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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

No. 36. 1864.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Nobles Blut.
Schloßgeschichte aus den Erinnerungen meines Vaters.
(Fortsetzung.

„Wer war der Herr, der mich von dem Hunde befreite und dann hierher führte?“ frug der Mönch.

„Es war der Herr Graf.“

„Und wer war der alte Herr, mit dem der Hund war?“

„Der Großvater des Herrn Grafen. Der alte Herr ist sehr alt,“ setzte der Diener von selbst hinzu, „schon in den neunziger Jahren. Da kommt der Mensch in seine Kindheit zurück.“

Er wollte noch mehr hinzufügen, brach aber das Gespräch ab.

Der Mönch war wieder allein. Er genoß ein halbes Glas von dem Weine, den der alte Diener ihm gebracht hatte, dann setzte er sich in einen großen, alten ledernen Lehnsessel, der in dem Zimmer stand, und überließ sich seinen Gedanken. War doch so Manches hier, was sie ihm beschäftigen konnte. Was er davon nicht selbst gesehen und gehört, hatte er durch den Lumpensammler und den Doctor erfahren. Und Alles, was er gesehen und gehört und erfahren hatte, waren Räthsel. Die kranke Frau, die nicht leben und nicht sterben konnte, bis sie ihren Mann wiedergesehen habe; ihr Mann, der sie nur wiedersehen konnte unter der Gefahr, von den rund umher auf ihn lauernden Franzosen erschossen zu werden; die schöne Gräfin, die verblendet war von der Leidenschaft zu dem schönen französischen Obersten, dem sie für den späteren Abend ein Rendez-vous versprochen hatte, dem sie dann den Gatten der sterbenden Frau verrathen sollte; der alte, neunzigjährige gebückte Graf, der in seine Kindheit zurückgekommen, dem der Geist vielleicht wohl ganz und gar zerrüttet war; der Enkel dieses alten Grafen, dessen stilles Wesen ebenfalls einen so eigenthümlichen Charakter gehabt hatte; jener Lumpensammler endlich noch: das Alles waren Räthsel. Dazu diese tiefe Stille des Schlosses und seiner Umgebung, die schon für sich allein ein Räthsel war. Einige von diesen Räthseln, vielleicht alle, mußten sich noch in der Nacht lösen, die angebrochen war. –

Der Mönch wurde in seinen Gedanken unterbrochen. Es klopfte Jemand an seine Thür.

„Herein!“ rief er.

Ein stattlicher, etwas runder Herr trat in das Stübchen.

„Guten Abend, Herr Pater.“

Der Pater erkannte die Stimme des Doctors, dessen Gespräch mit dem Lumpensammler im Walde er angehört hatte.

„Guten Abend,“ erwiderte er.

Der Doctor gehörte zu den vortrefflichen Aerzten, die immer klar, entschieden und entschlossen, ohne Umstände, dabei freilich auch etwas derb und kurz angebunden sind.

„Herr Pater, ich soll Sie zu einer Dame hier im Schlosse führen, die schwer krank liegt und wahrscheinlich die Nacht nicht überleben wird. Sie wünscht, Ihnen zu beichten und die Sterbesacramente von Ihnen zu empfangen. Ich bin selbst zu Ihnen gekommen, weil ich eine Bitte an Sie hätte.“

Der Mönch hatte sich den Arzt näher angesehen. Daß der Doctor ein braver, wohlwollender Mann sein müsse, hatte er schon aus dessen Worten im Walde entnommen. Er sah jetzt in ein braves, wohlwollendes, rundes Gesicht.

„Herr Doctor!“ sagte er.

„Was, Sie kennen mich?“ rief der Doctor.

„Sie sollen es hören. Ich wollte es Ihnen sagen, bevor Sie Ihre Bitte an mich aussprechen. Ich war vorhin im Walde Zeuge Ihrer Unterredung mit einem Fremden, den Sie Hauptmann nannten, und der sich mir gegenüber für einen Lumpensammler ausgegeben hatte. Ich weiß also vielleicht Manches von dem, was Sie mir sagen wollten.“

Der Arzt war einen Augenblick stutzig geworden. Dann sah er dem Mönch forschend in das Gesicht, und auch er hatte in ein ehrliches, braves Gesicht gesehen und war wieder beruhigt.

„Ich brauche meine Bitte kaum noch auszusprechen,“ sagte er. „Sie werden einer frommen edlen Frau die Beichte hören, die sich dennoch Manches vorwerfen wird, gerade weil sie so fromm und edel ist. Machen Sie ihr nicht ebenfalls Vorwürfe. Das sollte meine Bitte sein. Der Geistliche und der Arzt, sie haben ja, wenn es einmal zum Sterben kommt, eine Aufgabe: dem armen Sterbenden den Tod so leicht wie möglich zu machen. Der liebe Gott weiß ohnehin, was er ihm geben will. Aber ich sehe, ich brauche meine Bitte nicht mehr auszusprechen. Ist es Ihnen gefällig, Herr Pater?“

„Muß die Frau sterben?“ fragte der Mönch.

„Ich fürchte, ja.“

„Sie hat ihren Mann gesehen?“

„Nein. Und sie wird ihn wohl nicht mehr sehen. Es ist neun Uhr vorbei – Sie wissen ja Alles – und von allen Seiten kommen bestätigende Nachrichten, daß das Schloß von allen Seiten besetzt ist. Der – Lumpensammler ist ein kluger und gewandter Mann; hier wird alle seine Klugheit und Gewandtheit scheitern.“

„Gehen wir, Herr Doctor,“ sagte der Mönch. „Und was Ihre Bitte betrifft, so seien Sie unbesorgt.“

Der Mönch sprach die Worte in einem so eigenthümlichen Tone, daß der Doctor ihn darauf ansehen mußte. Das blasse Gesicht

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 561. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_561.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)