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sich zuweilen widersprechenden Urkunden geschöpft habe und daß die erzählten Ereignisse sich häufig als mythische Abbilder späterer Verhältnisse erkennen lassen. Wislicenus hat nicht blos die Ergebnisse, sondern auch die Beweise der wissenschaftlichen Theologie selbst in seinem Bibelwerk für denkende Leser gegeben, während die orthodoxen Theologen ihre eigenen gelehrten Forschungen dem Volke absichtlich vorenthalten. Sie verschmähen die erforschte Wahrheit zu popularisiren, um ihr System von einer unmittelbaren Offenbarung, von der Gefangennahme der Vernunft zu stützen und die Unfreiheit zu erhalten.

Den Forschungen über Echtheit, Composition und Quellen der mosaischen Schriften, welche die erleuchtetsten Theologen aller Nationen seit dem zwölften Jahrhundert angebahnt, schließen sich seit dem letzten Jahrhundert die Betrachtungen über die Mythen und Sagen der Bibel an. Wie bei den Griechen und Römern die poetischen mythologischen Kreise, die fabelhaften Geschlechts- und Stammesfolgen die Anfänge der historischen Kunst bildeten, ebenso sind die Mythen und Sagen, die fabulosen Geschlechtsregister und die Namendeutungen des Fünfbuches die Uranfänge der biblischen Geschichte. Bei einer rationellen Ueberschau des Pentateuchs stellt sich nämlich als Ziel und Absicht des Verfassers heraus, die Pflanzung des Gottesvolks, die Gründung seiner Theokratie und seiner Verfassung zu schildern. Aber als Prolog dazu wird die Vorgeschichte oder die Herkunft des jüdischen Volkes von den Erzvätern und als Einleitung dazu die Urgeschichte der Menschheit erzählt. Das erste Buch Mose’s behandelt die Urgeschichte und die israelitische Vorgeschichte; jene wird in sinniger Mythe, diese in poetischer Sage von dem sehr späten Redacteur erzählt. Aber nach den Ergebnissen der Kritik haben der Redaction zwei Urkunden zu Grunde gelegen, die nach Plan und Charakter bei Behandlung desselben Stoffes eine bedeutende Verschiedenheit zeigten und welche der letzte Ordner nicht zu verschmelzen vermochte. Die eine älteste Urkunde, in welcher der Gottesname nur in der polytheistischen, nicht exclusiv jüdischen Mehrheitsform Elohim vorkommt, wird die elohistische Urschrift genannt, die andere spätere, welche das elohistische Werk ergänzt, nach vielen andern schriftlichen Sagenquellen bereichert und nur die jüdischnationale Bezeichnung des Gottesnamens durch Jehova hat, nennt man die jehovistische Urkunde. Der Elohist erzählt schlicht, liebt die Einfachheit und Natürlichkeit, stellt Gott in seiner Erhabenheit dar und läßt ihn nicht in menschlicher Weise handeln. Von einem sinnig reflectirenden Geistesspiel, von einem Bedürfniß, Ursachen und Zusammenhang im Erzählten nachzuweisen, findet sich bei ihm keine Spur. Er läßt die Schöpfung in sechs Tagen vollenden, und sein Gott feiert den Sabbath, wie der Ormuzd des Zendvolkes den seinen. Auch die Sprache und Schreibweise des Elohisten ist eigenthümlich.

Ganz anders erzählt seine Mythen und Sagen der in Palästina schreibende Jehovist. In Einzelheiten ergänzt er die Schöpfungsmythe des Elohisten und sucht Ursache und Zusammenhang nachzuweisen. In sinnig reflectirender Weise giebt er den Mythen und Sagen des östlichen Asiens eine religiös-nationale Färbung. Die Mythen vom Paradiese und dem goldenen Zeitalter, von dem Wunderbaume der Unsterblichkeit und dem der sittlichen Erkenntniß, von dem Eintritt des Uebels in das Erdenleben, von dem Ende des goldenen Zeitalters und so noch der ganze Verlauf der Urgeschichte zeigen eine vollständige Kenntniß der asiatischen Mythen, die er in eigener Färbung wiedergegeben.

Die scharfsinnige Ermittelung der zu Grunde liegenden zwei Hauptquellen für die Bücher Mose’s und den Nachweis, wie die zwei Urkunden vom letzten Verfasser bald in-, bald hintereinander geschoben, bald eingeschaltet, bald zusammengewoben wurden, verdankt die Bibelforschung dem berühmten französischen Arzt Astruc. Seit einem Jahrhunderte haben aufgeklärte Theologen Deutschlands (Michaelis, Eichhorn, Hartmann, Röhr, Gesenius, Ewald u. A.) die Astruc’sche Forschung in gelehrten Werken weiter ausgebildet und dadurch die Bibel dem Urtheile denkender Leser näher gebracht.

Wislicenus hat die strengwissenschaftliche Kritik popularisirt und nachgewiesen, wie verschiedene Ueberschriften, Schlußformeln, verschiedene Nachrichten über dieselben Begebenheiten nur durch den schwankenden, unvermittelten Gebrauch der zwei Urschriften entstanden sind. Er zeigt, wie der spätere Zusammenordner nach Gutdünken und aus der überlieferten Sage Zusätze gemacht, Lücken ausgefüllt, Veränderungen sich erlaubt hat, und daher die Bibel als Glied in der menschlichen Geistesentwickelung, aber nicht als eine Offenbarung in streng-kirchlichem Sinne aufzufassen ist. Und indem er so bald elohistische und jehovistische Stücke scheidet, bald die Ansichten des spät vollendeten Fünfbuchs mit denen der zum Theil weit früher geschriebenen prophetischen Bücher vergleicht, bald andere Wissenschaften zu Rathe zieht, namentlich aber, durchdrungen von den Gesetzen der Naturwissenschaft, alle Wunder entschieden verwirft und die Tendenz der betreffenden Dichtungen wiederum aus andern Bibelstellen nachzuweisen versucht, legt er dem Leser eine Reihe überraschender Entdeckungen vor. Nicht nur die Erzväter, auch Mose, Aaron und Josua, deren Namen er sinnreich zu erklären weiß, sind ihm mythische Personen; das ganze Leben der Israeliten in Aegypten, ihr Zug durch die Wüste, die Gesetzgebung am Sinai, die Errichtung eines Priesterstammes mit Bundeslade und Stiftshütte, ja die frühzeitige Verehrung Jehova’s überhaupt sind ihm eben so viele, zum Theil nach späteren Verhältnissen geformte Dichtungen. Die historische Zeit des israelitischen Volkes beginnt ihm erst mit dem Buche der Richter, obwohl er auch dieses und mehrere folgende Bücher, nicht nur ihrer Wunder, sondern auch ihrer innern Widersprüche wegen, noch stark mit Sagen versetzt findet und z. B. Elia und Elisa für künstlich gebildete Personen hält.

Wie er im Alten Testamente fortwährend betont, daß die prophetischen Schriften älter als die meisten historischen seien und daß auch unter diesen die sogenannten mosaischen keineswegs als die ältesten angesehen werden dürfen: so stützt er auch seine Forschungen im Neuen Testamente vorzugsweise auf den Umstand, daß die apostolischen Briefe, besonders die des Paulus, wirklich ein Bild ihrer Zeit abgeben, während Evangelien und Apostelgeschichte, wenn auch im Einzelnen älteren Quellen entstammend, erst gegen Ende des zweiten Jahrhunderts vollendet worden sind und allenthalben bald judenchristliche, bald heidenchristliche Färbung, bald das Streben, den damals tiefgreifenden Gegensatz zwischen beiden Richtungen zu versöhnen, erkennen lassen. Hiernach versucht er denn in den Aussprüchen Jesu Echtes und Unechtes zu scheiden, weist die Wunder Jesu und der Apostel als fromme Mythen nach, deckt die unvereinbaren Widersprüche in den Berichten über die Auferstehung Jesu auf und hält letztere nur für die Frucht einer lebhaften Einbildungskraft der Jünger, während die nicht einmal in allen Evangelien erwähnte Himmelfahrt ihm selbstverständlich wegfällt. Ebenso sieht er in dem Pfingstwunder und der gesammten Thätigkeit, welche die Apostel kurz nach Jesu Hingange in Jerusalem entwickelt haben sollen, spätere Sagen und neigt sich der Ansicht zu, daß die erschrockenen Jünger erst geraume Zeit nach dem Tode des Meisters sich wieder gesammelt und sein Werk fortzusetzen gesucht. Namentlich aber steht ihm Paulus und das in Syrien beginnende Heidenchristenthum unabhängig von Einflüssen aus Jerusalem da, und auch in den weiteren Schicksalen des großen Heidenapostels weiß er den Hauptreisebericht, den er dem Timotheus zuzuschreiben geneigt ist, von späteren zu gewissen Zwecken gefertigten Einschiebseln sorgfältig zu scheiden. Durchgängig aber läßt er dem Leser statt der seit langen Jahrhunderten hergebrachten Anschauungen über die biblische Geschichte eine Ahnung der Wirklichkeit aufgehen, wodurch denn auch auf spätere Zeiten, ja auf die positive Religion der Gegenwart und den Gebrauch, den man von ihr macht, ein bedeutsames Licht geworfen wird. – Wir haben im Vorstehenden lediglich in kurzer Zusammenfassung referirt, was Wislicenus mit seiner Schrift anstrebt. Ueber die Bedeutung des Werkes als That der Wissenschaft steht uns ein Urtheil nicht zu; wir müssen dies vielmehr den Männern der Wissenschaft anheimgeben. Wenn aber gedankenloser Glaube dem Dämmerlichte gleicht, das schwachen Augen wohlthun mag, so ist das Wissen sonnige Tageshelle, die gesunde Menschen erquickt. Wenn der Glaube selig macht, wie das orthodoxe Dogma lehrt, so geben gute Werke, aus der Erkenntniß der Wahrheit entsprossen, Freiheit und Macht, Selbstvertrauen und Freude.



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