Seite:Die Gartenlaube (1864) 316.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

wo man einem neuen Erfinder mit demselben Apparat von Klügeleien und Düfteleien (Sophismen) entgegentritt. Noch leben Männer, denen man es seiner Zeit zum Verbrechen angerechnet hat, daß sie neue Bahnen suchten und die Aussprüche ihrer ehrwürdigen Lehrer nicht als entscheidend anerkennen wollten, oder denen man Stillschweigen geboten, weil sie hergebrachten wissenschaftlichen Ansichten, die von oben her beschützt wurden, zu widersprechen wagten.

Dieser mittelalterliche Geist war nun aber zu Columbus’ Zeit gerade mächtiger als je. Soeben waren die Araber, die letzten Träger der Wissenschaft, welche theils altgriechische Kenntnisse fortgepflanzt, theils selbständige Forschungen, besonders auf naturwissenschaftlichem Felde, gepflegt hatten, aus Europa vertrieben, unterjocht und zersplittert worden. Die Inquisition bereitete sich vor, ein Paar Jahrhunderte lang den Glaubenssieg durch fanatische Menschenquälerei zu feiern. Staat und Kirche waren fest verbunden, jede ketzerische Abweichung von den obrigkeitlich oder kirchlich befohlenen Gedankengängen zu unterdrücken und bitter zu bestrafen. Ein schwerer Druck, ein dicker Nebel lastete auf allen denjenigen Geistesanlagen des Menschengeschlechtes, durch welche wir befähigt werden, vorwärts, aufwärts, dem Göttlichen zu, uns zu entwickeln. Und sie drohten, immer schwerer, immer dicker zu werden. Es läßt sich nicht denken, wie dies von selbst im Laufe der Dinge hätte besser werden sollen. Durch Erörterungen allein wird die Masse nicht frei; sie begreift erst Thatsachen. Allerdings war damals die Buchdruckerkunst schon erfunden; sie machte es möglich, daß vieles ehedem Verborgene zur allgemeinen Kenntniß gelangte. Aber die Buchdruckerpresse ist leicht zu unterdrücken, wie wir noch heutzutage merken; sie wäre in jenen Zeiten noch leichter und vielleicht für immer zum Schweigen zu bringen gewesen, wenn die verbündeten politischen und kirchlichen Machthaber des gesammten Europa’s ernstlich gewollt hätten. Und wo nicht, so blieb es immer noch möglich, wie heutzutage, sie in ausgedehntem Maße zur Verdunkelung der Menschengeister zu benutzen. Noch heutzutage ist die Masse der Schriften, welche die Köpfe verdummen und die Denkkräfte verweichlichen, wie manche Romane es thun, überwiegend größer, als die Zahl der wahrhaft aufklärenden und die geistige Spannkraft erhöhenden. Zudem ist die Zahl der Lesenden immer eine geringe und war dazumal verschwindend klein. Die große Mehrzahl des Volkes lebte in bodenloser Unwissenheit und Abergläubigkeit, zwischen knechtischer Arbeit und rohem Sinnesgenuß getheilt. Seine Weisheit und Frömmigkeit bestand in auswendig gelerntem Wortkram, hirnverwirrenden Glaubenssätzen und kindischer Furcht vor Geistern und Höllenmächten, womit sie von ihren klerikalen Zwingherren geängstigt wurden. Zauberglaube, Hexenverfolgung und Ketzervertilgung waren an der Tagesordnung; letztere gehörten zu den öffentlichen Festlichkeiten. Vernunft und Natur, beide waren proscribirt, verpönt und gefürchtet zugleich.

Die höheren Stände waren ebenfalls großentheils aller eigentlichen Bildung fremd. Ihr Hauptinteresse war entweder Jagd- und Kriegeslust, welche den Menschen zum Raubthier herabziehen, oder Lied und Liebe, die der Mensch mit dem Finkengeschlecht gemeinsam hat. Aber von jenen Geisteskräften, welche den Menschen vom Thiere unterscheiden und zu der stolzen Hoffnung berechtigen, daß mit dem Menschengeschlecht eine neue zukünftige Reihe vollkommnerer Geschöpfe beginne – von diesen höheren Geistesfähigkeiten wurde keine für würdig gehalten. Die Gelehrten endlich, aller Ursprünglichkeit und Schöpferkraft bar, klammerten sich an die überlieferten Sätze längst verstorbener Schriftsteller und an die von der Kirche amtlich vorgeschriebenen Glaubenslehren. Auslegung (Commentiren) und Zergliederung solcher alter Sätze galt für Gelehrsamkeit, Spitzfindigkeit und Wortklauberei für Scharfsinn, Schulweisheit (Scholastik) für Kenntniß. Man bildete sich ein, Etwas zu wissen, wenn man nacherzählte, was die Leute vor Jahrhunderten zu wissen gemeint hatten. Selbstständig zu untersuchen, ob solche Autoritäten Recht hatten, ob der Kern der Sache wahr oder unwahr sei, kühn in die noch unbekannten Thatsachen hineinzugreifen, um ein paar neue Wahrheiten zu erhaschen: das wagte Niemand, das wäre Vermessenheit gewesen. Die oben berichtete Geschichte des Rathes zu Salamanca, wo schließlich die unstudirten Dominikaner noch am meisten für die Sache des gesunden Menschenverstandes, d. h. des Columbus, Partei nahmen, giebt uns ein deutliches Bild, wie es in den Köpfen jener Gelehrten aussah.

In diese Finsterniß nun fiel zuerst ein erleuchtender Morgensonnenstrahl durch die oben erwähnten Entdeckungsreisen der Portugiesen längs der Westküste von Afrika, die Entdeckung der Canarien, Madeira’s, Teneriffa’s und des grünen Vorgebirges. „Das Gerücht von diesen Seereisen verbreitete sich bald in ganz Europa. Die Menschen, welche lange Zeit gewohnt waren, die Wirksamkeit und Kenntniß des menschlichen Geistes in ihren bisherigen Kreis einzuschränken, erstaunten, als sie den Kreis der Schifffahrt so plötzlich erweitert und eine Aussicht eröffnet sahen auf Reisen in Weltgegenden, von deren Dasein man in den vorausgegangenen Zeiten nichts gewußt hatte. Die Gelehrten und Denker machten Schlüsse und Theorien über diese unerwarteten Entdeckungen. Das Volk staunte. Muthige Abenteurer eilten aus allen Ländern Europa’s herbei, ihre Dienste anzubieten,“ schreibt Robertson in seiner Geschichte von Amerika.

Eine kleine naturwissenschaftliche Entdeckung gab diesem neuen Triebe das Mittel zum Hinausschweifen in den Ocean. Dies war die Entdeckung der Eigenschaft des freischwebenden Magnetes, sich mit der Axe quer gegen den Erdumlauf, also mit den beiden Spitzen gegen beide Pole zu stellen, die Erfindung der Magnetnadel, welche sich rasch unter den Schifffahrern verbreitete. Erst diese machte es möglich, bei Nacht und Nebel in’s weite Meer hineinzusteuern, während bis dahin die Schiffer sich immer ängstlich am Lande hin drücken mußten, um nicht bei fehlendem Stern- und Sonnenschein Gefahr zu laufen, alle Richtung zu verlieren und die Hoffnung auf Heimkehr einzubüßen. Jetzt vertraute man sich kühn, und die Columbusse unter den Kühnsten, dieser zitternden stählernen Wegweiserin an, und sie war es denn auch, welche unsern Helden – nicht ohne einige Schelmereien der Abweichung vom richtigen Pol – glücklich in das gelobte Land brachte.

Die Art und Weise, wie Columbus diese kühne Erstlingsweltreise ausgeführt hat, ist mustergültig für jeden Entdecker in jeder Wissenschaft. Er maß Alles am Himmel und in den Tiefen; er hielt genaue Rechnung über jede zurückgelegte Seemeile (sogar doppelt, eine echte für sich und eine verminderte für sein zaghaftes Schiffsvolk); er beobachtete alle sich darbietenden Erscheinungen in der todten und lebenden Natur und schrieb die Beobachtungen sofort mit der Farbe des frischen Eindruckes in seine Tagebücher nieder.

Er controlirte scharf alle neu dargebotenen Thatsachen, z. B. die heranschwimmenden Pflanzen, die auf das Schiff flatternden oder vorbeiziehenden Vögel, um zu prüfen, in wie weit sie das Vorhandensein eines westlichen Festlandes bestätigten, das heißt die Summe der beweisenden Umstände für einen solchen Inductionsschluß vermehrten. Und so wurde am 11. Octbr. 1492 diese wundervolle neue Welt entdeckt; nicht durch den blinden Zufall, nicht durch die Laune eines Wagehalses, sondern durch die langjährige Arbeit eines Forschers, welcher von richtigem Grundsätzen ausgehend die Thatsachen reden lehrte und an dem, was sie ihm mitgetheilt, mit unerschütterlicher Festigkeit und Folgerichtigkeit festhielt, bis er seine Aufgabe gelöst hatte. Freilich, „die Ausführbarkeit einer solchen Fahrt war eines jener natürlichen Geheimnisse, welche in der bloßen Speculation für unausführbar gelten, aber, einmal ausgeführt, die allereinfachsten Dinge von der Welt sind.“ Columbus war sich dessen recht wohl bewußt, wie die bekannte Geschichte vom Ei beweist. Denn als einige Zeit nachher ein naseweiser Höfling meinte: „wenn Columbus nicht gewesen wäre, würde wohl ein Anderer die neue Welt gefunden haben!“ – da forderte Columbus ihn und die übrige Gesellschaft auf, ein Ei auf die Spitze zu stellen, so daß es stehen bleibe. Und als dies keiner vermochte, löste er die Aufgabe durch Zerklopfen der Schale. „Nichts leichter als das!“

Die nächste Wirkung von Columbus’ Entdeckungen war Bewunderung und Entzücken in der ganzen civilisirten Welt. Jedermann betrachtete es als ein Ereigniß, bei welchem er selbst mehr oder minder betheiligt sei und welches ein neues schrankenloses Feld der Untersuchung und des Erwerbes eröffne. Pomponius Lätus, ein Gelehrter jener Zeit, schreibt von sich, er sei vor Entzücken in die Höhe gesprungen und habe Freudenthränen geweint. Peter Martyr, ein anderer Gelehrter, schrieb, er fühle eine wahre Glückseligkeit des Geistes, sich mit den zurückgekehrten Entdeckern zu unterhalten. Es sei ihm zu Muthe, wie einem Armen, dem sich reiche Schatzkammern öffnen. Die Seele fühle sich erhoben, wenn sie solche glorreiche Erfolge betrachte. „Alles, was man bisher für groß und glänzend gehalten hatte, verschwand und verdunkelte

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 316. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_316.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)