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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

„Und doch, Andreas, werde ich Dir diese Worte so lange zurufen, bis Du endlich die Wahrheit gestehst.“

„Die Wahrheit? Hörten Sie denn nicht, daß ich jetzt nach fast zweijährigen Verhören und Verhandlungen endlich des Mordes überführt bin?“

„Du selbst gestandest ihn doch aber nicht ein?“

„Weil, wie der Herr vom Gericht neulich sagte, ich ein zu hartnäckiger Bösewicht bin.“

„Nein, Andreas, und tausendmal nein, weil Du den Mord nicht begangen hast. Ich kenne Dich besser, ich beurtheile Dich richtiger.“

„Sie, Herr Baron, sehen in mir noch immer den wilden, aber gutmüthigen Knaben, der mit Ihnen spielte, wenn Sie im Schloß Ihres Onkels zum Besuche waren.“

„Und Du, mein lieber Andreas, siehst in mir leider einzig auch jenen Knaben, der den Schlitten seiner kleinen Cousine Flora schob, den Neffen des Freiherrn K*, und doch bin ich schon lange nicht mehr Adolar von K*, vielmehr seit vier Jahren schon Pater Ignaz, ein Priester des Herrn, der kürzlich seine letzte Weihe empfangen hat.“

„Entschuldigen Sie das, ich kann Sie aber nicht gut anders nennen.“

„Nenne mich, wie Du willst, denn das kümmert mich nicht, mich betrübt einzig, daß Du in mir nicht Deinen Beichtvater sehen willst.“

„Nicht will, o nein, ich kann nicht – kann wirklich nicht beichten, frommer Vater.“

„Es würde Dir Erleichterung sein, Andreas. Seit fast zwei Jahren sitzest Du in dieser Zelle, hast kaum zehn Worte mit irgend Jemand gesprochen, Du bist den Gerichten, bist den Geistlichen gegenüber stumm geblieben, und seit den acht Tagen, wo ich zu Dir komme, der Spielgefährte Deiner glücklichen Kinderjahre –“

„Glücklichen Kinderjahre?“ wiederholte der Gefangene bitter. „Die kenne ich nicht.“

„Wie? Du hattest doch so brave Eltern, die Dich liebten.“

„Mich liebten sie nie.“

„Andreas!“

„Gewiß nicht, Herr! an ihrem Erstgebornen, an meinem Bruder Martin hing einzig ihr ganzes Herz.“

Der Geistliche schaute unwillkürlich düster zu Boden. Vielleicht dachte auch er an seinen ältern Bruder, den Majoratsherrn, der seit fünf Jahren mit seiner schönen Cousine Flora verheirathet war. Als er wieder emporblickte, bemerkte er, daß das Auge des Gefangnen starr an einer Spinne haftete, die durch das geöffnete Fenster der Zelle hinaus an die dicken Eisenstäbe kroch und im Licht, im Sonnenschein draußen verschwand.

„Andreas!“ rief der Priester bewegt, „Du siehst jener kleinen Spinne so traurig nach; irre ich nicht, beneidest Du sie.“

„Sie ist frei! wohl ihr!“

„Andreas, könntest Du denn nicht auch frei sein?“

Der Gefangene blickte hastig in die forschend auf ihn gerichteten Augen und schnellte wie eine Feder von seinem Sitze empor.

Da klirrten seine schweren Ketten lauter denn zuvor, und heftiger als vorhin schauderte er zusammen. Langsam, sehr vorsichtig, fast ohne Hände und Füße zu bewegen, ließ er sich wieder auf den Schemel nieder. Es war ersichtlich, daß er das rasselnde Geräusch des gegliederten Eisens vermeiden wollte. „O diese Ketten, diese furchtbaren Ketten!“ sagte er in dumpfer Verzweiflung, „wären sie nur nicht!“

„Rede die Wahrheit. Andreas, und sie fallen ab.“

„Um sich schwer, viel schwerer um einen Andern zu legen!“ murmelte der Unglückliche düster.

„Aber um Den, der’s verdient, um den Mörder!“

„Um den Mörder!“ wiederholte der Gefangene leise. Große Tropfen kalten Schweißes traten auf seine Stirn, er lehnte den Kopf zurück gegen die weiße Kalkwand der Mauer, und sein blasses Gesicht wurde geradezu todtenbleich. Hell und heller blitzte es auf in seinen tiefen dunkeln Augen, dann schloß er diese Augen, wie wenn er auch den Blick schließen wollte vor einer schweren, zu schweren Versuchung.

„Andreas, Andreas, den wahren Namen des Mörders!“ rief der Priester flehend.

Der Gefangene sah auf. In die Züge seines Gesichtes war wieder jene starre unbezwingliche Ruhe, dieselbe kalte, finstere Entschlossenheit getreten, die seit fast zwei Jahren Alle zur Verzweiflung gebracht, welche mit ihm verkehrt, mit ihm gesprochen, auf ihn einzuwirken versucht hatten; es war der Ausdruck, der ihm endlich bei Einzelnen den Namen eines hartnäckigen, eines verstockten Sünders gemacht. Die Gewandtheit und der gute Wille der Richter, namentlich aller derer, die durch ein gewisses Etwas im Gesicht und Wesen des jungen Bauern fest an seine Unschuld glaubten und die Möglichkeit aufboten, ihn zu Geständnissen zu bringen, waren an diesem Schilde abgeprallt. Die Milde wie der Zorn verschiedener Geistlichen hatte sich gebrochen an diesem Panzer hartnäckigsten Schweigens. Selbst dem Pater Ignatius, der seit acht Tagen wieder in M. war und von dem Mörder gehört, in ihm den Jugendgespielen wiedererkannt und ihn seitdem täglich besuchte, hatte der Ausdruck schon tiefsten Kummer bereitet. Er sah auch jetzt voll Schmerz, daß wieder Alles vorbei, daß vorläufig nicht das Geringste mehr zu hoffen und zu erwarten sei, daß der, den er für unschuldig hielt, auch in seinen Augen als Mörder dastehen wollte.

Ernst, traurig den Unglücklichen anblickend, sah er plötzlich diesen furchtbaren Ausdruck starrer Ruhe wieder schwinden, sah einen feuchten Glanz in den großen ernsten Augen.

„Andreas!“ rief er freudig, rief er voll Hoffnung.

Der Gefangene deutete stumm nach dem kleinen offenen Fenster in der Höhe der Zelle, der Sonnenstrahl war fort, die Spinne aber in’s Gefängniß zurückgekehrt.

Minute nach Minute verging. Keiner sprach ein Wort, nichts unterbrach die Todtenstille ringsum. Der Gefangene hatte seine gewöhnliche Stellung angenommen, den Kopf gestützt in die mit Ketten geschlossenen Hände, das Antlitz bedeckt. Der Priester starrte noch empor zu dem Fenster. Da durchzitterte plötzlich der Donner von Kanonen die Luft, da erschallte feierliches Glockenläuten. Beides brach sich in dumpfen, bald ersterbenden Tönen an den dicken Mauern des Kerkers. Den Gefangenen weckten Ton und Klang nicht aus seinen Gedanken, den Priester aber stürzten sie in ein Meer von Gedanken. Ueber sein stilles, ernstes und trauriges Gesicht strömte jetzt eine Fluth von Licht und Leben, eine Fülle von Freude und Hoffnung. Er war verwandelt, das milde Auge leuchtete, das Gesicht strahlte in Verklärung.

Da trat der Schließer in die Zelle, um dem Gefangenen frisches Wasser zu bringen. Mit trüben, ernsten Augen sah er von Einem zum Andern und schüttelte traurig sein greises Haupt. Der Geistliche begegnete seinem hoffnungslosen Blick mit einem hoffnungsvollen, doch die Miene des Gefangenwärters heiterte sich darum nicht auf.

Der Priester sprach ein kurzes Gebet, trat seinem ehemaligen Jugendgespielen nahe, legte leicht seine Hand auf dessen Schulter und sprach freundlich: „Leb’ wohl, Andreas, ich muß jetzt fort; ich bin zur Tafel bei unserm König befohlen, der eben seinen Einzug in die Stadt gehalten hat. Morgen komme ich wieder.“

(Schluß folgt.)




Eine freie Burg deutscher Wissenschaft.

„Wir wollen eine freie Burg deutscher Wissenschaft bauen,“ hat der verewigte Hans Caspar v. Orelli vor einem Menschenalter bei Gründung der Züricher Hochschule gesagt. Und das Züricher Volk hat seinen Spruch wahr gemacht. Jetzt steht sie auch dem leiblichen Auge sichtbar da, diese freie Burg deutscher Wissenschaft. Ein bedeutsamer Anblick ist es, der sich dem Ankömmling auf dem Züricher Bahnhofe darbietet! Er tritt hinaus in ein buntes Gewühl geschäftiger Menschen. Es begleiten ihn Lastwagen mit Baumwollenballen, die den Spinnereien zueilen; es begegnen ihm Kisten mit seidenen Geweben, dem Producte der fleißigen Hände des Landes. Vor seinen Füßen rauscht die mächtige Limmat, deren Gewalt er drüben benutzt sieht zum Treiben lärmender Maschinen. Der Ankömmling überschreitet die großartige Brücke, die erst kürzlich in kühnen Bogen über den Fluß gespannt ist. Die Bürgerschaft hat dafür tief in den Geldsack gegriffen, aber nur, um ihn desto mehr wieder zu füllen. Alles deutet auf

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 516. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_516.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)