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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Verhältnissen des Kleinlebens „ländlich – sittlich“ zu sein pflegt. – So bin ich vor Kurzem noch in Gotha von einem Verehrer Fritz Reuter’scher Schriften, für dessen Ungeduld der dritte Band von „Ut min Stromtid“ gar zu lange auf sich warten ließ, alles Ernstes, als ob es sich um wirkliche Lebensverhältnisse handelte, gefragt worden, ob ich nicht wüßte, ob der Herr von Rambow auf Pümpelshagen doch am Ende durch seine steigenden Geldverlegenheiten genöthigt sein werde, sein Gut an den gemeinen Kerl, den Zamwell Pomuchelskopf, gegen einen Spottpreis abzutreten, oder ob vielleicht der Jude Moses noch einmal sich herbeilassen werde Geld vorzuschießen. – Ich wußte dem Herrn keine bessere Antwort zu geben, als daß ich ihm achselzuckend bemerkte, ich müßte über diese Angelegenheit noch ein discretes Schweigen beobachten – wobei derselbe sich denn auch beruhigte.

Aber das ist eben das Verdienst Fritz Reuter’s, daß er seine Schöpfungen zu Erlebnissen seiner Leser macht, daß er diese zur Mitleidenschaft, zur Theilnahme an dem Geschicke schlichter Menschen zwingt, an denen sie sonst kalt und theilnahmlos vorübergehen. Die optische Täuschung, daß der Leser selbst zu finden glaubt, was der Dichter für ihn gefunden, ist eben der Triumph des Dichters.

Fritz Reuter nimmt die Menschen wie sie sind, aber wie sie sich nur den humanen Anempfindungen des Humoristen offenbaren. Die Gestalten treten aus des Dichters schöpfungsfreudiger Seele wie aus einem goldig lichten Hintergrunde hervor. Ein mild ironischer Zug umspielt selbst die trüben Ereignisse, die der Dichter ebensowenig wie das Leben seinen Menschen ersparen kann. In Fritz Reuter’s Dichtungen ist nirgends etwas Weinerliches, ungesund Sentimentales. Auch in verzweifelten Lebenslagen erscheinen die komischen und naiven Persönlichkeiten in der vollen Komik und Naivetät ihres Wesens, dessen sie sich nun einmal nicht entäußern können. Es hilft dem Leser nichts – er mag noch so gerührt und erschüttert sein – er muß unter Thränen lächeln, vielleicht auch lachen. –

Hat doch auch der freudig goldige Glorienschein des Humors das Haupt des Dichters umleuchtet in den Kasematten preußischer Festungen, wo er, zu vieljähriger Gefangenschaft anstatt der Todesstrafe begnadigt, das Verbrechen abbüßen sollte als studirender Jüngling nutzlos für die deutsche Einheit geschwärmt zu haben. Man schrieb damals die dreißiger Jahre, in Preußen regierte Friedrich Wilhelm III., und Herr v. Kamptz führte die politischen Untersuchungen.

Die elende Philisterseele, die Fritz Reuter’s von Humor übersprudelndes und doch so rührendes Buch „Ut min Festungstid“ ohne Lachen, ohne Thränen und ohne Ingrimm lesen könnte, verdiente einen besonderen Ehrenplatz unter den Amphibien der vorzüglichsten aller zoologischen Gärten Deutschlands.




Ein unterirdischer Riesenbau im Oberharze.

Am Nachmittage des 5. August d. J. umstanden in der Nähe des am Fuße des Harzes gelegenen braunschweigischen Fleckens Gittelde, einige hundert Schritt von der Kunststraße, Tausende das Portal eines sogenannten Stollen-Mundlochs. Bergleute vom Oberharze und Landbewohner, nebst Curgästen aus dem nahen Badeorte Grund, harrten auf den Augenblicks wo eine in Clausthal in der Grube Elisabeth eingefahrene Mannschaft hier zu Tage austreten würde. Die Versammlung galt der Eröffnung eines großartigen Baues, der sich würdig den Aquäducten der Römer und allen Tunnelbauten der Neuzeit an die Seite stellt. Um dem Leser ein Verständniß dieses wichtigen Unternehmens zu vermitteln, muß ich indeß etwas weiter ausholen.

Der Harzer Bergbau war, wie öfter schon, durch die mit den bisherigen Mitteln nicht mehr zu beseitigenden Grundwasser gefährdet. Man hatte letztere bisher theils durch sogenannte Künste, d. H. Pumpenwerke, gehoben, theils in Abzugscanälen, Stollen, abgeleitet. Pumpenwerke heben bekanntlich das Wasser nur 32 Fuß hoch. Die hier angewendeten sind so zusammengesetzt, daß jede tiefer liegende Pumpe das 32 Fuß in die Höhe geförderte Wasser einer höher liegenden übergiebt. Die Pumpen werden durch mächtige Wasserräder, welche auf der Oberfläche von den Gefällen eines wohlgeordneten Teich- und Grabensystems bewegt werden, in Thätigkeit gesetzt. Das Gestänge, welches die Pumpenstangen hebt, dient in manchen Gruben zugleich zum bequemern Aussteigen der Bergleute aus dem Schachte. Es ist begreiflich, daß mit der zunehmenden Tiefe dieser Schächte die Lasten, welche die Gestänge zu halten und zu heben haben, ungeheuer und bei übergroßer Tiefe endlich unmöglich werden, zumal wenn im Frühlinge schmelzende Schneemassen die Grube zu „ersäufen“ drohen. – Weit einfacher ist die Entfernung der Grundwasser durch Stollen, deren Bau aber kostspielig und zeitraubend ist. Schon 1525 wurde der erste (Dreizehnlachter-)Stollen, der in Wildemann etwa 1300 Fuß über dem Spiegel der Nordsee mündet, getrieben, und in demselben Jahrhunderte sah man sich zu noch drei andern Stollenanlagen veranlaßt. Dadurch konnte der Bergbau zweihundert Jahre lang ungestört betrieben werden. Die Tiefe der Gruben unter der Sohle der vorhandenen Stollen nahm aber zu, die unterirdischen Maschinen hoben die Wassermenge nicht mehr bis zu jenen Stollen, und wieder drängte der überhandnehmende Feind den Bergmann, durch tiefere Stollen Abhülfe zu schaffen. Da faßte man nach längeren Untersuchungen und Verhandlungen 1771 den Plan, einen Stollen von der Bergstadt Grund aus zu den Clausthaler Gruben zu führen. Dieser Stollen – nach König Georg III. „Tiefer Georg-Stollen“ genannt – wurde in zweiundzwanzig Jahren (1777–99) mit einem Kostenaufwande von 412,141 Thlr. beendet. Er liegt etwa 970 Fuß unter Tage, ist mit allen Querdurchschlägen gegen 21/2 deutsche Meilen lang und nimmt die Gewässer der Clausthaler, Zellerfelder und Bockswieser Gruben auf.

Da aber bei seiner Beendigung einzelne Schächte schon tief unter seine Sohle niedergebracht und die Gesenke nur mit großer Anstrengung in Fluthzeiten von Wassern frei zu halten waren, so genügte sehr bald auch diese kostspielige Anlage nicht mehr. Vier Jahre nach Vollendung des Georg-Stollens suchte man deshalb die Tiefbaue der Hauptgrubenreviere durch eine 400 Fuß tiefere Wasserstrecke zu sichern, ermöglichte damit auch eine Concentration der Wasserwirthschaft und vermittelst Kähnen den Transport der Erze. Aber einen Ausgang hatten diese Gewässer nicht, sie mußten bis auf den Georg-Stollen gehoben werden, und die angestrengtesten Leistungen der Maschinen waren nicht immer im Stande, die Fluthen zu bewältigen, zumal auch der Georg-Stollen durch die Menge der hindurchdringenden Gewässer oft in Gefahr war, verstopft zu werden. Der Bergbau stand an einer Grenze, über welche hinaus nur der Bau eines tiefsten Tagestollens sichere Hülfe bringen konnte.

Erst 1850 kam indeß das Bergamt auf Grund markscheiderischer Messungen und allseitiger Erwägungen zu dem Beschluß, den jetzt in Gittelde mündenden Stollen in Angriff zu nehmen. Das königl. Hann. Ministerium genehmigte den Plan, die allgemeine Ständeversammlung des Königreichs stimmte dem Kostenanschlage von 419,000 Thalern bei, die herzogl. braunschweigische Regierung kam hinsichtlich des Ansetzpunktes in Gittelde dem Unternehmen entgegen, und so konnte am 21. Juli 1851 der Bau begonnen werden. Das Werk erhielt nach dem verstorbenen Könige den Namen Ernst-August-Stollen. Die Arbeit wurde auf zehn verschiedenen Punkten der Stollenlinie zugleich in Angriff genommen, was die Beendigung sehr beschleunigte. Ueberall in gleichen Dimensionen, nämlich bei einer Höhe von etwa 9 und einer Weite von 6 Fuß, hat der Canal auf der ganzen Länge einen gleichmäßigen Fall von 5,4 Zoll auf je 658 Fuß. Man hatte auf eine Arbeitszeit von 22 Jahren gerechnet, aber schon nach 12 Jahren 11 Monaten erfolgte am 22. Juni dieses Jahres der letzte Durchschlag. Es giebt einen Begriff von der Großartigkeit des Unternehmens, wenn man bedenkt, daß die ganze Länge des Stollens, einschließlich aller Nebenstrecken, 11,819 Lachter oder drei deutsche Meilen beträgt; daß etwa 11/2 Million Bohrlöcher in selbiges Gestein gearbeitet und über 2000 Centner Pulver verschossen wurden. Die Bohrlöcher aneinander gereiht würden eine Gesammtlänge von 60–70 deutschen Meilen ergeben.

Nur der frohe Sinn und die wie der Stein feste Beharrlichkeit des Bergmanns haben, wenn wohl oft auch unter Seufzern

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 574. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_574.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)