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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Deutscher Menschenhandel der Neuzeit. [1]
Aus der Mappe eines Wiesbadener Curgastes.
2.

Am Abend traf ich in der auf deutschem Fuße eingerichteten „Bibra’s Restauration“ (Upper St. Martin’s Lane, beim Leicester-Square) deutsche Landsleute, Kaufleute und Fabrikanten, welche ebenfalls der Ausstellung halber da waren. Ich erzählte ihnen meine Begegnung mit den unglücklichen Musikanten aus Nassau und wie dieselben meine angebotene Hülfe zurückgewiesen, dagegen das Geld zum Frühstück bereitwillig angenommen hätten. „Ah, ich kenne diese Vögel,“ sagte mir ein Mainzer Kaufmann, „sie stammen aus unserer Nachbarschaft, aus Kleinrußland, wie man bei uns scherzweise Nassau nennt, übrigens, was sie Ihnen von ihrem Elende vorgesungen haben, ist gewiß zur Hälfte nicht wahr und war nur darauf berechnet, Ihr weiches landsmännisches Herz zu rühren und Ihren Geldbeutel um ein paar Schillinge leichter zu machen. Es ist eine Menge dieses miserabeln Gesindels in London, um den deutschen Namen im Auslande herabzuwürdigen. Man ärgert sich, so oft man sie sieht, und man sollte ihnen statt Geldes etwas Anderes geben. Und erst die verworfenen Eltern, die ihre Kinder auf diese Weise hinausstoßen. Pfui! Auch eine Menge von deutschen Frauen und Mädchen treibt sich auf solche Art hier herum. Sie hausiren mit allerlei albernen Dingen, wie mit Strohmatten, Besen, aus Holz geschnitzten Fliegenwedeln, bunten Papierzierrathen, künstlichen Blumen plumpster Art, Wachsfigürchen und dergleichen mehr. Alles das ist aber nur Vorwand. In Wirklichkeit treiben sie den Bettel und Schlimmeres. Sie sind aus Nassau und den althessischen Provinzen. In Rheinhessen weiß man von dieser Krankheit der fahrenden Bettler und Musikanten nichts. Uebrigens hat dieses Volk auch seine Vergnügungen. Abends sammeln sie sich in den schmutzigen Höhlen hinter dem Tower, welche gehalten werden von deutschen Wirthen, die eines solchen Publikums würdig; und wenn sie dann dort beisammen sind, die deutschen Jünglinge, welche der Musik, und die deutschen Mägdlein, welche dem Fliegenwedelhandel obliegen, dann soll es recht lustig, aber durchaus nicht anständig zugehen. Man muß sich wirklich im Auslande manchmal schämen, ein Deutscher zu sein.“

Das einmal angeschlagene Thema wurde ausführlich besprochen. Jeder hatte seine Wahrnehmungen gemacht und theilte sie mit. Alle kamen darin überein, daß dieses meistens aus Nassau stammende Gesindel in großer Zahl vorhanden sei und den Engländern einen uns keineswegs schmeichelhaften Begriff von der Moral und den politischen und wirthschaftlichen Zuständen Deutschlands beibringe. Allein dies Unwesen erstreckt sich nicht allein auf England. Auch Holland, Dänemark, Schweden und Rußland werden davon heimgesucht, und selbst aus Californien, Mexico und Südamerika kommen zuweilen Nachrichten herüber, daß dort nassauische und hessische Kinder, welche von solchen „Unternehmern“ den Eltern um einen Sündenlohn abgeschachert und dort importirt worden sind, mit den Niggers und Kulis auf dem Sclavenmarkte concurriren.

Eine russische Zeitung, erzählte einer der bei Bibra Anwesenden, habe neulich die Unverschämtheit gehabt, zu behaupten, das deutsche Volk bestehe vorwiegend aus Musikanten, Schulmeistern, Kellnern und Apothekern. Was die Apotheker anlange, so habe das für Rußland einigermaßen Sinn. Peter der Große habe eine Verordnung erlassen, wonach nur Deutsche als Apotheker im ganzen russischen Reiche zugelassen werden durften. Es liege darin die Anerkennung, daß solche Stellen, welche einen gleichmäßigen, ruhigen, andauernden Fleiß, eine pedantische Besonnenheit, fern von jedem Leichtsinn, erforderten, selbst bei sonst gleicher Befähigung, besser mit Deutschen besetzt würden, als mit Russen. Die Verordnung stehe zwar nicht mehr in Kraft, allein die deutschen Apotheker seien geblieben und seien respectirte Leute bei den Russen. Im Uebrigen aber hätten die Russen eine starke Abneigung gegen den Deutschen, den „Niemetz“. Dieselbe sei um so weniger gerechtfertigt, da Rußland seine Cultur doch großentheils den von Peter I. mit besonderer Vorliebe bedachten und zur Einwanderung eingeladenen Deutschen und Holländern zu verdanken habe. Veranlaßt sei sie aber wohl zunächst durch den deutschen Adel aus Livland, Esthland und Kurland, welcher den Altrussen die besten Stellen im Hof-, Civil- und Militärdienst wegschnappe und mit junkerlichem Hochmuthe auftrete. Aber um diesem Haß den Schimmer der Verachtung zu geben, dazu benutze man vorzugsweise jene widerliche Schaar von Musikanten und Bettlern, mit welchen Deutschland St. Petersburg zu überschwemmen pflege und unter denen die Harfenistinnen eine hervorragende Rolle spielen, die sich keineswegs auf das Singen und das Handhaben ihres musikalischen Instrumentes beschränke. Dieselben seien meistens in Elz, einem großen Dorf in Nassau, das in nächster Nähe des katholischen Bischofssitzes Limburg a. d. Lahn gelegen, zu Hause. Kein Mensch in der Welt bringe eine solche Elzer Künstlerin dazu, an einem Freitag Fleisch zu essen, sonst seien dieselben aber durchaus nicht skrupulös. Dasselbe Dorf liefere auch ganze Trupps von Seiltänzern und Gliederverrenkungskünstlern nach Rußland, und das Alles gereiche keineswegs in majorem Germaniae gloriam.

Ein Dritter der Abendgesellschaft in Bibra’s Restauration kannte genau das Treiben dieser qualificirten Bettler in Holland und schilderte uns dasselbe wie folgt: „In Holland haben sie sich mehr auf den Hausirhandel geworfen. Sie kommen aus den nassauischen Verwaltungsbezirken Montabaur und Selters und handeln mit Steingeschirr und Thonwaaren, welche dort fabricirt werden. Ein ‚Unternehmer‘ hat so und so viele gedungene Personen jüngeren Alters um sich. Sie werden mit einer Kietze mit Thonwaaren beladen und sind angewiesen, durch deren Verkauf und sonstwie, so gut es geht, Geld zu erwerben, das sie an den Unternehmer abzuliefern haben. Dabei werden nicht immer nur erlaubte Mittel angewendet, um zum Zwecke zu gelangen. Man nennt diese Menschen die ‚Landgänger‘, auch die ‚Kannenbäcker‘; letzteres mit Unrecht, denn sie fabriciren die Kannen, welche sie verkaufen, nicht selbst. Sie verlassen mit der Jugend, welche sie gedungen haben, im Frühjahr ihre Heimath und kehren im Herbste dahin zurück.“ –

Soviel über meine Beobachtungen und Unterredungen in England. In Wiesbaden machte mir schon früher der Medicinalrath Dr. Zais, einer der angesehensten dortigen Aerzte und zugleich Eigenthümer zweier großer und eleganter Gast- und Badehäuser am Theaterplatze, des „Hôtel Zais“ und der „Vier Jahreszeiten“, unter Vorlage vieler amerikanischer Zeitungen nähere Mittheilungen über das Treiben dieser unseligen Zugvögel jenseits des Oceans. Danach geht besonders in Californien der „Import“ von deutschen Kindern, namentlich aus Nassau und Hessen, sehr schwungvoll. Die Unglücklichen werden von den Unternehmern, die sie gedungen haben, unter Anwendung der abscheulichsten Grausamkeiten angehalten, auf den öffentlichen Plätzen und Straßen, noch mehr aber in jenen aus Holz und Baumwollenzeug bestehenden, über Nacht aus der Erde wachsenden Tanz-, Spiel- und Branntwein-Salons in St. Francisco, wo die „Digger“ (Goldsucher) ihre Beute verthun, durch die niedrigsten Verrichtungen und Preisgebung ihrer Person den Sündenlohn für ihre unmenschlichen Herren zu verdienen.

Die „Illinois Staatszeitung“ meldete vor einigen Jahren, daß in St. Francisco, aufgeregt durch einen besonders schreienden Fall, in welchem die Eheleute Hillebrand als Seelenkäufer und zwei noch nicht völlig erwachsene Mädchen aus Butzbach im Großherzogthum Hessen als Opfer figurirten, die öffentliche Meinung sich lebhaft mit diesen „weißen Sclaven“ beschäftigte und die Presse sich erhob, um dem Gräuel ein Ende zu machen. Am 13. August 1859 hatte sich die erwachsene männliche deutsche Jugend von St. Francisco in der dortigen Turnhalle in Masse versammelt, um unter dem Vorsitze des Dr. Löhr zu berathen, welche Maßregeln dagegen zu ergreifen seien. Es wurde beschlossen, alle gesetzlichen Mittel gegen diese Schändlichkeit aufzubieten, und ein Aufruf erlassen, in welchem alle Deutsche, sowohl in der Hauptstadt, als


  1. S. Gartenlaube 1861, Nr. 33.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 550. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_550.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)