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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

„Intriguen“ vorstellen zu können und die Welt mit diesem Maßstab zu messen.

Duvergier de Hauranne giebt auf die Frage der Königin Amalie keine Antwort und Herr Remusat eine ausweichende, zugleich den Herzögen von Nemours und von Montpenster mit den Augen winkend. Die Prinzen stehen auf und gehen mit den beiden Herren in einen anstoßenden Salon. Auch der König erhebt sich und folgt ihnen. Er trifft Herrn Thiers im Gespräch mit dem Schwadronschef Laubespin vom Generalstab. Dieser Officier enthüllt die ganze Wahrheit der Sachlage, von welcher er sich soeben mit eigenen Augen überzeugt hat. Das Volk bereits Meister des Stadthauses, wahrscheinlich bald auch Meister des Palais Royal und des Concordeplatzes. Unter solchen bedrohlichen Umständen darf man nicht zögern, das für die Sicherheit der königlichen Familie Nöthige vorzukehren. Dem König drängt sich mit einmal die ganze Furchtbarkeit der Gefahr auf. Es wird Befehl gegeben, die Wagen in Bereitschaft zu setzen. Aber da erscheint ein Adjutant Bedeau’s, welcher General melden läßt, daß er auf seinem Rückzug glücklich den Concordeplatz erreicht habe und daß dieser, sowie die Zugänge, von den Truppen in guter Ordnung besetzt gehalten würden. Sofort erscheint die Frage der Flucht nicht mehr als eine brennende. Herr Thiers jedoch bleibt unruhig und kann weder, noch will er seine Unruhe verbergen. „Was ist Ihre Meinung?“ fragt ihn Louis Philipp. Der kleine Nothhelfer, welcher gern ein großer werden möchte und es doch nicht dazu bringt, zieht seine Uhr und sagt gewichtig: „Binnen zwei Stunden werden wir sammt und sonders verschluckt sein (nous serous tous engloutis). Wenn ich Meister wäre – – – “

„Was würden Sie thun?“

„Das Wachsen der Bewegung seit heute früh macht alle Voraussicht zu Schanden. Mit den wenigen Streitkräften, die wir haben, können wir den Stier nicht bei den Hörnern fassen, ohne vernichtet zu werden. Wenn ich Meister wäre, würde ich mich nach Saint-Cloud zurückziehen, daselbst 50 bis 60.000 Mann Truppen um mich sammeln und nach drei Tagen an der Spitze dieser Streitmacht wieder in Paris einrücken ...“

Das Orakel hat gesprochen, aber leider war sein Spruch nur ein wohlfeiles Plagiat vom Jahre 1830. Hatte nicht vor siebzehn Jahren und sieben Monaten Karl X. sich auch in Saint-Cloud gegen die Revolution behaupten wollen und ebenfalls gehofft, binnen etlichen Tagen von dort wieder triumphirend in seine rebellische Hauptstadt einziehen zu können? Nichts Neues unter der Sonne! Die arme, sich heiser sprechende Lehrerin Geschichte lehrt nur, daß die Menschen zu allen Zeiten gleich thöricht und verstockt, gleich eitel, übermüthig und verzagt waren, sind und sein werden. „Sie können Recht haben,“ meint der König, begiebt sich in den Speisesaal zurück, bespricht sich mit seiner Frau und beschließt – nichts. Herr Thiers seinerseits eilt zum Marschall Bugeaud, welcher – soweit ist seine Siegeszuversicht herunter – den Plan seines Freundes sogleich billigt und ein Bataillon Truppen in den Tuileriengarten sendet, um den Abzug der königlichen Familie zu decken.

Im Speisesaale verblaßte jetzo – es war 11 Uhr – eine nackensteife und grandezzahafte Aja Etiquette mehr und mehr zu einem bloßen Schemen und bald zu gar Nichts. Denn siehe, das große Chaos draußen fand ein kleines, aber hinlänglich tumultuarisches Abbild im Innern des Palastes und der königlichen Gemächer. Da war in Gegenwart der Königsfamilie selbst ein immer harmloseres Kommen und Gehen, ein buntes Durcheinanderschwatzen, ein geräuschvolles Wirrsal von Botschaften und Rathschlägen. Jeder wollte auskramen, was er für weise hielt; zu helfen wußte Keiner. Bei der leidenschaftlich bewegten Königin fand der nicht so fast verwegene als vielmehr verrückte Rath, die Tuilerien zu einer bis auf den letzten Mann und auf die letzte Patrone zu vertheidigenden Festung des Julikönigthums zu machen, großen Anklang. „Sire,“ sagte sie zu ihrem Gemahl, „ziehen Sie Ihre Uniform an, steigen Sie zu Pferde, elektrisiren Sie durch Ihre Gegenwart und Ihre Worte die Truppen und die Nationalgarde und sterben Sie, so es sein muß, für Ihre Ehre und Ihren Thron!“

Der alte Mann, dessen Hartnäckigkeit binnen wenigen Stunden in Willenlosigkeit umgeschlagen war, that, wie ihm gesagt worden. Er zog seine gewohnte Generallieutenantsuniform der Nationalgarde an, ließ sich das große Band der Ehrenlegion überhängen und stieg unten zu Pferde, um die auf dem Carrouselplatze aufgestellten Streitkräfte zu „elektrisiren“. Die Mitte des Platzes hatten 4000 Mann Linie inne mit 16 Stücken Geschütz. An dem Gitter, welches den Raum von den Tuilerien trennt, war ein Bataillon Bürgerwehr von der 1. Legion aufmarschirt. Ein Bataillon von der 4. Legion und ein weiteres von der 10. standen, die Front gegen das Schloß gekehrt, auf der entgegengesetzten Seite in Schlachtordnung. Seine zwei Söhne, der Marschall Bugeaud, die Generale Lamoricière, Trezel, Rulhières, Delarue und verschiedene Adjutanten folgten zu Pferde, die Herren Thiers und Remusat zu Fuße dem König. Er ritt langsam vor und seine schlaffen, bekümmerten Züge waren weit mehr geeignet, das Mitleid anzusprechen, als irgend Jemand zu „elektrisiren“. Er traf zuerst auf das Bürgerwehrbataillon von der 1. Legion, welches ihn mit dem Ruf: „Vive la réforme!“ empfing. Louis Philipp, dessen Bewegungen seine Frau, seine Töchter und Schwiegertöchter oben an den offenen Fenstern des Palastes ängstlich verfolgten, näherte sich dem Commandanten des Bataillons und sagte demselben: „Sie können Ihren Leuten die Versicherung geben, daß sie die Reform haben werden. Ich würde dieselbe schon früher bewilligt haben, hätte ich gewußt, daß sie von der Nationalgarde so lebhaft gewünscht wird.“ Das Bataillon von der 10. Legion erhob denselben Reformruf und erhielt dieselbe Antwort. Als sich jedoch der König dem Bataillon von der 4. Legion näherte, ward ihm ein drohenderer Empfang. „Hoch die Reform und nieder die Minister!“

„Meine Freunde, Ihr sollt die Reform haben. Die Minister –“

Man ließ ihn nicht weitersprechen. Geschrei erstickte seine Stimme. Die Officiere der Bürgerwehr schwenkten ihre Degen, die Gemeinen ihre Gewehre, und beide vereinigten sich zu dem tumultuarischen und entschieden feindseligen Ruf: „Nieder mit dem System!“

Das Schwergewicht dieser Demonstration fiel erdrückend auf den Monarchen. Was, seine „Epiciers“ verließen ihn? Wie, der „Bourgeois“ machte gemeinsame Sache mit der Emeute? Das war ein gegen die Existenz des „Bürgerkönigthums“ gefälltes Verdict. Des alten Mannes Haupt sank auf seine Brust herab. Ohne auch nur einen Blick auf die Linientruppen zu werfen, ritt er zurück und beim Eingang zum Pavillon der Flora vom Pferde steigend, sagte er aufseufzend zu Herrn Thiers: „Ach, ich sehe es wohl! Es gilt mir! Alles ist zu Ende!“




Noch war es nicht, aber es ging zu Ende, rasch und immer rascher. Das Schlürfen des Schicksalsschrittes in den Tuilerien war jetzt zum Dröhnen geworden, und riesengroß richtete das Verhängniß vor den verzagend-fragenden Blicken sich auf. Auch war das, was jetzt im Schlosse sich abspielte, nicht mehr nur der schmerzliche Todeskampf eines Königs, sondern vielmehr schon der Todeskampf des Königthums selbst.

Denn die Republikaner, ermuthigt durch die glänzenden Fortschritte, welche der Aufstand während des Vormittags gemacht, hatten derweil die Entscheidungskarte ausgespielt und schüttelten die Würfel zum großen Wurf. Inmitten des tobenden Straßenkampfes verständigten sich die beiden republikanischen Fractionen, die Bourgeois-Demokraten vom „National“ und die Socialdemokraten von der „Reform“. Die Häuptlinge der Letzteren waren auf dem Redactionsbureau ihres Organs versammelt. Dorthin kam Martin (von Straßburg) als Bevollmächtigter der Leute vom National. Man wurde rasch einig, den mit Bestimmtheit zu erwartenden vollständigen Volkssieg entschlossen zu benutzen, die siegreiche Revolution nicht abermals, wie Anno 1830 geschehen war, sich escamotiren zu lassen, und sofort die Mitgliederliste einer provisorischen Regierung aufzusetzen.

Man that dies und kam auf folgende Namen überein: Dupont, Arago, Ledru-Rollin, Flocon, Marie, Marrast, Cremieux, Garnier-Pagès, Lamartine, Blanc. Der Letzgenannte, Louis Blanc, setzte, dem stürmischen Verlangen der Volksmassen nachgebend, welchen er die Liste vorlas, noch den Namen des Arbeiters Albert auf dieselbe und erlangte hierzu die Beistimmung der Bourgeois-Republikaner vom National. Dann wurde die Liste rasch gedruckt und in Menge in die Stadt ausgeworfen. Sie verbreitete

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 376. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_376.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)