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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

furchtbaren Last durch die Länge des Weges, auf welchem Keiner in der langen Reihe anhalten konnte und durfte, ohne die ganze Colonne in’s Stocken zu bringen. Aber der menschliche Körper vermag eben fast Unglaubliches zu leisten, wenn ein zäher fester Wille in ihm wohnt, und das ist bei uns Brandenburgern der Fall. So ging’s denn ohne Stocken vorwärts, durch die erste und zweite Parallele, bei der preußischen Feldwache vorbei.

Die zweite Parallele ist zu Ende, zu Ende aber auch der deckende, schützende Wall. Die lange Reihe tritt in’s Freie, das Herz klopft lauter in der schnell athmenden Brust; denn dicht vor sich erblickt man die Dänenwerke, von wo aus auf diese Entfernung ein Kartätschenschuß ganz furchtbare Wirkung gehabt haben würde. Die Sehkraft des Auges wird fast bis zum Schmerz angestrengt in der Erwartung, es auf der Stelle blitzen zu sehen und dann die einzige Möglichkeit der Rettung zu versuchen, sich flach auf die Erde zu werfen, und dabei geht es immer vorwärts, immer näher heran an die Schanzen. – „Hierher!“ ruft ein Officier von den Pionieren. Da giebt ein weißer, auf der Erde ausgespannter Bandstreifen die Lage der neuen Parallele an, dort wird Korb an Korb gestellt, dahinter aber liegt sein Träger, bewegungslos auf den Boten gekauert. Tiefste Ruhe herrscht einige Minuten auf dem ganzen Plane, die Dänen haben nichts gesehen, denn kein Schuß wird in den Schanzen gelöst, dagegen fallen die preußischen Bomben im prachtvollsten Bogenwurf ohne Zwischenpausen in dieselben ein.

Die Zickzackmauer der Schanzkörbe ist aufgestellt, somit aber der erste Theil des Werkes vollbracht. In derselben Art, wie sie gekommen, geht die wandelnde Menschenschlange zurück. Der Letzte ist wieder in die zweite Parallele eingetreten, da entwickelt sich aus derselben eine zweite ebensolange Reihe, jeder Mann einen Spaten oder eine Hacke in der Hand. Wie jene zurück, gehen diese vor, Mann hinter Mann, so daß jeder hinter einem Schanzkorb zu stehen kommt, die geladenen Gewehre werden von der Schulter genommen und auf den Boden gelegt, und die Arbeit, das Graben, beginnt. In die Erde hinein strebt Jeder, denn er weiß, je tiefer das Loch ist, welches er gräbt, je voller der Korb wird, desto mehr Deckung hat er gegen die Geschosse der Feinde. Das ist denn ein Arbeiten auf Leben und Tod, ein Keuchen und Stöhnen, soweit in die Länge das Auge schaut, der Schweiß rieselt vom ganzen Körper. Was thut’s? einen Schluck aus der Flasche, einen kurzen Augenblick der Ruhe, und der Spaten wird von Fuß und Hand mit erneuter Kraft in den Lehmboden gestoßen. „Bombe, Bombe!“ flüstert’s hier und dort. Da sieht man zwei mit feurigen Schweifen im hohen Bogen über die Schanzen steigen, ihre Richtung ist auf uns zu. Bombe vorbei; wenigstens hundert Schritt hinter uns crepiren sie in der Luft; da schon wieder zwei, die fast an derselben Stelle platzen, wie die ersten. Jeder weiß jetzt, man schießt nicht auf uns, sondern die Kugeln gelten den hinter uns liegenden Batterien.

Es ist des Morgens gegen vier Uhr, die Parallele ist flüchtig ausgeworfen, das heißt, der Graben ist vier Fuß breit und tief, der Wall aber fünf Fuß hoch. Pioniere messen allerorts Tiefe und Breite. Es ist Alles richtig, unsere Aufgabe somit erfüllt.

Bis an die Kniee in Schlamm und Wasser (wegen der Nähe des Meeres) gehen die Regimenter in dem in wenigen Stunden geschaffenen Wege zurück, den Pionieren überlassend, am Tage im Schutz des Walles die erforderliche Breite der Parallele herzustellen und sie für größere Truppenmassen gangbar zu machen.

Kein Mann der ganzen Colonne war in dieser Nacht verwundet worden. Das war ein gar schönes Gefühl, als wir, schmutzig wie die Erdwürmer, in Wester-Düppel an den vielen blauen verdeckten Wagen, alle mit der Aufschrift „für Schwerverwundete“ versehen, vorbeikamen!

„Sie sind heute angeführt worden,“ rief ich einem mir bekannten Arzte zu.

„Ja, Gott sei Dank, auf diese Weise mag ich mich gern in den April schicken lassen.“

„Schlafen Sie wohl.“

„Guten Morgen.“

Selten hat mir der Schlaf auf ein wenig zermalmtem Stroh so wohl gethan, wie damals, und nie das gegen Abend bereitete Mittagbrod, Erbsen und Rindfleisch, so gut gemundet, als an diesem Tage.




Blätter und Blüthen.

Jackson’s Fingergymnastik. Nächst der stärkeren Entwickelung des menschlichen Vorderhirnes ist es fast ausschließlich der Bau der Hand und ihre Kunstfertigkeit, was den Menschen über das Thier erhebt und zum Herrn der Erde gemacht hat. Wie jene Entwickelung von Jahrhundert zu Jahrhundert gestiegen ist, so daß die Schädelsform des berühmten vorsündfluthlichen Neanderthal-Schädels der Affenform näher steht, als der des heutigen kaukasischen, besonders germanischen Schädels, so hat auch die Geschicklichkeit der menschlichen Hand und ihre Leistungsfähigkeit von Jahrhundert zu Jahrhundert zugenommen, wie unsere heutigen Kunstprodukte lehren. Eine solche Zunahme kann aber nur durch gesteigerte und vielseitigere Uebung in’s Leben treten. Und so kann man mit Recht sagen: „Der Fortschritt des Menschengeschlechts in der Civilisation beruhe hauptsächlich auf Uebungen des Denkorgans und aus Uebungen der Hand und ihrer Einzeltheile.“

„Um die Leistungsfähigkeit der menschlichen Hand zu erhöhen, muß man die Hand- und Fingergelenke von Jugend auf möglichst vielseitig gymnastisch üben, theils in Freiübungen, theils mittels eigener Geräthe.“ Dies ist der Satz, welchen der Rentier und Friedensrichter Jackson aus England, zunächst in Bezug auf musikalisches Virtuosenthum (Piano und Geige) aufgestellt hat und theils durch ein paar Seiten Gedrucktes, theils durch öffentliche unentgeltliche Verträge in den größeren Städten Deutschlands zu verbreiten sucht. Er hat sich dabei natürlich vor Allem des Beifalls der Musiklehrer und Componisten zu erfreuen gehabt, weil diese am meisten alltäglich empfinden, wie ungeschickt und schwach bei vielen Lernenden die Hände sind und oft zeitlebens bleiben, wie sehr es noch allenthalben daran fehlt, daß die Finger und Hände für dauernde Ausführung feinerer Bewegungsweisen schon von Jugend an systematisch geübt und gekräftigt werden. Eine Menge der berühmtesten Musikmeister haben Herrn Jackson schriftliche beifällige Zeugnisse ausgestellt. Aber es giebt noch außer der Musik eine Menge von Künsten, für welche die Hand ebenfalls schon von Jugend an vorbereitet werden sollte, um in späteren Jahren Ausgezeichnetes mit Ausdauer leisten zu können, z. B. viele Handwerke, viele Maschinenhülfsarbeiten, die weiblichen Arbeiten, die Medicin und Chirurgie, das Schreiben und Zeichnen, sogar die neuere Kriegskunst (Zündnadelgewehre, Weittreffen) etc. Eine schlechtgeübte Hand wird in diesen Fächern entweder ungeschickt bleiben, oder sie wird durch Ueberanstregung bald erlahmen, wodurch eine besondere Art von Lähmung, mit Krampf verbunden, entsteht, welche besonders bei Schreibern bekannt ist, aber auch bei Musikern, Künstlern, Schuhmachern, Schneidern, Ciseleuren, Nähterinnen und andern Gewerben vorkommt – der sogenannte Schreibekrampf.

Die Turnlehrer haben diese Classe von Uebungen keineswegs ganz vergessen. In dem classischen Turnbuch von H. Spieß finden sich die Bewegungsmöglichkeiten der Hand und ihrer Finger, und die darauf zu gründenden activen (Frei-) Uebungen derselben vollständiger, als bei Hrn. Jackson. Allein auf den Turnplätzen hat man, trotzdem daß das Spieß’sche System in Deutschland allenthalben gilt, sehr wenig daran gedacht, diese feinern Gelenkübungen zu betreiben. Auch ein englischer Erziehungs-Gymnastiker, Henry de Laspée, führt in seinem hauptsächlich für Schulen bestimmten Buche „Callisthenics“ die Finger-, Daumen- und Handgelenks-Bewegungen einzeln aus und bildet sie auf mehrern Tafeln ab. Aber er muß doch in Großbritannien nicht durchgedrungen sein, sonst würde sein Landsmann nicht heutzutage mit der Ueberzeugung, eine neue Sache einzuführen, auftreten. Das Charakteristische und zugleich das Nützliche dieses Auftretens besteht eben in der einseitigen Energie, mit welcher Herr Jackson die bisherige Vernachlässigung solcher Uebungen den Musiklehrern wie den Lernenden begreiflich zu machen weiß, und in der Ermuthigung, die er auch den älteren Musiktreibenden gewährt, indem er durch sein eigenes Beispiel darthut, daß es noch in späteren Lebensjahren möglich ist, die Gelenke für derartige Zwecke, wie Piano- oder Violinspielen biegsamer, ihre Muskelbewegungen ausgiebiger zu machen und die bei angestrengter Kunstübung so leicht eintretenden Ermüdungen auf gymnastischem Wege theils zu heilen, theils zu verhüten.

Die Finger, und Handgymnastik Jackson’s besteht hauptsächlich aus drei Classen von Uebungen. 1. Zur Ausdehnung des Spielraums der Gelenke steckt er zwischen die Finger mehr ober weniger tief einen Cylinder (von Kautschuk oder gewöhnliche Korkstöpsel) und läßt damit die Fingergelenke auf- und abwärts biegen. – 2. Um die Fingermuskeln besonders zu Seitenbewegungen (Spreizen) fähiger zu machen, läßt er auf einem runden Stabe, in welchen abwechselnd Erhöhungen und Vertiefungen (letztere zum Hineinstellen der Fingerspitzen) gedrechselt sind, allerlei Greif- und Klopfbewegungen mit den Fingern ausführen. – 3. Um die das Handgelenk regierenden Vorderarm-Muskeln zu stärken, läßt er damit die auf unseren Turnböden wohlbekannten verschiedenen Handbewegungen vornehmen, auch wohl zu Beseitigung des Ermüdungsgefühles die locker gehaltene Hand hin und her schlenkern.

Einiges daran ist unleugbar neu, während andererseits wieder Einiges fehlt. Immer ist der uneigennützige Eifer zu loben, mit welchem Jackson seine Gymnastik zu verbreiten strebt. Vielleicht geht der von ihm gegebene Anstoß doch mit der Zeit aus den Musikschulen auf die Volksschulen, Kleinkinderschulen und Kindergärten über und bewirkt dort die Einführung oder regere Betreibung eines Zweigs der körperlichen Erziehung, welcher mehr als andere auch der geistigen Erziehung zu Gute kommt. Denn die Hand ist das vornehmste Werkzeug des menschlichen Geistes. Alles was uns in

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 495. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_495.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2021)