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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Elende der Officiersprüfung an, durch zwanzigjährige Abhärtung der Seele und des Leibes, war ja nur niedere und hohe Schule, mit unerbittlich strengen Meistern, für seinen eigentlichen Beruf, den des Bautechnikers, gewesen, in den er nunmehr eintrat.

Das Hochgefühl dieses Bewußtseins war für den Preis einer Jugend nicht zu hoch erkauft. Nicht daß der damalige sächsische Staatsdienst einem Talente gestattet hätte, allzuhurtig die Falten aus den Flügeln zu schütteln. Immerhin galt es aber mit der Wissenschaft und Erfahrung gegen Naturkräfte zu kämpfen, die der „heilsam schaffenden Gewalt“ der Civilisation im ehrlichen Kampfe sich entgegenstemmten. Die Kraftempfindung hiervon mußte die lähmende Misère des Dikasterientreibens und des Streits mit der Jämmerlichkeit der eingepferchten Menschennatur übertragen.

Carl Theodor Kuuz gehörte zu den Glücklichen, die aus allem Ringen, mag es ein Gulliverkampf mit Liliputanern, oder ein ebenbürtiges Geistes-Turnier auf Tod und Leben sein, gekräftigt hervorgehen. Seine Antäusnatur fand überall die Mutter Erde, die ihm neue Stärkung verlieh. Den trefflichsten, kraftspendenden Boden schuf Carl Theodor sich selbst, als er, im Jahre 1828, an den selbstbegründeten, eigenen Heerd ein Mädchen führte, dessen Neigung schon lange sein guter Stern gewesen war. Wie genügsam mußte das edle Paar in Liebe zusammenrücken! Von den 800 Thalern Gehalt des Wasserbau-Adjuncten waren volle 300 jährlich zum Tilgen seiner alten und neuen Schulden à priori zurückzulegen. Sein spiritus familiaris, die Armuth, neckte den Redlichen, dem sein Amt so manche Nebenerwerbsquellen, deren Trübe den Dürftigen damals nicht zu schrecken pflegte, lockend zeigte, qualvoll. Nach einer im Jahre 1829 unternommenen, für die Erweiterung seines technischen Gesichtskreises wirksamsten Bereisung der Elbe und ihrer Zuflüsse bis zum Meere, wurde Kunz 1831 an des quiescirten, wackern Wagner Stelle zum Wasserbau-Director mit 1000 Thaler Gehalt ernannt.

Der Donner der Kanonen der Julirevolution, das Freiheitsgeschrei der Völker, das, wie Wellen um einen in die Fluth geworfenen Stein, von Paris aus sich über Europa hin verbreitete, waren die Weherufe, unter denen unsere Zeit ihren größten Sohn, den Genius der Association, gebar. Dem Geiste jeder Zeit geht die Erfindung, die er bedarf, voraus.

Verbrüderung, Verkehr war das Schiboleth der großen Staatswirthschaft geworden, und Georg Stephenson hatte seine Eisenbahn geschaffen! Der Zeitgeist sandte seine Apostel und Märtyrer aus. War der eiserne Brindley in Großbritannien Petrus gewesen, so wurde Friedrich List zum Paulus unter den Heiden Deutschlands, die ihn zehn Jahre früher flüchtig über den Ocean gejagt hatten. Sein Ephesus hieß Leipzig. Seine agitatorische und rhetorische Kraft ohne Gleichen schuf, mit Gustav Harkort’s Ansehen und andern offenen Intelligenzen und pekuniären Potenzen im Verein, die die weitaus großartigste bis dahin in Deutschland dagewesene Verlebendigung der Ideen der Zeit, die Leipzig-Dresdner Eisenbahn. Was vorher an Eisenbahnen bei Linz, Nürnberg, Prag, Dürrenberg etc. in Deutschland geschaffen worden war, konnte nach Tendenz, Dimension und technischem Charakter nicht einmal entfernt als Staffel gelten, die zur Erreichung der Höhe des Gedankens an diese Unternehmung gedient haben könnte!

Das war’s, was Kunzens großer Thatkraft bei der Sache so lockend und begeisternd anmuthete. Dem Manne, der alle seine Mußestunden mit warmem Eifer über den Büchern lag, die den Fortschritt der von ihm mit so viel Begeisterung gepflegten Ingenieurkunst lehrten, waren die großen Arbeiten von Wood, Gerstner, Dempry und Andern nicht entgangen.

Als die ersten Gerüchte von dem Plane eines Eisenbahnbaues zwischen Leipzig und Dresden an sein Ohr schlugen, hatte er die Gegend mit seinem genialen Blicke bereist, vor dessen Massen-, Höhen- und Tiefenschätzungen sich die Eisenbahnlinie zwischen den sanften Wellen des sächsischen Flachlandes hinwand. Dann war er mit seinen jungen Wasserbaugehülfen und Instrumenten gekommen, hatte das mit dem Instinct des Talents Gefundene geprüft, und fast auf den ersten Wurf war die Linie entdeckt, wie sie mit wenigen Abweichungen ausgeführt wurde. Ehe man ihn gefragt hatte, war seine Antwort fertig!

Noch hatte Kunz keine Eisenbahnschiene gesehen, als er, auf des verdienstvollen von Langenn Rath, mit Schönerer, Brendel, Lohrmann, Friedr. Harkort und Andern, zum technischen Ehrenmitgliede des Gründungscomité’s der Bahn ernannt wurde. Von dem Tage an war er der Arm des Unternehmenn, dessen Kopf Gustav Harkort, dessen Nervensystem bis zu seinem Ausscheiden List war.

Die Bearbeitung des von ihm vorgeschlagenen Bahntractes wurde ihm übertragen. Man wußte damals in Deutschland fast so gut als heute, wie die Erdwerke, Brücken, Durchlässe, Auf- und Abträge des Bahnkörpers auszuführen waren, man verstand es, das Ganze bis zur Bahnplaine herzustellen – was aber auf dieser liegen, stehen, fungiren, rollen sollte – davon hatte fast Niemand etwas gesehen.

Kunz war zu geistvoll, um nicht zu begreifen, daß es im ersten Augenblicke bei seinem Projecte ebensowenig, wie bei dem Projecte des Comité’s auf Kenntniß alles Details ankommen könne. Genug, wenn das Unternehmen überhaupt zu Stande kam!

Vorwärts war die Losung!

Ohne unpolitische und thörichte Scrupel that er daher seine Griffe in die Hypothesen über Preise und Constructionen, producirte er einen Kostenanschlag von 1,800,000 Thalern für seinen Bahntract. Eben so klar erkannte er aber auch, daß es für die technische Verlebendigung der Idee ohne Anschauung von schon ausgeführten Eisenbahnen und vor Allem ohne regsten Verkehr mit deren Schöpfern nicht abgehen könne.

Eine Reise nach England und Belgien, vom 17. Juli bis 15. August 1835 unternommen, sollte das geistige Material liefern; zugleich sollten Verbindungen angeknüpft, Schienen, Locomotiven, Wagen, kurz, die von England zu beziehenden Objecte bestellt werden. Solche Bestellungen pflegten damals die entscheidenden Techniker reich zu machen. Kunz blieb sein Familienkobold, die Armuth, und sein guter Geist, die Redlichkeit, getreu! Reich aber kam er mit Schätzen beladen zurück, die Andern zu Gute kommen sollten.

Das unermeßliche Panorama des Industrie- und Volkslebens Englands hatte sich, mit glänzenden Lichtern und tiefen Schatten, vor seinem scharf- und tiefblickenden Auge entrollt, seine stets den Typus der Freiheit von Herkommen und Schlendrian an sich tragenden Anschauungsformen hatten sich bis zur Großartigkeit entwickelt. Er kam als ein Mann zurück, wie ihn die Zeit brauchte; ein Mann, der sich nicht im Spinngewebe kleinherzigen deutschen Formenwesens fangen ließ und wenigstens in der neuen Sphäre der Eisenbahnen ein System edler Vertrauensverwaltung, raschen, selbstständigen Entschlusses an dessen Stelle zu setzen verstand.

Die Aufzeichnungen von der Reise zeigen in ihrer lebendigen Theilnahme für alles Große, sei es nun der Kölner Dom, ein Altarbild von Quintin Messis, die London Bridge oder der Wellenbrecher von Dover, daß Kunz schon damals das später so oft seinen Schülern eingeprägte Princip: „Kein halber Mensch kann ein ganzer Techniker sein!“ im ganzen Umfange selbst zur Erscheinung brachte.

In klarer Erkenntniß des Möglichen benutzte er die vier Wochen der Reise, die zur Sammlung gediegener Kenntnisse nicht ausreichen konnten, dazu, sich Quellen zum Schöpfen reinsten Wissens zu öffnen. Er trat mit Stephenson, Cubitt, Manby, Hawthorne, Kirtley, Lindley, Bery und besonders dem erfahrenen und liebenswürdigen Walker, dem Erbauer der Leeds-Selby-Bahn, in nahe Beziehung, orientirte sich in den Bezugsarten der hauptsächlichsten Materialien und sonderte mit dem Feingefühle des Genies das für deutsche Verhältnisse und die Kräfte der deutschen Technik, des deutschen Verkehrs und deutscher pecuniärer Kräfte Brauchbare aus der imposanten Masse der blendenden Erscheinungen britischer Kraft.

Er kam zurück mit der weisen Maxime, daß für Deutschlands werdendes Volks-, Industrie- und Handelsleben die wohlfeile, in allen Theilen auf Melioration und Ausdehnung construirte Eisenbahn-Anlageform die einzig richtige sei.

Er schuf daher, nach einer an sich unreifen Idee von Vignoles, nachdem sich das noch wohlfeilere amerikanische Plattschienensystem als zu unsolid gezeigt hatte, das Oberbausystem mit Schienen ohne Stuhlunterlagen und breitem, unmittelbar auf die Schwellen genageltem Fuße, nach dem der Weg der meisten deutschen Eisenbahnen ausgeführt worden ist und das, in Beziehung auf Preis und Stabilität, die Mitte zwischen dem englischen und dem amerikanischen Systeme hält. Er war es, der das noch jetzt in Deutschland übliche Princip der Hochlegung der Eisenbahnlinie im Terrain, so daß Tunnels und tiefe Einschnitte thunlichst vermieden und an ihrer Stelle die wohlfeilern Brücken erforderlich werden, selbstständig,

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