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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

durch einander brausten und Hunderte von Armen in Bewegung waren, wird’s nun grabesstill, höchstens, daß Einer oder der Andere, der unverrichteter Sache abziehen muß, seinem Grimm in halblauten „Dams!“ Luft macht. –

Vor den Briefschaltern der andern Seite ist’s mittlerweile zwar weniger tumultuarisch, doch immerhin laut und lebhaft genug hergegangen. Unaufhörlich sind Briefe jeder Größe und Farbe eingeströmt, Briefe von Freunden und Schreiben von Advocaten; kindliche Gelöbnisse und ernste elterliche Ermahnungen; Briefe mit dem ersten zagen Liebeswerben schüchterner Jünglinge und Briefe mit dem aus allen Himmeln reißenden kurzen „Nein“ schnippischer Fräulein; Briefe, welche die lang erhoffte Anstellung verkünden, und „kleine Noten“, die auf sofortige Abmachung dringen; rosafarbige Billets, die vom glücklich geschlossenen Bunde für’s Leben jubeln, und schwarzgeränderte Couverts, welche von Tod und Grab und Harm erzählen; dickleibige Geschäftsbriefe und parfümirte Höflichkeitsepisteln, und so fort péle-méle durcheinander in unerschöpflicher Fülle und Mannigfaltigkeit. Doch auch hier ist die Fluth plötzlich gestaut worden, sobald die Uhr zum letzten Schlage aushob, auch hier geht Mancher und Manche mit einem ärgerlichen „zu spät!“ auf dem Gesichte heim.

Wir selbst bleiben noch einen Augenblick vor ein paar Tafeln stehen, die unweit des Eingangs in Rahmen aufgestellt sind. Diese Tafeln sind eine höchst wohlthätige Einrichtung des Londoner Postamts, die uns, als namentlich dem Fremden zu gute kommend, persönlich schon etliche Male zu Danke verpflichtet hat. Sie enthalten nämlich unter genauer Namensangabe der Adressaten und Bezeichnung des Ortes, den der Poststempel ausweist, eine Liste der in der letzten Zeit eingegangenen Briefe, welche wegen irgendwie unzulänglicher Wohnungsbezeichnung nicht haben bestellt werden können. Hinter jedem der aufgeführten Briefe ist ein leerer Raum gelassen, damit der Empfänger seine richtige Adresse beisetzen und so mit einer der nächsten Briefvertheilung das ihm bestimmte Schreiben sich zugänglich machen kann. In der Regel stehen diese Verzeichnisse mehrere Wochen aus, und so oft uns der Weg nach St. Martin’s-le-Grand führte, jedesmal fanden wir die Tafeln von Leuten umringt, die sie eifrig studirten. Mit welcher Erwartung überlasen sie Namen nach Namen, und welche Freude leuchtete auf in ihrem Auge, wenn sie endlich die Ankunft der vielleicht lange schmerzlich entbehrten Kunde aus der Heimath vermerkt sahen! Wie schrieben sie zitternd vor Erregung ihre Adresse dahinter – aber wie trostlos schlichen sie davon, war aber- und abermals ihr Weg vergeblich gewesen! –

Der Zugang zu den inneren Räumen des Postgebäudes ist dem Publicum streng untersagt; wir sind indeß heute Bevorzugte, wir besitzen eine Zauberruthe, die uns sämmtliche der verschiedenen Geschäftslocalitäten öffnet, von denen wir wenigstens einige rasch durchlaufen wollen. Durch lange von Gasflammen tageshell erleuchtete Corridore schreitend, kommen wir in hohe geräumige Säle, in denen Hunderte von menschlichen Wesen emsig schaffen, um ungeheuere Stöße von Briefen und noch riesigere Haufen von Zeitungen zu sortiren und zu stempeln. Uns schwindelt bei dem Wirrsal, das wir um uns erblicken; es scheint heillos zu sein, doch mit fabelhafter Geschwindigkeit bringen die geübten Hände Ordnung in die Confusion. Im Zeitungssaale ist bereits ziemlich aufgeräumt, die umherverstreuten Blätter sind in große Körbe zusammengeharkt worden und mächtige dampfgetriebene Flaschenzüge befördern die sortirten Pakete nach den Räumen hinab oder hinauf, wo die weiteren Proceduren ihrer harren. In der Hitze des Sturmes entgleitet natürlich eine erkleckliche Anzahl von Zeitungen den um sie gelegten Papierstreifen, welche die Adressen enthalten, und darum sind Abend für Abend mehrere Beamte ausschließlich damit beschäftigt, die losen Blätter wieder in ihre Hüllen zu schieben, wobei, trotz aller Sorgfalt, zeitweilen kleine Verwechselungen nicht ausbleiben und dies oder jenes urfortschrittliche Journal an einen stockconservativen Tory geräth, während umgekehrt hin und wieder der liberale Manchestermann statt seines gewöhnten Parteiblattes etwa den hochjunkerlichen „Morning Herald“ auf seinem Frühstückstische finden muß. Wo im Jahre 73 Millionen Zeitschriften und 14 Millionen Bücherpakete durch die Post befördert werden, sind wohl derlei gelegentliche kleine Quidproquos entschuldbar.

Begeben wir uns in die Briefsäle hinüber, so haben wir das gleiche rastlose Rühren einer Legion von Postbeamten zu bewundern. Schon liegen die Briefe sämmtlich mit Adresse und Postmarke nach oben gekehrt, und das Stempeln nimmt seinen Anfang, nicht mit der Hand, sondern mittels einer sinnreich erdachten Maschinerie bewerkstelligt. Zu gleicher Zeit werden alle nicht verschlossenen Briefe bei Seite gelegt und in ein anderes Local geschafft, wo das Postamt nachholt, was das nachlässige Publicum zu thun versäumt hat. Daß auch der wohl überlegende praktische Engländer dann und wann recht ungeschäftsmäßig leichtsinnig sein kann, beweisen die nahe an 300 Briefe, die allabendlich ohne jedweden Verschluß dem Generalpostamte überbracht werden.

Eine wahre Lust ist’s, dem Sortiren dieser chaotischen Menge von Briefen zuzusehen; die Schnelligkeit, mit welcher die gesammte Correspondenzmasse zuerst nach den großen Hauptrouten, die England durchschneiden, alsdann weiter in engere und engste Gruppen gesondert wird, macht uns staunen. Von Zeit zu Zeit pausirt einer und der andere der Sortirer in seinem Werke, um einen Brief genauer zu befühlen und darauf rasch in ein besonderes Fach zu werfen. Er hat in dem also beseitigten Briefe klingendes Geld entdeckt, von welchem die Adresse nichts besagte. Anstatt nun, wie es bei uns geschehen würde – wo mit bureaukratischer Engherzigkeit aus den Buchstaben des Gesetzes größerer Werth gelegt zu werden pflegt, als auf die Interessen des Publicums – die solchergestalt illegitim beschwerte Epistel in Ruhe unbefördert liegen zu lassen oder, wenn es hoch kommt, dem Absender zurückzugeben, der froh sein muß, wenn er nicht als Defraudant in Strafe genommen wird, ist die englische Post menschenfreundlich und coulant genug, auch in diesem Falle ihrerseits das Unterlassene nachträglich zu besorgen: das Schreiben zu registriren (recommandiren) und gegen Anrechnung doppelten Portos unverweilt an den Adressaten zu befördern. Allerdings ist diese Praxis eine noch junge, die der aus den Zeiten der hohen Portosätze herstammenden Gewohnheit der Bevölkerung, Geldsendungen zu schmuggeln, Rechnung trägt. Wie sehr diese Gewohnheit noch immer besteht, auch nachdem die sie bedingenden Ursachen längst weggefallen sind, erhellt daraus, daß im Zeitraume von sechs Monaten allein in London 58,000 solcher Briefe vorkamen, die erst das Postamt in die vorschriftsmäßige Verfassung setzen mußte.

Eine der interessantesten Abteilungen der Verwaltung ist das Bureau für die „blinden“ Briefe. Blinde Briefe? fragt der Leser. Das heißt diejenigen, deren Adressen unleserlich, falsch geschrieben oder ungenügend bestimmt sind. In diesem Departement regieren die Secretäre aller Secretäre, aus den erfahrensten und gescheidtesten Beamten zu ihren schwierigen Posten erhoben. Sie sitzen vor Haufen wunderlich überschriebener Briefe und lösen, was jedem andern Sterblichen unentzifferbare Hieroglyphen bleiben würde. Jeden Tag passiren die Hände dieser Männer Hunderte von Briefen, deren Adressen im Sortirsaale nicht zu enträthseln waren. Auf anderen ist vielleicht blos der Name eines obscuren Dorfes verzeichnet, und es gilt nun aus etwaigen zufälligen Merkmalen herauszugrübeln, welcher Winkel des vereinigten Königreichs mit dergleichen Botschaft beglückt werden soll, und den Namen der Grafschaft und der nächsten größern Stadt beizufügen. Wenn man weiß, auf welcher kläglich niedrigen Stufe die englische Volksbildung steht, weiß, welche überraschende Schaar von stolzen Albionssöhnen und Albionstöchtern das Studium der edlen Schreibkunst für einen überflüssigen Luxus erachtet oder doch in äußerst extravaganter Weise prakticirt: so wird man sich eine Vorstellung machen können, was für eine Anzahl von solchen enigmatisch bekritzelten Briefen Jahr aus Jahr ein in die Welt geschickt wird, und von der phantastischen Orthographie, die sich dabei producirt. Der Irländer mit seiner Unbildung und Sorglosigkeit liefert die meisten, der Schotte mit seinem guten Schulunterricht und seiner angebornen Vorsicht die wenigsten blinden Briefe. In acht unter zehn dieser kritischen Fälle wissen indessen unsere Blindbriefsecretäre das Richtige zu treffen.

„Da haben Sie ein Beispiel, wie sie täglich zu Dutzenden uns in die Hände kommen,“ sagte der eine der Beamten, indem er uns einen Brief zur Besichtigung überreichte. „Was meinen die Herren von dieser Adresse?“

Wir strengten all unsern Scharfsinn an, doch wir konnten das Geschreibsel, das folgendermaßen lautete, nicht zusammenstudiren:

 „Jenny F.

Ridoleywite“ 

„Das ist noch eines der leichteren Probleme,“ endete der Secretär lächelnd unsere Verlegenheit. „Die Sache meint einfach ‚Ryde‘ (die Hauptstadt) ‚Isle of Wight‘ (Insel Wight).“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 475. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_475.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)