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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

sich telegraphengeschwind von Barrikade zu Barrikade, von Fenster zu Fenster, von Straße zu Straße und wurde von den kampferhitzten Blousen überall begrüßt und angenommen mit dem Jubelruf: „A bas les Bourbons! Vive la république!“ … Dies die wirkliche und wahrhafte Genesis des Gedankens einer provisorischen Regierung und damit auch die Genesis der französischen Republik von 1848. Herr von Lamartine, welcher mit Herrn von Chateaubriand glücklich um die Palme der Eitelkeit streitet, hat nachmals in seinem historischen Roman, welchen er „Geschichte der Februarrevolution“ betitelte, sich selbst und Anderen einzureden gesucht, die Republik sei wie eine mit Zuckerwasserlyrik großgenährte Pallas Athene seinem Dichterschädel entsprungen. Eitelkeit der Eitelkeiten! Warum aber ist der Concurrent Chateaubriand’s auf die Liste der Mitglieder einer republikanischen Regierung gesetzt worden? Weil man auch einen „Bruder Redner“ haben mußte oder haben zu müssen glaubte …

Rächerin Nemesis trägt auf ihrer Stirn erhaben-strengen Ernst, aber um ihre Mundwinkel spielt ein ironisch-sarkastischer Zug. Der ist am 24. Februar von 1848 sehr deutlich hervorgetreten, und mit einem Lächeln der Geringschätzung hat die Göttin dem Bürgerkönig das Scepter aus der Hand genommen, um ihm das zerbrochene vor die Füße zu werfen. Die Thronbesteigung von Egalité’s Sohn im Jahre 1830 war ein Werk von Heuchelei und Arglist gewesen, und nun entsprach seinem damaligen Emporkommen ganz genau sein jetziger Fall; denn selten oder nie hat Einer das Königsspiel so würdelos verloren gegeben, wie hier geschah.

Nach der Zurückkunft von dem gänzlich mißlungenen Elektrisirungsritt lag Louis Philipp in mitleidswerther Erschöpfung seiner physischen und geistigen Kräfte in seinem Cabinet in einem Lehnsessel, gedankenbar auf die blätterlosen Bäume vor dem Fenster starrend. Seine zwei Söhne, sowie die Herren Thiers, Remusat und Duvergier waren bei ihm. Es herrschte ein peinliches Schweigen, das endlich durch die Ankunft des Herrn von Reims unterbrochen wurde, welcher Herrn Thiers hinausrufen ließ. Die große Neuigkeit, die der Letztere aus dem Munde seines Secretärs erfuhr, war, daß die unverweilte Abdankung des Königs das einzige Mittel sei, den Thron für die Dynastie Orleans zu erhalten. Thiers ließ die Prinzen in’s Vorzimmer rufen. Reims erzählte, was er wußte, und fügte hinzu: „Die Abdankung ist das einzige Mittel, die Monarchie zu retten, falls dies überhaupt noch möglich.“

Worauf der Herzog von Montpensier: „Aber seit gestern haben wir ein Zugeständniß nach dem andern gemacht, ohne damit Etwas zu erreichen. Kann man uns wenigstens die Wirksamkeit dieser äußersten Concession verbürgen?“

Keine Antwort.

„Was meinen Sie?“ fragen die Prinzen, sich an die Herren Thiers, Remusat und Duvergier wendend.

„Die Abdankung,“ giebt der Erstgenannte zur Antwort, „ist vielleicht eine letzte Rettungsplanke.“

„Man muß den König von der Sachlage unterrichten. Kommen Sie, meine Herren,“ sagte der Herzog von Nemours. Dann kehrte er, bevor er in das königliche Cabinet trat, gegen die ihm Nachfolgenden sich um und bemerkte mit ruhiger Fassung: „Die Abdankung des Königs macht die Einsetzung einer Regentschaft für meinen minderjährigen Neffen, den Grafen von Paris, nöthig. Es kann aber unter den obwaltenden Umständen wohl nur von einer Regentschaft meiner Schwägerin Helene, der Herzogin von Orleans, die Rede sein, nicht wahr?“ Edle Worte, dem Prinzen, welchem bekanntlich gesetzmäßig die Regentschaft zugestanden hätte, durch das Gefühl seiner Unpopularität eingegeben.

Beim Anblick des wie gänzlich aufgelöst in seinem Sessel liegenden Königs zögerten Alle, mit der Sprache herauszugehen. Endlich nahm Thiers das Wort und suchte mit Geschicklichkeit dem alten Manne die Nothwendigkeit der Abdankung begreiflich zu machen, ohne das herbe Wort zu nennen. Louis Philipp verstand den Redner, gab aber keine Antwort.

Nun der Herzog von Nemours: „Falls der König die Abdankung für nöthig hält, will ich sofort meinerseits auf die Regentschaft verzichten.“

Das Eis war gebrochen. Mit einer gewaltsamen Anstrengung sich zusammennehmend sagte Louis Philipp: „Glauben Sie, daß ich durch meine Abdankung meinem Enkel den Thron erhalten werde?“

„Das ist zweifelhaft, Sire.“

„Aber was rathen Sie mir?“

„Was in einem solchen Falle zu thun, hat der König nur mit sich selbst und mit seiner Familie auszumachen.“ …

Louis Philipp zog sich in sein Ankleidezimmer zurück und ließ die Mitglieder seiner Familie dahin rufen.

Während der Familienrath saß, kam der General Lamoricière, welcher nach der traurigen Musterung auf dem Carrouselplatz seine Bemühungen, eine Einstellung des Kampfes zuwegezubringen, wieder aufgenommen hatte. Nun brachte er die Nachricht, daß die siegreich vorschreitende Insurrection mindestens die Abdankung des Königs verlange und daß kein Augenblick zu verlieren sei, so man nicht riskiren wollte, daß ganz in der Nachbarschaft des Schlosses bei dem auf dem Platz des Palais Royal gelegenen sogenannten Château d’Eau, welches von Municipalgarden und Linieninfanterie besetzt war, ein Kampf entbrennen würde, welcher leicht das Signal zur Wiederholung des 10. August von 1792 geben könnte.

Derweil den Anwesenden diese Möglichkeit drohend vorschwebte, fand im Kreise der königlichen Familie eine Verhandlung statt, deren Einzelheiten bislang unbekannt geblieben sind. Mit großer Wahrscheinlichkeit darf jedoch behauptet werden, daß die Königin Etwas von ihrer eigenen Energie, welche mit größter Zähigkeit an den Besitz der Gewalt sich klammerte, ihrem Gemahl einzuflößen gewußt habe. Der König zeigte nämlich, als er, begleitet von seinem Sohne Nemours, heraustrat, mehr Fassung und Haltung als vorhin.

„Nun, General, was bringen Sie Neues?“

„Sire, ich bin Commandant der Nationalgarde, habe aber Nichts zu commandiren. Alle meine Bemühungen, auf Grund der zugestandenen Reformen die Insurrection zu beschwichtigen, sind vergeblich gewesen. Man begnügt sich nicht mehr damit, man verlangt … etwas Anderes.“

„Etwas Anderes? Monsieur de Lamoricière, das ist meine Abdankung, und da ich dieselbe nur mit meinem Leben geben werde, so wird man sie nicht haben!“

Worauf der Herzog von Nemours: „Wohlan, so marschiren wir!“

„Freilich, marschiren wir,“ erwiderte der General, „es fragt sich nur, womit?“

Das „Marschiren“ war nur ein eitles Wort mehr unter den vielen, welche die Rath- und Thatlosigkeit des Bürgerkönigthums an diesem Tage weniger maskirten als enthüllten. Noch eine kurze Weile, und es handelte sich nicht mehr darum, irgendwelchen Widerstand gegen die Emeute zu versuchen, sondern nur noch darum, dem Griffe der siegenden Revolution zu entfliehen. Schon zeigten die Tuilerien ein tumultuarisches Bild der Bestürzung, der Zerrüttung, der Anarchie. Thore und Thüren standen offen, Wachtposten und Thürhüter wehrten nicht dem Eintritt von Teilnehmenden oder Neugierigen. Generale, Officiere, Staats- und Palastbeamte, Deputirte, Journalisten, Bekannte und Unbekannte kamen und gingen nach Belieben, und wer da wollte und mochte, durchwandelte die Gemächer. Nur in der unmittelbaren Nachbarschaft der Zimmer, wo die königliche Familie sich aufhielt, waltete noch einiger Anstand und Respect. Bald jedoch schwemmte die steigende Fluth auch von hier die letzten Schranken weg, welche die Majestät des Throns um sich her gezogen, und nach diesen Schranken den Throninhaber und danach den Thron selbst.




Es ist nahezu Mittag. Louis Philipp, aus seiner augenblicklichen Aufwallung von vorhin wieder in seine Schlaffheit zurückgefallen, sitzt im Lehnstuhl am Fenster seines Cabinets, umgeben von den Herren Thiers, Remusat, Duvergier, Beaumont, Lasteyrie und Anderen. Der Herzog von Montpensier führt Herrn Cremieux ein, einen Deputirten von der Linken, welcher entfernt nicht weiß, daß er auf der republikanischen Liste einer provisorischen Regierung stehe. „Noch ist,“ sagt er, „Nichts oder wenigstens nicht Alles verloren. Das Volk wird mit der Wahlreform, der Kammerauflösung und einem aus der Linken genommenen Ministerium sich begnügen. Allein was die Gegenwart des Herrn Thiers im Ministerium angeht, sie flößt, ich bedaure es sagen zu müssen, dem Volke einen unbesieglichen Argwohn ein.“

Der kleine Nothhelfer, sicherlich insgeheim nicht wenig erfreut, aus einer kläglichen Situation bei Zeiten mit heiler Haut hinausschlüpfen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 377. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_377.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)