Seite:Die Gartenlaube (1864) 531.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Der König ging lebhaft, rasch voran, vorbei an dem schon geöffneten Coupé mit der Krone, vorbei an allen Wagen, und nur der junge Priester, den er angeredet hatte, folgte ihm nach dem leeren Raume des Bahnhofs, wo der Monarch stehen blieb. Minute auf Minute verstrich, eine Viertelstunde war vergangen, und seitwärts von der verstummten Menschenmasse stand der König noch immer im eifrigsten Gespräch mit dem Geistlichen. Sein Gesicht, seine Gebehrden waren von Secunde zu Secunde lebhafter geworden; ein dunkles Roth brannte auf seinen Wangen, er wandte das immer heller blitzende Auge gar nicht ab von dem Antlitz des Priesters, einem Antlitz, das von einer heiligen Freude leuchtete, wie im Glanz immer höherer Verklärung strahlend.

Die Spitzen der Behörden, das ganze versammelte Volk, Alles hatte nur diese Beiden im Auge, Niemand sprach, ein Jeder lauschte, und Niemand vermochte eine Sylbe zu hören. Da, als eine endlos lange halbe Stunde vorüber, sah man, wie der König dem jungen Priester die Hand reichte, sah, daß er die Hand desselben fast eine Minute in der seinen hielt, in herzlichster Weise dabei mit ihm sprach, dann einen Schritt vorangehend, seinen Begleiter, noch immer an der Hand haltend, nachzog und abermals stehen blieb, und nun hörten die Nächststehenden deutlich die Worte:

„Seien Sie überzeugt, daß ich Alles thun werde, was in meiner Macht steht. Die Sache ist schwierig, muß aber doch gehen. Behalten Sie daher Muth und empfehlen Sie ihm Geduld. Sagen Sie ihm auch, wie es mich gefreut hat, daß er, nächst Gott, seinem Könige vertraut hat, grüßen Sie ihn von mir, von seinem Könige, der ihn hochachtet und bewundert!“

Diese Worte liefen von Mund zu Mund, diese Worte wurden in tausendfacher Weise ausgelegt und gedeutet! Wie verschieden aber auch darüber die Lesart und Ansicht, in der Meinung kam Alles überein: „daß der König außerordentlich zum Katholicismus hinneige“, und viele Blätter, viele Zeitungen berichteten in ihren Spalten: „daß auf seiner Reise durch Westphalen der König von Preußen die katholische Geistlichkeit ganz besonders ausgezeichnet habe.“

Nach und nach verloren sich diese Gerüchte wieder, um einige Jahre später stärker denn je aufzutauchen. Es war um die Zeit, als in die preußische Residenz ein katholischer Priester aus Westphalen gekommen war, der unbehinderten Zutritt zu dem Privatcabinet des Königs hatte und während mehrerer Wochen fast täglich von der erhaltenen Erlaubniß Gebrauch machte. Er war oft über eine Stunde allein bei dem Könige, er sprach viel und angelegentlich mit diesem in den Gesellschaften, zu denen er gezogen wurde, und die Beobachter wollten bemerken, daß Friedrich Wilhelm nach den Unterredungen mit dem Priester noch stundenlang ernster und nachdenklicher war, als sonst.

Als man den Geistlichen zum letzten Mal im königlichen Schlosse zu Berlin sah, strahlte sein Gesicht von einer so unverkennbaren innern Seligkeit, daß Alle, die ihn erblickten, sich zuflüsterten: „der hat sein Ziel sicher erreicht.“ Sie hatten nicht Unrecht! Pater Ignatius hatte jetzt wirklich das Ziel seines Strebens erreicht: der Gespiele seiner Kinderjahre, der Jüngling, welcher des Mordes überführt, der Mann, der mehr und mehr sein Freund geworden, war – frei! frei durch den Ausspruch des Königs! – – –

Während einzelne Hauptblätter der Tagespresse sich mit dem möglichen Uebertritt des Königs von Preußen zur katholischen Religion beschäftigten, enthielten mehrere Lokalblätter der Provinz Westphalen die Nachricht: „Der Bauer Andreas D., der vor einigen Jahren, des Mordes beschuldigt, zum Tode verurtheilt war, von Sr. Majestät aber zu lebenslänglicher Gefängnißstrafe begnadigt wurde, ist jetzt in Anbetracht seiner musterhaften Führung und in Folge dringender Bittgesuche seiner braven Eltern, deren nunmehriger einziger Sohn er jetzt, nach dem kürzlich erfolgten Tode seines Bruders, ist, am gestrigen Tage auf Befehl des Königs seiner Haft entlassen und von dem Pater Ignatius, dem frühern Freiherrn Adolar von K. nach seiner Heimath geleitet.“ – –

Mit welchen Gefühlen sah Andreas jetzt seine Heimath wieder! Er ertrug den Anblick nicht, als er mit Pater Ignatius das Eichenwäldchen durchschritten und vom Saum des Waldes aus hinüberschaute nach dem von den alten Linden umschatteten Hofe seiner Eltern.

„Ich kann dort nicht eintreten!“ rief er erbebend und warf sich dann laut schluchzend in die Arme seines Freundes, seines Retters. „Ich kann nicht!“ wiederholte er schaudernd. – – –

Da trat ein todbleiches junges Weib mit grauem Haar, mit gramdurchfuchten Zügen rasch hinter dem nahen Baum hervor und sich Andreas zu Füßen werfend, fragte sie zitternd: „Kannst Du es auch dann nicht, Andreas, wenn ich Dir sage, daß Deine Eltern seit einer Stunde wissen, daß kein Mörder über ihre Schwelle tritt?“

Andreas, der Priester schauten überrascht, entsetzt auf die Frau, die so angsterfüllt zu ihm emporsah.

„Bist Du Anne?“ fragte der Bauer tonlos.

„Ja.“

„Und Du – Du sagtest meinen Eltern – –“

„Daß der Mörder todt ist.“

„Anne! Anne!“ schrie Andreas.

„Ich hatte es Martin in seiner Todesstunde gelobt.“

„Wie! Er sagte es Dir?“

„Nie! ich aber wußte es! ich hab’s geahnt seit dem Tage, wo ich sein Weib war, denn, Andreas, Du konntest kein Mörder sein!“

„Unglückliche!“

„Ja wohl unglücklich! ich habe Dich beneidet Tag für Tag, Stunde um Stunde! ich beneide Dich noch.“

„Steh auf, Anna!“ bat Andreas tief ergriffen.

„Nicht eher, als bis Du mir sagst, daß Du ihm, daß Du mir verziehen hast. Er litt furchtbar – ich büßte schrecklich und werde, so lang ich auch noch lebe, keine frohe Stunde mehr haben.“

„Ich vergab Euch lange! Ich stehe auch ohne Groll vor Dir. Dieser fromme Priester kann es bezeugen.“

„Dein Wort genügt, Dein Wort gilt mir mehr, denn tausend Eide aller Priester der Welt. Ich danke Dir, danke Dir innig.“

Sie stand auf und trat an die Seite. Andreas näherte sich ihr und reichte ihr die Hand hin. Ein glühend Roth überflog ihr geisterbleich Antlitz, sie wich zurück, indem sie rief und Thränen über ihre eingesunkenen Wangen flossen:

„Nie, nie kann, darf ich Deine Hand fassen! Nie und nimmer darfst Du die meine berühren! Sie lag in der des Mörders, in der Hand dessen, der Deine Jugend vergiftet, Dein Leben zerstört.“

Wie ein gescheuchtes Reh lief sie in den Wald; Andreas aber trat den Weg zum Hofe seines Vaters an. – – – –

Die Sterne glänzten schon am Nachthimmel, als er dort noch zwischen seinen Eltern unter den alten Linden saß. Immer und immer wieder mußte er ihnen sagen, daß er sie liebe, daß er ihnen vergebe. Als aber sein Vater die Frage aufwarf: „Wie war Dir’s nur möglich, unschuldig zu sein und für schuldig zu gelten?“ da rief er mit leuchtendem Auge: „Ich hatte den Trost, daß mein Gott, mein König und ein Freund meine Unschuld kannten.“




Fünf Jahre sind seit Andreas’ Freisprechung vergangen. Es ist wieder ein Sonntagmorgen, und über das Dorf hin hallen die Klänge der kleinen Dorfglocke, der Glocke, die da zum Altare läutet, über den Särgen der Verstorbenen ertönt und die Beter zum Gotteshause ruft.

Zu Grabe hat diese Glocke drei Jahre zuvor Martin’s Kinder geläutet. Sie starben binnen wenigen Tagen am Scharlachfieber. Ihren Tod beklagte eigentlich nur Andreas – die eigene Mutter, die Großeltern sahen die Kinder fast freudig in ein anderes Leben gehen.

Vor zwei Jahren ertönten die Glocken zu Andreas’ Hochzeit – am heutigen Sonntage riefen sie sein junges Weib in’s Gotteshaus, das an dem Tage den ersten Kirchgang nach der Geburt eines Knaben feierte.

Andreas hatte den Bitten seiner Eltern, dem Drängen seines Freundes Ignaz nachgegeben, als er an den Traualtar trat. Ueber zwei Jahre war er mit diesem Freunde, der während der Gefängnißjahre seinen Geist so reich gebildet, wie Gott sein Herz, auf Reisen gewesen; dann hatte er die Schwester von Ilse Steinbrock geheirathet und diese Wahl nie bereut.

Pater Ignaz, der schon viele Würden ausgeschlagen, lebte seit Andreas’ Heirath als Pfarrer im Dorfe. Er hatte sich von ihm nicht trennen können, und wie er einst Tag um Tag im Gefängniß

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 531. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_531.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)