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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Die seltsame Geschichte war wochenlang das Gespräch der Residenz, Jahre lang der Stoff und das Grauen der Waldenburger. Montigny floh in der verhängnißvollen Nacht über die Grenze. Man hörte nie wieder von ihm; er ist verdorben, gestorben. Die Gräfin Stephanie warf der Schrecken auf das Krankenlager. Nach schwerem Leiden genas sie, blieb aber zeitlebens eine blasse, kränkelnde, der Welt entfremdete Frau. Sie that Vielen Gutes, aber Niemand sah sie fürder lächeln. Auf ihrem Wege lag ein Schatten.




Seines Stammes der Letzte.
Mit Abbildung.


Wer von Lorch, dem lieblichen Städtchen, welches einst von dem Segen des Weins und dem Freudenleben des Adels zu gar hohem Ruhm am Rheine getragen worden, seinen Stab in das Wisperthal setzt, der kommt in eine Landschaftenreihe voll Anmuth und reizender Schönheit. Manche Stunde führt der tief eingeschnittene Grund uns ostwärts dahin zwischen lebenvoller Natur und Trümmern der Vergangenheit, bis wir in das Sauerthal gelangen, aus dem der Tiefenbach rauscht. Wir wandern dieses kleine Wasser hinauf, der Grund wird immer enger und enger. Rechts und links sind die Halden mit dichtem Walde bedeckt. Endlich winkt uns, durch Eichen und Buchen schimmernd, eine Burgruine, aber es ist nicht die, welche wir suchen, sondern Waldeck nennt sie das Volk. Die Trümmer des Schlosses, denen wir zutrachten, sind uns als weit gewaltiger und imponirender geschildert. Nur noch wenige Schritte, und wir finden die Schilderung bestätigt; da ragt sie vor uns auf, die Burg, an welche der letzte Sickingen – nicht sein Schwert, sondern seinen morschen Wanderstab lehnte, zum Zeichen, daß hier des Geschlechtes Laufbahn schloß.

Die Ruine vor uns ist die „Sauerburg“. Sie liegt auf einem Hügel, welcher der Heiligenberg genannt wird. An den Fuß dieses Hügels schmiegt sich das Dörfchen Sauerthal, das wahrscheinlich seinen Namen von einem Sauerbrunnen erhält, deren verschiedene in diesem Grunde entspringen; von hier erreicht man auf steilem Pfade in einer Viertelstunde das alte Schloß, welches mit seinen Thürmen und Mauerresten die Breite des Gipfels einnimmt und das ganze Thal beherrscht. Der 120 Fuß hohe Hauptthurm, die vielfältigen Gelasse, die Casematten im Berge, die tiefen Gräben, über welche Zugbrücken führten, die mächtigen Höfe deuten auf eine umfangreiche und gewaltige Ansiedlung des kriegerischen Mittelalters. Als Erbauer wurden die von Bolanden im 13. Jahrhundert genannt; nach mancherlei Besitzerwechsel kam sie erst im Jahre 1692 an die Sickingen. Die Burg war indeß schon 1689 im Orleans’schen Successionskriege durch die Franzosen verbrannt und geschleift worden, die Güter, welche, beiläufig gesagt, 150 Morgen Ackerland und 30 Morgen Wiesen umfaßten, verblieben aber der genannten Familie.

Welche Erinnerungen knüpfen sich an den Namen Sickingen! Das streitbare Zeitalter der Humanisten und Reformatoren taucht vor unsern Blicken auf. Wir denken an die Ritter von der Feder und dem Schwerte, die sich in jenen Tagen einen unvergänglichen Ruhm erworben haben. Franz von Sickingen erscheint uns auf der Ebernburg, der „Herberge der Gerechtigkeit“, in seinen Beziehungen zu den Gelehrten, die sich aus der dogmatischen Anschauung des Mittelalters lösten, und in seinen Beziehungen zu den Reformatoren, welche den Kampf gegen Rom begannen. Sein Freund ist Ulrich von Hutten, der den Wahlspruch hatte: „Ich hab’s gewagt“ und „Jacta est alea“. Indeß wir wollen hier keine Geschichte erzählen, zumal da die Thaten dieser Zeit hinlänglich bekannt sind. Auch sind es nicht die Schatten jener Männer, die uns in den Wäldern und Schluchten des Thales begegnen; denn damals war ja die Burg noch nicht im Besitz der Sickingen. Aber es begegnet uns hier die Gestalt des letzten Sickingen, welcher, unähnlich seinem großen Ahnherrn Franz, der zu Landsstuhl in Kampf und Streit einen ruhmreichen Tod fand, in Armuth und Vergessenheit unterging.

Dieser Letzte der Nachkommen des großen Franz wurde am 1. Juli 1760 geboren und war der Erbe stattlicher Güter in Schwaben, Böhmen und am Rheine. Und dieses reiche Besitzthum entschwand, wie durch Verzauberung, ihm aus der Hand und aus den Augen. Die Quelle des Unheils lag in der Bewirthschaftung der böhmischen Liegenschaften; sie hatte ihn bereits in große Verlegenheiten gestürzt, als sich dazu noch das deutsche Kriegsunglück gesellte: das linke Rheinufer ging an die Franzosen und damit für Sickingen Landsstuhl, Köngernheim, Schalodenbach und Schnackenhausen auf einen Schlag verloren. Dieser Verlust zog den eben so schweren nach, daß nun die Besitzthümer in Böhmen veräußert werden mußten. Im Jahre 1818 wurde auch Sickingen verkauft. Der einst so reiche Standesherr war schier zum Bettler geworden. Nur die Liegenschaften um die öden Trümmer der Sauerburg nannte er noch sein eigen.

In früheren Jahren ging über den letzten Sickingen die schauerliche Sage, daß er seinen Vater, den die Welt für todt hielt, in den unterirdischen Verließen der Sauerburg oder im Keller des Pfarrhauses eingekerkert gehalten habe. Der Kurfürst von Mainz soll von diesem Frevel Kunde bekommen und bewaffnete Mannschaft ausgeschickt haben, um den unglücklichen Vater zu befreien. Allein der unnatürliche Sohn erhielt Nachricht von den anrückenden Soldaten und brachte den Gefangenen in die Keller der Burg Dalberg bei Kreuznach, wo der Greis von dem Freiherrn von Dalberg entdeckt, an’s Licht gezogen und dem Leben zurückgegeben wurde. Und nun hieß es weiter, Friedrich Schiller habe aus diesen Begebenheiten die Composition der Räuber geschöpft. Seine Quelle sollen die Mittheilungen Dalberg’s gewesen sein. Dieser grausamen Geschichte und dem Zusammenhang derselben mit der wildesten Dichtung unseres Schiller widerspricht jedoch nicht nur der Umstand, daß Dalberg den Dichter erst nach der Vollendung der Räuber kennen lernte, sondern auch der Charakter des Grafen Franz von Sickingen selbst. Er war, nach allen Berichten, ein gutmüthiger und lebenslustiger Mann, dem unmöglich ein so schweres Verbrechen auf dem Herzen lasten konnte. Alte Leute der Gegend erinnern sich noch der kräftigen Gestalt, die gern das Gebirg durchstreifte und auch zuweilen in den Orten am Rheine erschien. Im rheinischen Antiquarius erzählt Stramberg, daß ihm ein Freund schrieb: „Der letzte Sickingen hatte Rechts- und Cameralwissenschaften studirt, wollte aber nie ein Amt annehmen. Kaiser Franz von Oesterreich soll ihm eine hohe Hofstelle angeboten, er jedoch erwidert haben: ‚Der Sickingen dient nicht, sondern läßt sich bedienen.‘“ Die Volksstimme beurtheilt ihn hin und wieder als ein Ideal von Uneigennützigkeit und Freigebigkeit, der Geld und Geldeswerth für Nichts erachtete und sein Hab und Gut mit vollen Händen an die Armuth verschleuderte. In seinen letzten Jahren sah er so abgerissen und heruntergekommen aus, daß man ihn nicht gern in einer Gaststube empfing. Auch wurde er damals meistens von einem verkommenen Maurer begleitet, der ihm auf allerlei Weise Geld zu verschaffen suchte und den man deshalb scherzweise den Sickingen’schen Rentmeister nannte. Bevor der Graf sich gänzlich in der Gegend niederließ, soll er fast immer auf Reisen gelebt haben und, wie Stramberg sich sagen läßt, „ein sehr vernünftiger und bescheidener Mann gewesen sein, ungemein angenehm in der Unterhaltung.“ Am Ende seiner Tage beschränkte sich seine ganze Einnahme auf eine Leibrente von 700 Gulden, welche ihm die nassauische Domainenverwaltung auszuzahlen hatte.

Graf Franz von Sickingen war unvermählt. Als er sich alt und krank aus dem Leben zurückzog, schlug er seine Wohnung in dem Sauerhofe auf, der etwa eine Viertelstunde von der Sauerburg liegt und das letzte Besitzthum des alten Mannes war. Der Hofmann auf diesem kleinen Gute hieß Böttner und war kein Rheinländer. Der Graf hatte ihn einst mit sich in die Gegend gebracht und ihm die Liegenschaften zu so niedrigem Pacht übergeben, daß er selber durchaus keinen Nutzen davon hatte. Der Gutsherr und der Pächter sollen sich sehr ähnlich gewesen sein, weßhalb der Letztere im Lande als der natürliche Sohn des Grafen galt.

Ueber die Bewohner des Sauerhofs machte unserm Stramberg sein oben erwähnter Freund folgende interessante Schilderung, aus welcher geschlossen werden könnte, daß allerdings das Blut der Sickingen dieser Linie noch nicht als ausgestorben zu betrachten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 278. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_278.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)