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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Die Steile Wand, der Kuppe gegenüber, lag noch tief unter ihm. Er sah weit über sie hinweg; er sah über alle Berge der Kette hinweg, in die endlose Ebene mit ihren Städten und Dörfern nach der einen, in Gebirge und Waldungen nach den andern Seiten. Aber die Mannigfaltigkeiten und Schönheiten der Natur waren für seinen Unmuth nicht da. Ihn beschäftigte etwas Anderes.

„Wo er bleiben mag! Er muß schon über eine Stunde fort sein. Die Sonne stand noch hoch, als er ging; jetzt wird sie schon bald untergehen. Er glaubte, in kurzer Zeit wieder da zu sein. Wenn ihm ein Unglück begegnet wäre, wenn er den Verfolgern in die Hände gefallen wäre! Teufel! Ich wäre mit ihm verloren. Mit dem verdammten Arme könnte ich mich nicht wehren. O, ich würde es dennoch. Lebend bringen sie mich in jene Löcher nicht zurück. Zuletzt bliebe das Grab da unten?“

Er lag an der abschüssigsten Stelle des Berges; fast so steil, wie die Steile Wand ihm gegenüber, senkte von dem Gemäuer ab die Seite der Kuppe sich hinunter, in den tiefen, dunkeln Abgrund, der den Felsen und die Kuppe von einander trennte. Der Mann mit dem verwundeten Arm brauchte auf der Stelle, an der er lag, sich nur herumzuwerfen, um in die bodenlose Tiefe hinunterzustürzen.

In den Abgrund richteten sich seine Blicke.

„Es wäre ein tiefes Grab – pah, ein desto stilleres, ruhigeres. Es wäre sogar ein romantisches, ein so recht schauerlich romantisches, wie die Romantik der Gräber sein muß. Aber würden sie mir das lassen? Würden sie die Ruhe, den Frieden da unten mir gönnen? Dem Hochverräther? Es wäre ja ein ehrliches Begräbniß da unten. Wie darf ein Mensch ehrlich begraben werden, der die Throne hat umstürzen wollen, wie sie sagen?“

Es stieg Jemand langsam den Berg hinauf. Als man oben auf der Spitze seinen Schritt hören konnte, klatschte er leise in die Hände, um dem Verwundeten zu melden, wer komme. Ein paar Minuten nachher war er oben. Es war ein starker, schöner, blasser Mann mit regelmäßigen, vornehmen Gesichtszügen. Sein Wesen zeigte einen tiefen, melancholischen Ernst, gepaart zugleich mit Klarheit und Besonnenheit und mit einer ruhigen und um so festeren Entschlossenheit. Er war gekleidet wie ein wohlhabender Landmann. Einen ähnlichen Anzug hielt er über den Arm geschlagen. Seine Hände trugen Lebensmittel.

„Stärke Dich zuerst, Golzenbach,“ sagte er zu dem Verwundeten. „Dann kleide ich Dich um.“

„Wo warst Du so lange, Wartenburg?“ fragte ihn der Graf Golzenbach.

„Ich traf nicht sofort die Leute, denen ich mich zeigen durfte.“

„Und Du hast Alles?“

„Wie Du siehst.“

„Auch Waffen?“

„Zwei Pistolen; mehr hatten sie, um nicht Aufsehen zu erregen, nicht anschaffen können.“

„Gieb mir eine von ihnen, Wartenburg. Man kann nicht wissen, was kommt, und ich möchte mein Leben vertheidigen, so lange ich mich rühren kann, mit dem gesunden, wie mit dem gebrochenen Arme. Ist das Ding geladen?“

„Mit einer Kugel.“

Herr von Wartenburg hatte zwei Pistolen hervorgezogen. Er übergab eines davon dem Grafen Golzenbach; das andere behielt er für sich.

„Waren schon Verfolger dagewesen?* fragte der Graf.

„Drei Gensd’armen mit einem Officier sprengten vorbei. Ich sah sie selbst.“

„Teufel, wenn die eine Ahnung davon gehabt hätten, daß ich hier oben war.“

„Sie hatten sie eben nicht.“

„Wartenburg, weißt Du, wer sonst noch hier ist? Gerade jetzt?“

„Wer wäre es?“

„Jener Elende! Unser Verfolger, unser Mörder! Der Staatsanwalt von Rachenberg! Hat je ein Mensch mit mehr Recht einen häßlichen Namen getragen?“

Herr von Wartenburg hatte die Nachricht schweigend aufgenommen.

„Wie, Wartenburg, Du geräthst nicht in Wuth?“

„Und warum?“

„Ueber die Nähe dieses Menschen, der so viel Unheil über uns gebracht hat!“

„Er that seine Schuldigkeit, Golzenbach. Er erfüllte die Pflicht seines Amtes, eine harte zwar –“

Der Verwundete fuhr auf, daß sein kranker Arm ihn schmerzte.

„Pflicht? Schuldigkeit? So nennst Du den Haß, die Rache, die Verfolgungswuth dieses Menschen?“

„Laß uns davon schweigen, Freund,“ sagte Herr von Wartenburg. „Wir sind parteiisch gegen ihn.“

„War er es nicht gegen uns?“

„Er mußte es sein; sein Amt verlangte es so. Und von seinem Amte verlangte es die Ruhe und Ordnung des Staates. Er mußte uns verfolgen, und wir dürfen somit kein Urtheil über ihn fällen. Auch nicht, wenn er in seinem Eifer weiter gegangen ist, als er hätte gehen sollen. Wo hätten wir stehen bleiben können, wenn wir seine Ankläger gewesen wären?“

Der Verwundete fuhr nicht wieder auf.

„Du magst Recht haben, Freund Wartenburg,“ sagte er.

„Ich weiß es nicht. Du bist ein ruhiger, verständiger Mensch. Ich bin es nicht; ich kann, ich will es nicht sein. Ich weiß nur Eins: hätte ich den Burschen in diesem Augenblicke hier – Du hast mir die Waffe da gegeben – in dem Momente, da ich ihn sähe, säß’ ihm die Kugel in der Brust.“

„Du wolltest zum Mörder an ihm werden, Golzenbach?“

„Ist er nicht mein Mörder? Der Deine? Der Verderber so vieler edler Freunde?“

„Laß uns von etwas Anderem sprechen, Golzenbach.“

„Und Du willst nicht einmal erfahren, wo und wie ich ihn gesehen habe?“

„Ich weiß es.“

„Auch Du sahest ihn?“

„Nein, aber –“

„Aber?“

„Ich sah und sprach seine Frau.“

Herr von Wartenburg sprach die Worte mit leiser, fast zitternder Stimme. Graf Golzenbach mußte ihn still ansehen. Der Trotz, die wilde Leidenschaft wichen aus seinem Gesichte. Man las darin Bewunderung für den Mann, mit dem er sprach.

„Reiche mir Deine Hand, Wartenburg,“ sagte er dann, und er drückte herzlich die Hand des Freundes. „Du bist eine edle Seele. Ich wollte, ich könnte es auch sein. Aber erzähle mir von der armen Frau. Vielleicht bessert es mich doch. Wo fandest Du sie? Was sprachst Du mit ihr?“

„Nachher, mein Freund,“ sagte Herr von Wartenburg, dem ein tiefer Schmerz die Brust zerwühlte. „Nur so viel laß mich jetzt Dir sagen: sie ist ein unglückliches Weib; nie sah ich ein unglücklicheres.“

„Und sie wäre mit Dir so glücklich geworden,“ rief der Graf, „und Du mit ihr! Und – o, könnte ich doch dem Elenden den Hirnschädel zerschmettern!“

Und plötzlich fuhr der Verwundete noch einmal auf.

„Da ist er! Sieh, sieh! Und mit ihr!“

Sein Blick war nach der steilen Felsenwand auf der anderen Seite der Schlucht gefallen. Er starrte dorthin. Er konnte das Auge nicht abwenden. Das Auge glühte Haß, Rache, Zorn, Wuth. Er griff krampfhaft nach der Waffe, die er neben sich gelegt hatte.

Auch Herr von Wartenburg hatte hinsehen müssen. Er war überrascht worden. Dann stand er, wie von Angst, wie von tödtlichem Entsetzen ergriffen. An der Steilen Wand waren ein Herr und eine Dame erschienen. Die Flüchtlinge erkannten sie. Sie glaubten, trotz der Entfernung, die Züge der beiden blassen Gesichter zu unterscheiden, die finsteren des einen, die schmerzlichen des anderen. Und die Beiden standen so nahe an dem dunklen, bodenlosen Abgrunde; dicht neben einander, der Mann an der Seite der Frau, die Frau an dem Manne. Eine Bewegung des Einen, eine gegenseitige Berührung konnte den Anderen in die Tiefe stürzen; in der Tiefe war der sichere Tod. Herrn von Wartenburg hatte Entsetzen ergriffen. Selbst den Grafen Golzenbach schien ein Schauder zu durchziehen.

„Er ermordet sie!“ rief er. „Er stürzt sie in den Abgrund.“

„Bist Du wahnsinnig, Mensch?“

„Du denkst es selbst, Wartenburg. Du hast sie vorhin gesprochen, sagst Du?“

„Ich sprach sie.“

„Und er hat es erfahren?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 402. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_402.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)