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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

mit dem Herzog von Nemours nach dem Generalstabsquartier. Er fand daselbst, daß der Marschall bei weitem nicht mehr so zuversichtlich war, wie derselbe noch vor wenigen Stunden gewesen. Bugeaud beklagte sich bitter über die unzureichende Truppenzahl, wie über den Mangel an Munition und Lebensmitteln, und kaum hatte Herr Thiers, nachdem er wenige Worte über die Gefahr der Lage mit dem Marschall gewechselt, das Generalstabsquartier wieder verlassen, als ein angesehener Bürger, Herr Fauvelle, die Treppe zu demselben athemlos hinaneilte und dem Marschall und seinen Officieren ohne Umstände zurief, das einzige Mittel, ein Aeußerstes, d. h. den Umsturz des Thrones, zu verhüten, sei, die von den Tuilerien ausgezogenen Truppen auf der Stelle dahin zurückzuziehen, denselben die Einstellung des Feuers zu befehlen und die Nationalgarde mit der Wiederherstellung der Ordnung zu betrauen. Obzwar von Bugeaud barsch angefahren, wußte der unerschrockene Mann, dessen Nachrichten auch von anderen Seiten her bestätigt wurden, seinen Worten ein solches Gewicht zu geben, daß der Marschall, nach geflügelter Berathung mit dem Herzog von Nemours, Herrn Fauvelle zu Handen des Generals Bedeau den schriftlichen Befehl zustellte: „Lassen Sie das Schießen überall einstellen und die Nationalgarde den Sicherheitsdienst übernehmen. Lassen Sie Worte der Versöhnung vernehmen und ziehen Sie sich nach dem Carrouselplatz zurück …“ Es war 9 Uhr, als Bedeau diese Ordre empfing.

Zu spät!

Derweil waren Thiers, Barrot und ihre Begleiter in das Cabinet des Königs eingeführt worden. Der greise Monarch, durch etliche Stunden Schlaf neugestärkt, empfing sie mit der gewohnten Lebhaftigkeit seiner Manieren und auf Herrn Thiers zugehend, sagte er: „Nun wohl, mein lieber Minister –“

„Sire, wir kommen, eine Verständigung mit Ihnen zu versuchen; aber noch sind wir nicht Minister.“

„Sie sollen es sofort sein. Was ist zu thun?“

„Man weiß in Paris noch nicht officiell, daß Sie uns berufen haben.“

Ueberrascht und beunruhigt ließ Louis Philipp seinen Cabinetssecretair Fain rufen, und dieser übergab ihm einen Brief vom Polizeipräfecten Delessert, welcher meldete, daß er in der Polizeipräfectur blockirt sei und nicht ein einziger seiner Agenten im Stande gewesen wäre, die amtliche Bestätigung der Nachricht von der Berufung eines Ministeriums Thiers-Barrot zu verbreiten. „Das ist trostlos!“ sagte der König. Herr Barrot nahm nun das Wort, um zu erklären, daß die Oberbefehlshaberschaft Bugeaud’s die Beruhigung der Gemüther zu einer Unmöglichkeit mache, wozu Herr Thiers bemerkte, man müsse allerdings jeden weiteren Zusammenstoß zu vermeiden suchen; allein die Entfernung des Marschalls von dem Obercommando sei in diesem Augenblick unräthlich, und deshalb schlage er vor, dem Namen desselben einen populären beizugesellen, z. B. den des Generals Lamoricière.

„Vortrefflich!“ sagte der König. „Aber nur Sie, mein lieber Thiers, können dem Marschall diese Pille verschlucken machen.“ Und so sprechend, verschwand er für einen Moment in ein anstoßendes Zimmer.

Als er zurückkam, hob Barrot wieder an: „Sire, die Auflösung der Kammer –“

„Die Auflösung? Um keinen Preis! Niemals!“ Und mit großen Schritten ging der König in dem Cabinet auf und ab, um dann abermals in das anstoßende Gemach zu gleiten. Dies wiederholte sich noch einmal, als auch Herr Duvergier mit Bestimmtheit erklärt hatte: „Die Auflösung der Kammer ist unbedingt nöthig.“ Der König, durch die Seitenthüre hereintretend, sagte abermals mit äußerster Heftigkeit sein „Niemals! Niemals!“ her, was die liberalen Notabilitäten um so mehr reizte und erbitterte, als sie beim Oeffnen und Wiederöffnen der Thüre zum Nebengemach in diesem das wohlbekannte Gesicht des Herrn Guizot erblickt hatten. Der König suchte und befolgte also noch immer die Rathschläge seines abgedankten Ministers? Sollten die Führer der parlamentarischen Opposition demnach bloße Nothbehelfsmänner für den Augenblick sein?

Diese Frage und andere noch blieben einstweilen in der Schwebe, weil für nöthig befunden ward, vor Allem den Marschall die „Pille“ hinunterschlucken zu machen. Die liberalen Herren begaben sich zu diesem Ende nach dem Generalstabsquartier, woselbst nach kurzer Verhandlung mit Bugeaud ausgemacht wurde, daß Lamoricière das Commando der Nationalgarde übernehmen sollte, und ferner, daß der General und Herr Barrot sich in die Barrikadenquartiere begeben und die Wirksamkeit ihrer Namen und ihrer Beredsamkeit zur Beschwichtigung der Gemüther aufbieten sollten. Dann eilten die Herren Thiers, Remusat und Duvergier, begleitet von dem Herzog von Nemours, in die königlichen Gemächer zurück, um endlich von dem König die Bewilligung ihres Ministerprogramms zu erlangen, zu erpressen. Allein Louis Philipp blieb hartnäckig dabei, die Auflösung der Kammer zu verweigern. Die Scenen von vorhin erneuerten sich, und endlich ließ Louis Philipp Herrn Thiers und dessen Freunde rathlos stehen, indem er nach wiederholter heftiger Weigerung, in ihr Begehren zu willigen, in den Salon der Königin trat.

„Sie sehen, wir verlieren nur Zeit,“ sagte Thiers zu dem Herzog von Nemours. „Der König will die Auflösung nicht; wir sind also nicht Minister und können nichts thun.“

Worauf der Herzog, welcher überhaupt an diesem Schicksalstag vom Anfang bis zum Ende als ein verständiger und braver Mann sich erwiesen hat, sagte: „Sie haben Recht. Lassen Sie mich machen. Ich gehe zum König.“

Kaum war er weggegangen, als der vielberufene Journalist Emile de Girardin, einer der Hauptindustrieritter der Pariser Presse, ohne Umstände gelaufen kam und an Herrn Thiers die geflügelten Worte richtete: „Sie haben keinen Augenblick zu verlieren! Der Aufstand nähert sich den Tuilerien. Man muß auf der Stelle das neue Ministerium, die Auflösung der Kammer etc. proclamiren.“

„Ich weiß es; aber wir können nichts erlangen.“

Endlich, nach einer bangen Viertelstunde, kam der Herzog zurück. „Der König“ – meldete er – „willigt in die Auflösung der Kammer und bevollmächtigt seine neuen Minister, dies in einer Proklamation zu verkünden, aber unter ihrer eigenen Verantwortlichkeit und ohne daß sein Name darein gemischt wird.“ Was war nun das wieder für ein Schlupfloch des Königs Reineke? Aber der Augenblick drängte zu sehr, als daß man sich um diese Sophisterei hätte kümmern können oder wollen, und demnach ward eiligst folgende Proclamation verfaßt:

„Paris, 24. Februar, 10 Uhr Morgens. 

Bürger von Paris! Der Befehl, das Feuer überall einzustellen, ist gegeben. Wir sind vom Könige mit der Bildung eines neuen Ministeriums betraut. Die Kammer wird aufgelöst und an das Land appellirt. Der General Lamoricière ist zum Befehlshaber der Nationalgarde ernannt. Die Unterzeichneten sind Minister.

Thiers, Barrot, Lamoricière, Duvergier de Hauranne.
Freiheit, Ordnung und Reform!“

Zu spät!

Man hatte nicht einmal die Mittel, dieses Manifest rasch und massenhaft durch den Druck zu vervielfältigen. Es gab in den Tuilerien keine Presse und es ist ein Zehntel Wahrheit in der von Emile de Girardin bei dieser Gelegenheit ausgestoßenen Phrase gewesen: „Aus Mangel einer Druckerpresse geht die Monarchie zu Grunde!“




Und sie ging zu Grunde. Schon bröckelte unaufhaltsam Stein nach Stein aus dem mit dem schmutzigen Mörtel der Corruption gemauerten Gewölbe des Louis-Philippismus.

Die eifrigen Anstrengungen Barrot’s und Lamoricière’s, durch die Geltung ihrer Persönlichkeiten und die Nachdrucksamkeit ihrer Versicherungen im Sinn einer Reformpolitik die Revolution zum Haltmachen auf ihrer Vorschrittsbahn zu bewegen, erwiesen sich bald als fruchtlos ganz und gar. Zwar legte man den beiden Vermittlern, deren Ministerschaft nicht kürzer und nicht länger als eine Stunde währte, anfänglich kein Hinderniß in den Weg. Die Zugänge der Barrikaden öffneten sich vor ihnen und ließen sie hindurch; allein von einer dieser Verschanzungen zur andern steigerte sich die revolutionäre Stimmung. Die Blousen, welche, gar nicht spärlich mit Bärenmützen untermischt, die erste Barrikade besetzt hielten, riefen: „Nieder mit Bugeaud!“ Die Vertheidiger einer zweiten: „Nieder mit Guizot!“ Von der Brustwehr einer dritten scholl es schon: „Nieder mit Thiers!“ und von der einer vierten gar: „Nieder mit Louis Philipp!“ Noch zwar wurde kein „Vive la république!“ laut, aber wenn auf dem Boulevard des Italiens die constitutionelle Phraseologie Barrot’s noch ihre Wirkung that, so versagte diese weiterhin bei der Porte Saint-Denis

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 374. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_374.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)