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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

der Länge von sechs und der Breite von drei Schritt, welche, zu beiden Seiten des Gebäudes belegen, durch einen zwischen ihnen durchlaufenden Gang getrennt sind. Jede Zelle war das Gefängniß eines Knaben, in welchem er sich außer den Freistunden, die er, ebenfalls allein, in einem von den Höfen, welche die Flügel des Gebäudes von einander scheiden, zubringen durfte, Tag und Nacht aufhielt. In diesem traurigen, einsamen Gefängnisse arbeitete, las, schrieb, lernte, aß, trank und schlief er, zu fortwährendem Schweigen verurtheilt. Die einzige Unterbrechung, welche in diesem raffinirten System des Schweigens und der Einsamkeit täglich eintritt, besteht in den Unterrichtsstunden, welche ihm von seinem Lehrer, ebenfalls in der Isolirzelle, ertheilt werden, oder in den wenigen Worten, welche der Wärter mit ihm wechselt, der ihm das Frühstück oder das Mittagsessen bringt. Für den Knaben, welcher ein Handwerk im Gefängnisse erlernt, tritt in dieser schweigenden, einsamen Existenz noch die Abwechselung hinzu, welche die Erlernung oder der Betrieb des Handwerkes nothwendig macht. Der Leser sieht, es war das Zellensystem in seiner schärfsten Anwendung. Sogar die Abwechselung und die Unterbrechung, welche ein gemeinsamer Schulunterricht mit sich bringt, fehlt in diesem entsetzlichen Gefängnisse, in diesem steinernen Grabe voller Einsamkeit und Schweigen.

Das Zellengefängniß für junge Verbrecher soll als Besserungs- und als Durchgangshaus für andere Gefängnisse oder für die Freilassung dienen. In seiner jetzigen Gestalt würde es seinen Zweck nicht einmal erfüllen können, wenn seine Bewohner erwachsene Leute wären. Es handelt sich nicht allein darum, die moralische Ansteckung unter den Gefangenen zu verhindern, sondern auch durch Zuspruch, Unterricht, Thätigkeit und liebevolle Behandlung ihre Seele wieder aufzurichten und sie aus dem Sumpf moralischer Verkommenheit zu einem anderen Leben emporzuheben. Der erste Zweck wird allerdings hier erreicht. Ein Kind kann Jahre lang in seiner Zelle zubringen, ohne das Kind, welches sich in der benachbarten Zelle befindet, jemals zu erblicken, geschweige denn mit ihm ein Wort zu wechseln. Selbst in den Spiel- und in den Unterrichtsstunden ist hier keine Annäherung möglich, weil auch diese Stunden nicht gemeinschaftlich, sondern einsam zugebracht werden. Ich sah aus dem Fenster eines Ganges auf den Hof. Er bildete eine Sandfläche ohne allen Blumen- oder Blätterschmuck. Die grauen Mauern auf dem grauen Sande gaben ein entsetzlich eintöniges Bild, in welches einzig und allein die Sonnenstrahlen und die langen Mauerschatten etwas Abwechselung brachten. Auf der grauen Sandfläche spielte ein zehnjähriges Kind einsam und allein mit dem Reifen, den es mittelst eines Stockes im Kreise umherjagte. Der sich drehende Reif und das laufende Kind bildeten das einzige sich bewegende Element in dieser wüsten Oede. Dann schien das Kind vom Laufen ermüdet, Reif und Stock lagen im Sande, das Kind lehnte sich an die Mauer, sein Auge blickte im Hofe umher und suchte vergebens eine Beschäftigung, welche es nirgends fand. Traurig schlich es dahin, um nach einiger Zeit den Reif wieder aufzunehmen und sein monotones Spiel von Neuem zu beginnen: Muß, in dieser Weise zugebracht, die Spielstunde nicht zu einer Stunde der Qual und der Langeweile werden? Die Einsamkeit des Erwachsenen beleben die Bilder der Erinnerung aus dem vergangenen Leben; die Einsamkeit des Kindes wird zur geistlosen Träumerei, welche die Kraft der Seele abstumpft und ihre geistigen Schwingen lähmt. Schließlich verliert das Kind die Lust sich zu bewegen, da es nicht weiß, worauf es die Bewegung richten soll, und so geht selbst der Nutzen, den die körperliche Bewegung für die Glieder haben könnte, verloren. Das gesellige Zusammensein ist aber ein für das geistige Leben des Kindes durchaus nothwendiges Element. Die Kinder, welche ich entweder mit einer Handarbeit oder mit Schreiben und Lesen beschäftigt in den Zellen sah, schienen alle geistige Frische eingebüßt zu haben. Theilnahmlos und gleichgültig antworteten sie auf meine Fragen. Auch ihre Gesichtsfarbe entbehrte der körperlichen Frische der Jugend. Wie vermag die Seele sittlich, groß, rein und edel zu werden in dieser düstern Einsamkeit, und ist das Gesicht nicht der Spiegel der Seele? Unbegreiflich, daß sich die Gedanken eines Menschen, der die Seele eines Mitmenschen bessern und sittlich veredeln will, zu einer solchen Behandlungsweise moralisch verderbter Kinder verirren können. Nur der Geist eines „Bruders aus dem Rauhen Hause“ kann auf derartige Abwege gerathen, oder das Gemüth eines Kerkermeisters, welches in seinem langjährigen Beruf hart und empfindungslos geworden ist, wie der Stein seiner Gefängnißmauern. Nochmals klopfte ich bei dem Herzen meines Begleiters an. Es gab keine Antwort. Der Mann fand alle Einrichtungen seines entsetzlichen Gefängnisses vortrefflich, wie er die zellenartige Einrichtung des Besuchthurmes vortrefflich gefunden hatte. Mit einem Gefühle innerer Zufriedenheit beschrieb er mir den Einschachtelungsplan des Unterrichts und der Behandlungsweise der Kinder in seinem Gefängnisse, wie die einzelnen Gänge in verschiedene Abtheilungen gesondert und jede Abtheilung ihren besondern Lehrer und ihre besondern Aufseher habe, wie selbst die Erholungsstunden der Knaben so künstlich vertheilt und in die Zeit des Tages eingeschachtelt seien, daß niemals ein Knabe mit dem andern in den Spazierstunden und Spielstunden zusammentreffen könne.

Allen meinen Einwendungen begegnete er mit der stereotypen Redeweise, daß diese Härte und Abgeschlossenheit in der Behandlung für so verdorbene und verbrecherische Jungen gerade am Platze seien, um den störrischen Sinn zu beugen und auf andere Wege zu bringen. Ich ließ mir noch einige Zellen öffnen. Ueberall derselbe in gleicher Weise ausgestattete Raum, ein Tisch, ein Stuhl, das Waschgeschirr, Bücher, Schreibmaterial, Handwerksgeräth, die Matratze an der Wand hinaufgeschlagen, die vergitterten Fenster in der obern Hälfte der Wände, dieselben freudelosen und gleichgültigen Gesichter von Knaben in allen Altersclassen. Traurig über Alles, was ich gesehen, verlangte ich zu dem Greffier zurückgeführt zu werden, um meine Vollmacht zur Besichtigung der Pariser Gefängnisse wieder in Empfang zu nehmen.

„Nun, wie hat es Ihnen bei uns gefallen?“ fragte mich der Greffier, als ich wieder in seinem Zimmer stand und er mir das Papier, mit seiner Unterschrift versehen, zurückgab, „sind Sie zufrieden?“

„Zufrieden?“ wiederholte ich entrüstet, „ist das Scherz oder Ernst? wie kann ich mit einem solchem System zufrieden sein? Ich finde das Behandlungssystem in Ihrem Gefängniß miserabel und für die Zwecke, welche Sie erreichen wollen, vollständig unpraktisch.“

Da fuhr der Mann von seinem Stuhl auf. „Miserabel und vollständig unpraktisch?“ rief er. „Da haben Sie Recht, ich bin vollständig mit Ihnen einverstanden. Das System ist gar nicht zu verantworten.“

„Aber weshalb ändern Sie es denn nicht?“ fragte ich ganz erstaunt über diese Antwort.

„Das will ich Ihnen sagen,“ rief der Greffier mit echt französischer Lebhaftigkeit. „Es war vor uns, vor der jetzigen Direktion, ein Director hier, ein harter, unpraktischer Mann, dem die Theorie der amerikanischen Systeme zu Kopfe gestiegen war; dieser Mann hat die Einrichtungen, welche Sie leider noch heute vorgefunden haben, sämmtlich eingeführt. Wir geben uns jetzt alle mögliche Mühe, die uns vorgesetzten Behörden von der Nothwendigkeit der Abschaffung des jetzigen Systems zu überzeugen. Man hat im Ministerium wohl noch keine Zeit gehabt, sich darum zu bekümmern. Aber es soll und wird ein Ende haben, seien Sie dessen versichert. Verdüstert im Gemüth, mit hartem Herzen, zuweilen geschwächt an Geist und Körper verlassen die Knaben das Gefängniß. Man findet auch kein zweites Gefängniß in Paris wie das unsrige. Aber es wird und soll damit ein Ende haben.“

Herzlich drückte ich dem wackern Manne die Hand, als ich ihn verließ. Möchten seine Worte von allen jenen Zuchthausverwaltern gehört und beherzigt werden, welche in deutschen Strafhäufern längst abgethane Theorieen amerikanischer Isolirsysteme mit zäher Consequenz zur Geltung zu bringen suchen! Aber ich fürchte, mein Wunsch wird sobald noch nicht in Erfüllung gehen.

R. 
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 473. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_473.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)