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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

berichten. Es war ein großes, offenes, zugängliches Haus! Man hätte meinen sollen, dort seien keine Geheimnisse vorhanden, und doch gab es deren genug. Vieles zog dort aus und ein, was den Besuchern ein Räthsel blieb; sie sahen die Person, sie sprachen mit ihr – aber ihre Wirksamkeit verstanden sie nicht, ihr geheimnißvolles Treiben barg sich unter glänzender Hülle, genialer Leichtfertigkeit oder stummer Unterwürfigkeit. Der Sieur d’Artagnan, Herr v. Saint Mars, Griffet, Fouquet; dann die Mitwisser des gräßlichen Geheimnisses der eisernen Maske etc., welch’ eine Fülle von Mysterien bargen sie in ihrer Brust!

Als der sittenreine Ludwig XVI. den Thron bestiegen hatte, wurden die räthselhaften Persönlichkeiten seltner. Der König war kein Freund von solchen historischen Raritäten. Um so größer war die Neugierde des Hofpersonals, als im Jahre 1777 eine Erscheinung auftauchte, welche ganz geeignet war, ein Heer von Vermuthungen auszurüsten und die sonderbarsten Vorstellungen zu erzeugen, eine bisher noch nicht dagewesene Erscheinung.

An einem Tage im Augustmonate war die Einfahrt zu dem großen Hofe förmlich belagert von Hofleuten beiderlei Geschlechts. Man raunte einander in die Ohren, man tuschelte, man reckte die Hälse. Der König war mit seiner ganzen Familie anwesend. Er hatte schon seit dem frühen Morgen es sehr mißfällig bemerkt, daß sich verschiedene Unberufene eingefunden hatten. Diese waren aus keinem andern Grunde gekommen, als um das räthselhafte Geschöpf zu sehen, dessen Ankunft Ludwig XVI. erwartete.

Sehr bitter wurden die Gaffer enttäuscht. Nach langem Harren erblickten sie zwar die ersehnte Kutsche, welche das Wunder barg, aber die Fenster dieser Kutsche waren durch grünseidene Vorhänge dicht geschlossen. Die Pferde wurden durch den Kutscher zu rasender Eile getrieben, und zum großen Verdruß des schaulustigen Publicums fuhr der Wagen nicht in den großen Hof, sondern bog dicht vor dem Gitter links ab, lenkte in den Seitenhof ein und hielt dann am Fuße der kleinen Treppe, von welcher aus man direct in die königlichen Zimmer gelangte und auf deren letzter Stufe Ludwig XV. den Messerstich von Damiens’ Mörderhand empfing. Zu diesem gleichfalls vergitterten Vorplatze erhielt aber Niemand Zutritt, wenn der König nicht Empfangtag anbefohlen hatte, und so mußten die Getäuschten mit langer Nase abziehen.

Der auf dem Wagenschlage stehende Lakai öffnete und half einer reichgekleideten Dame aus dem Wagen. Die Dame war tief verschleiert. Sie stieg die Stufen hinan, ging langsam, aber fest auftretend, durch den Corridor bis in das Vorzimmer des Königs und blieb dort stehen, während der dienstthuende Kammerherr die Meldung von ihrer Ankunft machte. Nach kurzem Harren öffnete sich die Thüre zu den Zimmern des Königs. Derjenige, der sie öffnete, war der Monarch selbst. Er winkte der Verschleierten sehr artig hereinzukommen und sprach die einer Dame gegenüber allerdings seltsamen Worte: „Treten Sie näher, mein Herr Chevalier!“

Die große Gesellschaft im Hofe hatte nun freilich nicht Gelegenheit bekommen, das seltsame Geschöpf in der Nähe zu betrachten, allein die wenigen, die sich im Vorzimmer des Monarchen befanden, waren um so schneller bereit, ihre Bemerkungen mitzutheilen. Das Wunderbarste an der ganzen Sache war aber, daß alle Welt die Person selbst kannte, daß man von ihrem früheren Leben ziemlich genau unterrichtet war, nur die Verwandlung des Costüms blieb das Räthselhafte.

Jene Dame nämlich, welche der König Ludwig XVI. am 19. August 1777 so artig empfing, war Niemand Anderes, als der Chevalier Timothée d’Eon de Beaumont, bekannt in der Welt der Höfe unter dem Namen Chevalier d’Eon.

Aber dieser Chevalier trug Weiberkleidung. Wie war er in diese gekommen? D’Eon war bekannt als tüchtiger Soldat, gewandter Staatsmann, unerschrockener Duellant und Mann von gediegener Bildung. Am 5. October 1728 zu Tonnerre in Burgund geboren, hatte er nach vollendeten Studien durch den Prinzen Conti eine Anstellung bei der Gesandtschaft in Rußland erhalten. Der verschlagene junge Mann leitete nun fünf Jahre lang die geheime Correspondenz der Kaiserin Elisabeth mit Ludwig XV. Er war eine der stärksten Federn, welche den mächtigen Bestuscheff in die Lüfte schnellten. 1758 trat der Chevalier in die Reihen der französischen Armee als Rittmeister des zweiten Dragonerregiments. Hier war er einer der unerschrockensten Kämpfer, bei jeder Veranlassung war sein Degen blank, und vielleicht ist hierin die einzige Erklärung zu suchen, warum einem bedeutenden Diplomaten, einem bewährten Officier, einem Soldaten, dessen Brust viele Orden zierten, einem Gelehrten und einem mit den wichtigsten Geschäften beauftragten Agenten der Regierung durch zwei Monarchen der Befehl werden konnte, zeitlebens Weiberkleider zu tragen und sein Geschlecht zu verleugnen.

D’Eon war in der That ein Räthsel während seines Lebens. Die zahllosen Scenen, welche er schon vor der sonderbaren Metamorphose seiner äußern Erscheinung veranlaßte, würden ein ziemlich umfangreiches Buch füllen. Hier einige, welche verhängnißvoll für ihn wurden.

Während des Herbstes 1770 erfüllten ganz London die Berichte eines fast pöbelhaften Auftrittes, welcher sich zwischen angesehenen Beamten der französischen Gesandtschaft ereignet hatte. An dem Vormittage des 29. August 1770 lag der Gesandtschaftssecretair Chevalier d’Eon nachlässig auf seinem Sopha ausgestreckt. Er hielt ein Buch in der Hand und wollte sein Haupt soeben in die Kissen senken, als der eintretende Diener einen Herrn von Vergy anmeldete. Der Chevalier nahm den Besuch an, hieß den Eintretenden freundlich niedersetzen und fragte nach seinem Begehr.

„Ich bin ein Mann der Feder,“ entgegnete der Herr von Vergy. „Ich wünsche England den Franzosen bekannter zu machen, als es bisher geschehen, und möchte, daß die Franzosen in England besser gekannt würden. Ihr Name, Herr Chevalier, ist ein so geachteter, daß ich bei meinen Bestrebungen gern auf Ihre Beihülfe zählen möchte.

„Sie besitzen Empfehlungsschreiben?“ fragte d’Eon mit leichter Verbeugung.

„Männer wie ich bedürfen derselben nicht, sonst könnte ich hundert für eines aufzeigen.“

„Es wäre aber doch vortheilhaft für Sie, mein Herr, wenn Sie Briefe an den Gesandten Frankreichs, Herrn von Guerchy, mitgebracht hätten.“

„Ich brauche keine Briefe. Mit dem Grafen Guerchy habe ich so häufig soupirt und mich mit ihm in Gesellschaft der Marquise Villeroy und Frau von Lirré amüsirt, daß ich in ihm einen Freund finde, der mich mit offenen Armen, mit dem Rufe: ‚Willkommen, mein Vergy!‘ empfangen und mir die Wange küssen wird.“

Dies war der Anfang einer Unterhaltung, die sich bald um gleichgültigere Dinge drehte. Oeftere Besuche des Herrn v. Vergy bei dem Chevalier d’Eon fanden statt. Endlich versuchte Herr von Vergy, durch Vermittelung des Chevaliers Briefe nach Frankreich zu befördern. D’Eon, mißtrauisch gemacht, öffnet die Briefe und findet eine sehr frivole Correspondenz zwischen Vergy und einer berüchtigten Dame, gleichwohl waren die Briefe mit der Adresse des Herzogs von Choiseul versehen. Welchen Antheil der Herzog an dieser Intrigue gehabt, das ist nie klar geworden.

Kurze Zeit darauf schickte Herr von Vergy einen Aufsatz über England zur Prüfung an d’Eon ein, der ihm das Manuscript zurücksendete. Der Aufsatz enthielt nur Scandalosa. Der Chevalier, der während des erledigten Gesandtschaftspostens in London die Geschäfte Frankreichs geführt hatte, war durch das Erscheinen des Herrn von Guerchy entschieden beleidigt. Man hatte einen Mann mit der Würde des Gesandten betraut, der nicht so in die Geheimnisse des Staates eingeweiht war, wie d’Eon. Die Folge davon mußte eine Gereiztheit sein, der sich Mißtrauen zugesellte, und so betrachtete denn der Chevalier den mystischen Herrn von Vergy auch bald als ein Werkzeug seiner Feinde, wenigstens konnte er nicht daran zweifeln, daß er einen Abenteurer vor sich habe.

D’Eon war freilich eine in gewissem Sinne gefährliche Person. Er besaß eine große Menge von Briefschaften und Papieren der wichtigsten Art. Seine Beziehungen zu dem russischen Hofe einer- und dem französischen Hofe andrerseits müssen sehr vertrauter Natur gewesen sein. Indessen bleibt es immerhin räthselhaft, weshalb man nicht zu dem unter Ludwig XV. so sehr beliebten Mittel der Einsperrung in die Bastille griff, sondern ein anderes wählte, das an Bizarrerie seines Gleichen suchte: den Chevalier d’Eon in ein Weib zu verwandeln. Hierzu eben scheint die Person de Vergy’s benutzt worden zu sein.

Nicht lange nämlich nach diesen räthselhaften Besuchen bei d’Eon, deren Zweck nie ganz aufgeklärt worden ist, erschien de Vergy in den Salons des Gesandten, Grafen Guerchy. Der

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