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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

sie sich nun in Kunstwerken, guten Büchern, guten Predigten, guten Heilungen oder im Bau solider Straßen, kühner Brücken, sinnreicher Maschinen, wunderbarer Apparate kundgeben, zu gleich tüchtigen Leistungen gleiche Maße von geistigen Kräften erfordern und nur ein Endziel, die Befreiung des Menschengeistes, haben! Die Thatsache ist indeß frappant.

Fragt in Deutschland jeden mittelmäßig Gebildeten nach unsern Dichtern, unsern Malern, unsern Philosophen vierten und fünften Rangs, er wird euch Bescheid thun, ihre Namen, ihre Werke kennen; schlagt eine unserer wenigst vollständigen Encyclopädieen, eine kurzgefaßte Culturgeschichte auf, und eine Fülle von Stoff aus allen Disciplinen quillt Euch entgegen. Der Ruhm hat die Namen der Erbauer jedes Kirchleins, der Maler jedes mittelmäßigen Bildes verzeichnet, und der unsterblichen Namen ist kein Ende. – Und dann fragt den allergebildetsten Deutschen, die besten Encyclopädieen, die ausführlichste Culturgeschichte nach dem Namen des Erbauers der kühnsten Eisenbahn, der stolzesten Brücke, der segensreichsten Eindämmung oder Entwässerung, fragt nach dem Erfinder der Locomotive, die Euch zieht, des Webstuhls, der die Kleider auf Euerem Leibe webt, des Gaslichtes, das Euere Städte durchstrahlt, – – – und sie werden Euch die Antwort schuldig bleiben oder Euch dürftig berichten! –

Noch denkt sich selbst der gebildete Deutsche den praktischen Techniker als eine Art höheren Schlossers, Schmieds oder Maurers, ja er mißtraut daher dessen Tüchtigkeit, wenn derselbe die Lebensformen der gebildeten Welt, saubere Wäsche und unverarbeitete Hände zeigt. Daß gar ein Genie, welches jedem Andern ebenbürtig ist, ihm beiwohnen, er vielleicht sogar zu den Trägern des Ruhms des Vaterlandes gehören könne, erscheint noch fast belächelnswerth. Unsere Nachbarvölker gen Westen sind uns in der Erkenntniß der Würde der Technik als Verlebendigung des großen civilisatorischen Agens der Zeit, der Stellung, welche die Techniker im Volksleben einzunehmen haben, weit voraus. Sie haben längst Technik und Techniker als erwachsene Kinder der Zeit mündig erklärt!

Das ist eine der Haupt-Lücken in der deutschen Cultur.

Wenn wir daher heute von einem Manne erzählen wollen, der der deutschen Technik den größten Dienst geleistet, mit großem Talente das deutsche Eisenbahnwesen von fremden Einflüssen frei gehalten, die bis heute gültigen Grundprincipien des deutschen Eisenbahnbaues zuerst verkörpert, dessen Organisation zum Theil geschaffen, die erste große mit Dampf befahrene Eisenbahn selbst gebaut, und in den Männern, die ihn als Jünger umstanden, die Ausbildner eines großen Theils des deutschen Eisenbahnsystems hinterlassen hat: so erwarten wir nicht, daß das deutsche Volk seinen Namen kennen werde. Aber wir halten es für Pflicht, von ihm zu erzählen, was er, dessen Fachgenossen in Frankreich und England, die nicht mehr werth waren denn er, als Millionäre starben, als guter Deutscher leistete, wie er rang und litt. Unser wenn auch schwaches Wort, soll mahnen, daß das deutsche Volk die Männer, welche in den neuen Thätigkeitskreisen der Technik für seine Wohlfahrt denken und wirken, kennen und schätzen lernen und ihnen die Ehren gewähren möge, mit denen es so bereitwillig, wenn auch meist zu spät, seine „Dichter und Denker“ krönt.




Es war im Sommer 1811. Napoleon zog die Wolken zu dem großen Gewitter von 1812 zusammen, und sein Zauberwort hatte auch die bis dahin lässig betriebenen Arbeiten am Bau von Torgau’s Festungswerken in fieberhafte Hast gejagt. Des Gouverneurs, Oberst von Boblick, scharfes Commando, des Obersten von Langenau gefürchtete Inspektion und des wilden Major Coudray polterndes und schreiendes Scheltwort jagten Officiere und Mannschaften trotz glühenden Sonnenbrandes im Geschwindschritt zur Arbeit und schweißtriefend von derselben. Erschöpft und nach einer Labung lechzend füllten die Junker, Lieutenants und Capitäns vom Dienst rasselnd zur Frühstückszeit das Delicatessenzimmer des Italieners Petacca am Markt.

In der bequemsten Ecke sitzt da bereits ein alter Mann in Bauerntracht der Leipziger Gegend, den breiten dreieckigen Hut neben dem Glase auf dem Tische, die Füße mit den derben Schnallenschuhen weit von sich gestreckt, den Quersack neben dem Stuhle; eine prächtige, kräftige, aufrechte Greisengestalt mit klaren, offenen Augen. Der letzte der eintretenden Officiere, ein kleiner, blatternarbiger Lieutenant mit breiten Schultern und gedrungenem Körper, dessen sonst unschönes Gesicht zwei wunderbar kluge, kleine Augen mit Humor und Güte zugleich überblitzen, eilt auf den Alten zu, umarmt und küßt ihn und sitzt bei ihm und schenkt ihm ein und läßt ihn nicht, bis die Trommel wieder zur Arbeit ruft. – Im Anfang wollen die Cameraden Spottblicke auf das Paar werfen, der junge Officier sieht ihnen aber so muthig in die Augen und steht trotz seiner Jugend in so hohem Ansehen unter ihnen, der alte Mann spricht so gemüthvoll, klug und unterhaltend mit den Herren, daß sie ihn bald umringen, wenn sie kommen, und ihm die Hand schütteln, wenn sie gehen. Der Alte ist der Leinweber, Häusler und Acciseinnehmer Andreas Kunz zu Dürrweitzschen bei Leisnig, ein eifriger Musikus und jovialer Mann, der mit anderen Gleichgesinnten auf den Dörfern die Jugend nach seiner Musik springen läßt und mit Quersack und Geige zu Fuß nach Torgau gewandert ist, um seinen Enkel, den kleinen Carl Theodor, einmal mit den dicken Lieutenants-Epaulettes und dem Portepée zu sehen.

Der aber ist ein munterer, zwanzigjähriger Unterlieutenant, der noch keinen Bart, aber Muth und Entschlossenheit für drei bärtige Männer, Thatkraft und Umsicht für eine Brigade hat, den seine Cameraden lieben und schätzen, seine Untergebenen, die er kurz hält und fuchtelt, auf Händen tragen, für dessen Großvater die Officiere endlich Tänze abschreiben, um den prächtigen Alten lachen zu sehen – weil es dem jungen Cameraden Freude macht!

Nach diesen Tänzen sollte keine Dorfjugend sich mehr drehen, der Alte starb, den Quersack auf dem Rücken auf einem Feldrain sitzend, in der Nähe der Heimath einen seligen Tod am Schlage; aber er hatte den geliebten Enkel noch einmal gesehen, der ihn für allen Kummer, den seines Sohnes Geschick ihm bereitete, so fröhlich schadlos hielt und kein Anderer war, als der Erbauer der ersten großen deutschen Eisenbahn. – Hinter dem jungen Officiere, der so leichtlebig und schon damals in Torgau unglaublich thatkräftig auf seinen derben Schultern den halben Dienst seines hypochondrischen Hauptmann Essenius, des bequemen Premier-Lieutenant Hermann und des lüderlichen Collegen Vitzthum mit übertrug, lag eine Jugend voll trüber Leiden, in deren Gluth aber der gute Stahl seines Charakters zu einer geschmeidig schneidigen Klinge für den Kampf des Lebens gehärtet worden war.

Sein Vater, Gottlob Friedrich Kunz, hatte zu der Armuth einer Canzelistenstelle im damaligen sächsischen Geheimen Finanz-Collegium die Armuth einer jungen Verwandten, Wilhelmine Michaelis, geheirathet. Mußte aber auch selbst die Aussteuer und erste dürftige Einrichtung durch spärliche Hülfe kaum wohlhabenderer Angehöriger beschafft werden, so brachte ihm Wilhelmine doch einen solchen Schatz an Edelsinn, Dulderkraft und Tüchtigkeit zu, daß er, auf den ältesten Sprossen dieser Ehe, Carl Theodor, vererbt, hinreichte, diesem das volle Anrecht auf die Würde eines bedeutenden Menschen zu erwerben.

Die rasch aufeinanderfolgende Geburt mehrerer Kinder, Krankheiten aller Art (von den Blattern wurde das Gesicht Carl Theodor’s in seinen Formen sehr zum Nachtheil gänzlich verändert), endlich Kriegsverläufe drückten das Jammerleben der Familie des Canzellisten bis auf die unterste Grenze tragbaren Elends herab. Dem Manne brach die Unablässigkeit der Schicksalsschläge die Kraft; er fügte durch das Sinken seines Charakters neue Last auf die gebeugten Schultern seines armen Weibes. Die gläubige Dulderin aber verließ das Gottvertrauen nicht. Als sie kein Kleid mehr hatte, in dem sie sich ohne Scham geschmückten Kirchengehern zugesellen konnte, schlich sie in der Morgendämmerung zum Frühgottesdienst, um Kraft zu finden, ungebrochenen Herzens das Schwarzbrod zum Frühstück, die Kartoffeln mit Salz zum Mittag unter die mattäugigen Kinder auszutheilen und aus ihren Lumpen, mit Geschmack sogar, immer wieder etwas halbweg Tragbares zusammen zu stoppeln, aus verschluckten bitteren Thränen immer wieder Stärkung zu einem Lächeln für ihre Kleinen zu saugen. Sie war ein Held im Ringen mit den Prüfungen Gottes! Carl Theodor schrieb später in seiner kräftig tiefen Weise: „Meine Mutter war ein Engel. Die himmlische Gerechtigkeit muß ihr jenseits durch den höchsten Grad der Seligkeit vergolten haben, was sie hier für Mann und Kinder that!“

Ein verkommener, aber nicht unwissender Candidat der Theologie, der, wo möglich noch ärmer als die Kunz’sche Familie, sein jämmerliches Lager in einer von dieser ermietheten Kammer aufgeschlagen hatte, auf dem er sich mit seinem abgeschabten Röckchen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 520. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_520.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)