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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

der Verfasser alle brasilischen Zustände entweder zu loben oder doch zu beschönigen bemüht ist, faßt er den deutschen Proletarier schlau bei dessen schwacher Seite und zeigt ihm seine freilich nicht wegzuleugnende üble Lage, um dadurch die brasilischen Herrlichkeiten desto glänzender erscheinen zu lassen. Redlicherweise könnte man nur sagen: „Im südlichen Brasilien könnt Ihr als fleißige Arbeiter Euer gutes Auskommen finden; für Deutschland aber werdet Ihr dort verloren sein, und Eure Kinder werden Brasilianer werden.“ Wem damit gedient ist, nun wohl, der mag hingehen! Der Colonist Georg, unter dessen Maske der Verfasser schreibt, ist in der That ganz zufrieden damit, er will, daß die Einwanderer aufhören Deutsche zu sein, und mißbilligt, daß dieselben deutsche Schulen unterhalten und ihre Kinder hineinschicken, indem er vorgiebt, es werde dadurch die nöthige Erlernung den Portugiesischen verhindert. Wunsch und Absicht der brasilischen Regierung ist in der That, daß die deutschen Einwanderer so schnell als möglich in den Brasilianern aufgehen, und das vorliegende Buch ist ganz im Sinne jener Regierung und daher entschieden nicht im deutsch patriotischen Sinne geschrieben.

Was das Buch sagen will, ist mit kurzen Worten: „Wandert womöglich über Antwerpen nach Brasilien aus, dient nöthigenfalls erst als Parceristen, wendet Euch aber, sobald Ihr etwas Geld habt, nach der Provinz Rio Grande do Sul und zwar in dieser nach der Colonie Santa Cruz.“ Dieser Rath wird mit großer Schlauheit ertheilt: dem Wege über Hamburg wird erst viel Lob gespendet, um dann das Haus Steinmann und Comp. in Antwerpen scheinbar um so unparteiischer rühmen zu können. Man verlangt nur Arbeiter (nämlich solche, die ungeschult und daher recht lenksam sind) und lehnt „verdorbene Genies, Professoren aller Art, ehemalige Officiere, Künstler und dergleichen“ entschieden ab, weil diese „meist Unzufriedenheit und Mißhelligkeiten hervorrufen“; – das klingt sehr verständig; allein man will solche Leute in Wahrheit nur deshalb fern halten, weil sie den Herrn Coloniedirector in der Rolle des Feudalherrn behindern, weil sie das Vergessen der deutschen Sprache verhüten und überhaupt die Brasilianisirung des deutschen Elements wenigstens erschweren.

Das brasilische Parceria (Halbschied- oder Halbpart) System, worüber längst mit vollem Rechte der Stab gebrochen worden ist, wird von diesem Pseudonymen Georg als sehr gemüthlich und idyllisch geschildert und warm empfohlen als ein Durchgangsstadium für arme Einwanderer, und er scheut sich nicht, zu sagen, daß „dieser Gedanke ein großer und herrlicher, der einst noch reiche Früchte zu bringen bestimmt sein dürfte“. Auch sogar für das Mucurithal hat er nur eitel Lob, meint, die dort zu Grunde gegangenen Einwanderer hätten ihr Unglück nur durch ihr eigenes Benehmen verschuldet, und jene Colonie sei nur von „bezahlten Lohnschreibern “ so schlecht und schwarz gemalt worden. Hätte er diese „bezahlten Lohnschreiber“ doch genannt!

Das Klima des südlichen Brasilien konnte der Verfasser mit Recht als ein gesunden, mildes und schönes bezeichnen; aber er lobt in dieser wie in jeder andern Beziehung auch den Norden sehr. Gelbes Fieber ist dort so gut wie eine bloße Sage! Von der Cholera spricht er gar nicht. Und dann die häufigen Fälle außerordentlich hohen Alters! Er sagt, es gebe „außer Brasilien wohl kein Land, wo so viele Greise vorkommen, die das hundertste Jahr zurückgelegt haben“. O ja, z. B. Rußland ist in gleicher Lage, sowie alle halbcivilisirten Länder, wo Geburts- und Sterberegister vernachlässigt sind und wo, wie in Brasilien, keine Zeitung behagt, worin nicht fast täglich eine gräßliche Mordthat und ein Fall ungeheurer Langlebigkeit erzählt wird. Und mit welchen Nebenumständen werden solche Fälle ausgeschmückt! Im vorigen Jahre meldete z. B. ein Blatt den Tod einer Matrone von Rio Vermelho in der Provinz Minas Geraes, die 120 Jahre alt gestorben war und eine – „legitime“ Tochter von funfzehn Jahren hinterlassen hatte!

Der Verfasser bemerkt auch, die Regierung lasse jetzt sehr häufig protestantische und katholische Geistliche aus Deutschland für die Colonien kommen. „Protestantische“ ist, gelinde gesagt, ein Schreibfehler; und was die katholischen anlangt, so sind das nur jene österreichischen Jesuiten, die des Unheils und der Stänkerei genug unter den deutschen Colonisten angerichtet haben und die zugleich als Werkzeuge zur Romanisirung und Brasilianisirung des deutschen Elements dienen. Von dem berüchtigten Ehegesetz für die Protestanten und ähnlichen Sächelchen schweigt der schlaue Georg.

Bezüglich der verbotenen Einfuhr der Sclaven sagt er, in den letzten zehn Jahren seien nur zwei Schiffe voll gebracht, aber sogleich aufgefangen worden; „seitdem habe man nichts weiter davon gehört“. Andere Leute, die sich um die Sache bekümmert haben, schätzen die Zahl der seit 1831 (wo die Sclaveneinfuhr gesetzlich verboten wurde) importirten Schwarzen auf dritthalb Millionen!

Indem Senhor Georg die mancherlei Freiheiten aufzählt, deren er als Colonist genießt, vergißt er, daß das zum Theil nur Freiheiten der Wildniß sind; z. B.: „Niemand schreibt mir vor, wie ich mein Haus zu bauen habe“; natürlich, weil er weit und breit keinen Nachbar in seinem Walde hat, aber deshalb auch all der Vortheile entbehrt, die eine dichte Bevölkerung mit sich bringt. In solcher Hinsicht ist man in der Sahara und auf Spitzbergen noch weit freier als in Brasilien. „Niemand zwingt mich, mein Kind impfen zu lassen“ – auch das mag Köder für dumme Menschen sein. Unter den aufgetischten Lockspeisen fehlt denn auch nicht jene plumpe Täuschung der brasilischen Steuerfreiheit. In Folge der ungeheuren Einfuhrzölle (und man bezieht alle Producte der Industrie aus dem Auslande) ist gerade der eigentliche Colonist, der Landbauer, dort am höchsten besteuert. – Th. O. 




Der fünfte Zeuge. Es giebt in Paris neben den anerkannten und patentirten Gewerben noch eine große Anzahl kleiner Neben-Industrien, die sich dem aufmerksamen Beobachter nach und nach offenbaren. Z. B. das Feueranbieten auf den belebtesten Plätzen und Straßen, das Aufheben weggeworfener Cigarren-Stummel auf dem Boulevard des Italiens, das Oeffnen und Schließen der Wagenthüren an Kirchen und Theatern macht die tägliche Beschäftigung einer gar nicht unbedeutenden Anzahl von allerdings nicht eben hoffnungsvollen Pariser Jünglingen aus. Ferner findet man Katzenjäger, die allen Batels der Barrieren den Stoff zu ihren Fricasssé liefern; Künstler in Silhouetten, die für den bescheidenen Preis von zehn Sous in den kleinen Weinkneipen etwa gewünschte Portraits sehr zierlich im Profil ausschneiden. Sodann existirt die große Zunft der „Contremarken-Verkäufer“, die übrigens eine geordnete Gesellschaft bilden und eine Casse von 400.060 Francs besitzen. Noch zu nennen sind die „Fabrikanten von volksthümlichem Gefrorenen“ (fabricants de glaces populaires, wie sie sich nennen), die der Bevölkerung von Paris für zwei Heller eine anständige Portion von Gefrorenem à la vanille und au citron anbieten. Die „vereinsamten Claqueurs“ darf ich nicht vergessen; sie sind nicht zu verwechseln mit der großen Masse der in allen Theatern angestellten und allabendlich bezahlten Claqueure, nein, der „vereinsamte Claqueur“ klatscht und überläßt sich den lebhaftesten Beifallsbezeigungen nur dann, wenn alle anderen Menschen still sind, er zieht also die allgemeinste Aufmerksamkeit auf sich und sein Zweck ist, das Publicum auf diese Art zum größten Enthusiasmus hinzureißen; es geschieht ihm freilich zuweilen, daß er vor die Thür geworfen wird, oft aber erreicht er seine Absicht und dann wird er sehr gut bezahlt. Alle diese kleinen Gewerbe ernähren ihre Leute mehr oder minder gut.

Es giebt aber noch ein Metier, das meiner Nomenclatur bis jetzt fehlte; ich werde es „das Geschäft des fünften Zeugen“ nennen. Es ist jedenfalls eine der Eigenthümlichkeiten der großen Stadt.

Auf der Mairie des zweiten Arrondissements bemerkte ich sehr oft einen jungen Mann von einnehmenden Aeußern, in der Uniform eines National-Gardisten, der auf dem Hofe des stattlichen Gebäudes regelmäßig Sonnabends in den Stunden zwischen zwölf und zwei Uhr zu lustwandeln schien.

„Sie haben wohl Dienst?“ fragte ich ihn eines Tages.

„Ja, mein Herr!“

„Alle Sonnabende?“

„So ist es.“

„Das setzt mich in Erstaunen, da meines Wissens jeder Pariser National Gardist nur aller zwei Monate zum Wachdienste gezogen wird!“

„Da haben Sie allerdings Recht; indessen mich bestimmen philanthropische Rücksichten den Dienst für meine Cameraden zu übernehmen.“

„Jeden Sonnabend gerade?“

„Ja, jeden Sonnabend. Nun aber thun Sie mir den Gefallen und lassen Sie mich allein, begleiten Sie mich nicht und sprechen Sie nicht mehr mit mir. Sie sind doch nicht hierher gekommen, um mir zu schaden?“

„Gewiß nicht.“

„Sie haben auch nicht den grausamen Hintergedanken mir Concurrenz zu machen?“

„Da sei Gott vor!“

„So bitte ich Sie, verlassen Sie mich. Später bin ich gern bereit Ihnen Alles zu erklären, was Sie zu wissen wünschen.“

Ich gab der Bitte nach, aber meine Neugierde war lebhaft angeregt.

Ich wollte wissen, warum dieser National-Gardist, dessen Diensteifer mir offenbar eine belobende Anerkennung zu verdienen schien, gerade den Sonnabend gewählt hatte, um sich dem Vaterlande zu widmen, und warum er so eindringlich darauf bestand zwischen zwölf und zwei Uhr auf dem Hofe der Mairie allein herum zu spazieren. Ich wendete mich an den Sergeanten der Wache.

„Wer ist der junge Mann,“ fragte ich den bärtigen Sohn des Mars, „der da auf und nieder geht?“

„Das ist ein sehr bekannter junger Mann, ein Original!“

„Was thut er?“

„Er ist Schreiber bei einem Notar.“

„Um einen gerichtlichen Act aufzunehmen, ist er denn doch wohl nicht hier?“

„Vielleicht doch. Passen Sie nur auf, was geschehen wird. Er liebt das Vergnügen, die gute Kost, Musik und Tanz.“

„Und darum zieht er auf die Wache?“

„Eben darum.“

„Ich verstehe Sie nicht!“

„Passen Sie nur auf, und Sie werden nach und nach vielleicht verstehen. Ich muß Sie aber nun verlassen, um die Parole zu holen.“

Der Sergeant ging, und ich stellte mich neben ein Fenster des Wachtgebäudes. Von hier aus konnte ich Alles übersehen, was in dem Hofe vorging. Es erschienen Täuflinge, die in ihren schönen weißen Mänteln von sorgsamen Ammen getragen und von freudestrahlenden Papas geleitet wurden; es kamen lustige Hochzeitszüge mit ihrem Gefolge von geputzten Brautjungfern, bedenklichen Großeltern und gerührten Müttern etc.

Plötzlich kam ein Herr mit weißen Handschuhen, weißer Cravatte, frisirtem Haar, neuem schwarzem Frack, mit sehr besorgtem Gesicht die breite Treppe der Mairie wieder herab gesprungen, er sah sich ängstlich nach allen Seiten um und schlug sich plötzlich vor die Stirn.

Mein lustwandelnder National-Gardist sah den Herrn sehr wohl, that aber als ob er ihn nicht bemerke, ging in weiten Bogen um ihn herum und pfiff: „Malb’rough s’en va-t-en guerre!“ Plötzlich stellte sich der Mann in weißen Handschuhen dicht vor ihn hin. Beide standen ganz in meiner Nähe, ich verlor also kein Wort ihrer Unterhaltung.

„Mein Herr,“ seufzte der schwarze Frack, „ich bin recht unglücklich!“

„Was fehlt Ihnen?“ fragte der Nationalgardist.

„Ich verheirathe mich.“

„Das nennen Sie ein Unglück?“

„Das nicht, aber es fehlt mir ein Zeuge, und die Trauung ist unmöglich ohne die vorgeschriebenen fünf Zeugen.“

„So will es das Gesetz; ein Artikel des Code Napoléon hat diesen Fall vorausgesehen, mein Herr!“

„Wollten Sie wohl die große Liebenswürdigkeit haben, den fehlenden Zeugen zu vertreten, der mich schändlicher Weise im Stich läßt?“

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