen, Dir ähnlich zu sein. Meine Ohnmacht schien mir Deine Kraft, meine Blindheit Dein Auge. Die Zügel eines Menschenschicksals ergriff ich und muß, unseliger als Phaëthon, den eignen Sturz überlebend, den Untergang des mißgeleiteten Freundes sehen.“

„Und wenn in dieser heiligen Stunde, die meine eingebildete Größe wie Schnee schmilzt und mit dem bloßen Ahnungsschimmer der ewigen Majestät wie einen Wurm mich hinwegkrümmt, wenn in dieser Stunde der Wahrheit und Erkenntniß Heinrich mich fragt, warum ich ihn dahin brachte, kann ich nichts Anderes erwidern, als: Wenn ich unglücklich war, warum wolltest Du glücklich sein!“

So, zerknirscht und reuevoll, ruhte er lange Zeit. Geläutert erhob er sich. Seine hohe Stirn erschien reiner, edler, glänzender: der Hauch der Liebe hatte sie berührt. Als er zu Heinrich zurückkam, fand er diesen bereits wach.

„Der Schlaf that wohl,“ sagte Waldenburg dem Eintretenden. „Ich fühle mich neugestärkt und zum Handeln muthig. Ich bin wieder, der ich heute Morgens war.“

„So hast Du einen Entschluß schon gefaßt? weißt, was Du Stephanien, Edgar und den Andern gegenüber zu thun hast, daß Alles sich ordnet, und Du makellos vom vollbrachten Werk zurücktreten kannst?“

Heinrich lächelte bitter. „O!“ sprach er, „ich habe einen trefflichen Gedanken, der Alles in sich faßt, ausgleicht und endigt. Um kurz zu sein: Ich bin entschlossen, mich zu rächen.“

Angelo erblaßte.

„Du staunst, Du verstummst. Nicht wahr, das hast Du von Deinem Heinrich nicht erwartet? Er ist ja so sanft, so gut, kann Niemanden schrecken noch quälen! Wie sie Alle staunen werden: Heinrich Waldenburg rächt sich! Abel erschlägt den Kain!“

„Ich hoffe, Du rächst Dich edel.“

„Wie ein Mann,“ sagte Waldenburg stolz. „Simson begrub nach Delila’s Verrath sich und seine Feinde unter Trümmern, und die Bibel sagt: Er rächte sich in der Kraft des Herrn.“

„Denk’ an Dein Gelübde!“

„Der Welt zu entsagen und nur noch Gott zu denken? Freund, das will ich. Auf Flammenfittigen, heiß wie meine Sehnsucht, will ich mich aufschwingen. Aber sie sollen mit vor den Richter!“

„Welchen wahnsinnigen Gedanken birgst Du?“ fragte Angelo in steigender Angst.

„Weißt Du eine andere Lösung, als unsern Tod?“

„Ja, die Buße!“ rief Angelo. – „Auch wir haben zu bereuen, Freund,“ fuhr er bewegt und dringend fort, „ich mehr als Ihr Alle. Unsere Saat war Lüge, wir ernteten Verrath. Wir wappneten uns mit dem Grauen des Todes, doch nur der Lebende behält Recht.“

„Und so redest Du? Muß ich Dich an jene Nacht erinnern, als ich mich zögernd vom Leben losriß? Wer rieth mir zu dieser Prüfung des Lebens und seines Werths? Wie sprachst Du, da ich schwankte?“

Der gerechte Vorwurf des Unglücklichen zerriß Angelo’s Herz. Er warf sich vor Heinrich nieder und rief: „Fluche mir, Du mein einziger und letzter Freund! Fluche mir, und wenn Erd’ und Himmel Dein Echo werden, ich habe den dreifachen Fluch verdient! Sieh, auf meinen Knieen lieg’ ich vor Dir und bekenne: meine Freundschaft war Dein größter Feind. Ich bin schuld an Deines Weibes Schuld; ich machte Dich namenlos unglücklich. Vergieb mir nicht! Setze Deinen Fuß auf meinen Nacken und verdamme mich. Aber lasse auch mir die Sühnung! Laß mir die Sühnung! Und wenn Dein Weib, wenn Edgar Kieselherzen hätten, ich will sie heute schmelzen. Meine Stimme soll wie einer Mutter Stimme sein, streng und mild, unabweisbar und unwiderstehlich. Meine Reue soll so beredt sein, daß ihnen nur noch Reue begehrenswerth, Reue Seligkeit erscheint. Heinrich! Ihr sollt mich, den stolzen, harten, selbstsichern Mann, weinend, gebrochen, verzweifelnd sehen, und jede Thräne, die ich weine, möge Höllengluth für mich und Balsam für Deine Wunde sein! … Heinrich – schließe mich aus von der Buße; heiß’ mich Hand an mich legen, ehe ich büßte! aber vorher laß mich Euch versöhnen, Euern Irrthum sühnen!“

Der Anblick, die Leidenschaftlichkeit des reuigen Mannes war erschütternd. Einen Augenblick zögerte Waldenburg, doch dann

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 275. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_275.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)