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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Der alte Diener Conrad war dem Freiherrn nachgeeilt, den die Franzosen aus den Armen der sterbenden Gattin gerissen hatten, den sie fortschleppten. Die Ohnmacht konnte nicht mehr retten. Die französischen Gensdarmen entfernten sich rasch mit ihrem Gefangenen, wie in eiliger Flucht. Sie waren, von einem Verräther geführt, auf den verborgenen, abgelegenen Wegen in das Schloß eingedrungen; sie verließen es auf dem kürzesten und geradesten Wege. Sie hätten der Eile nicht bedurft. Niemand im Schlosse trat ihnen entgegen, Niemand wagte nur, sich ihnen zu zeigen. Die Tyrannei und die Gewaltthätigkeit der Franzosen erfüllte den Deutschen damals noch mit Schrecken und Furcht.

Der alte, treue Diener Conrad war der einzige, der es wagte, den französischen Räubern nachzueilen, sie einholen zu wollen. Er erreichte sie nicht. Sie eilten die große, breite Treppe des Schlosses hinunter und flogen durch den Schloßhof, an dem runden Thurme zu Ende des Schlosses vorbei, durch das Pförtchen, das sich dort in der Mauer befand, an dem der Arzt vorhin den verrätherischen Kammerdiener der Gräfin im Gespräche mit den Franzosen getroffen hatte. Sie flohen weiter in’s Freie, dem Walde zu. Der alte Conrad kam zu der Erkenntniß, daß seine Verfolgung keinen Zweck habe. Er wollte umkehren.

Da sah er seitwärts im Park eine plötzliche Helle aufblitzen, aufflammen. Ein Feuer im Park? fast um die Mitternachtstunde? Was konnte das sein? Er ging dem Scheine nach und kam in die Nähe des Pavillons. Sehen konnte er nichts, als die Helle des Feuers durch die Gebüsche. Aber was er hörte, hemmte ihm den Schritt. Er vernahm das wilde, wüthende Schnauben eines Thieres – unter dem Schnauben den unterdrückten Angst- und Schmerzensschrei eines Menschen; es war der Schrei der letzten Todesangst, der nicht mehr hervorkonnte. Er vernahm noch mehr: den entsetzlichsten Angstschrei einer weiblichen Stimme. Eine furchtbare Ahnung ergriff ihn. Da hörte er andere Stimmen.

„Hei, Großvater!“

„Auf, mein Sohn!“

Er erkannte die Stimmen. Seine Ahnung wurde zur Gewißheit und die Gewißheit erfüllte ihn mit Todesangst. Er eilte zum Schlosse und holte den Arzt und den Hauptmann herbei. Er eilte mit ihnen zurück und theilte ihnen auf dem Wege mit, was er gesehen und gehört hatte. Draußen begegnete ihnen die Kammerfrau der Freifrau; er ließ durch sie auch den Pater herbeibitten. Ein Gedanke war in ihm aufgezuckt: bei dem, was geschah und kam, mußte der letzte Vernünftige des alten, dem Untergange geweihten Geschlechts sein. Er kam mit seinen beiden Gefährten in die Nähe des Thurmes. Es war dunkel dort. Ein Geräusch kam ihnen entgegen, von der Parkseite her.

„Der alte und der junge Graf!“ flüsterte der Diener.

„Sie kommen hierher.“

„Sie werden zum Thurme wollen.“

„Unzweifelhaft! Sie sind es gewesen, die wir vorhin in dem verborgenen Gange hörten. Sie konnten nur in dem Thurme sein.“

„Was mögen sie vorhaben?“

„Verbergen wir uns.“

Sie verbargen sich an der anderen Seite des Thurmes. Zwei Personen kamen vom Parke her näher.

„Sie sind es, der alte und der junge Graf,“ sagte der Hauptmann.

„Sie tragen etwas!“

„Einen Menschen!“

„Allmächtiger Gott, es ist die Gräfin. Ich höre das Rauschen ihres seidenen Kleides.“

Der alte Graf und der junge Graf waren an der Thür angelangt, die in den Thurm führte. Sie standen still.

„Lassen wir sie zur Erde,“ sagte der alte Graf. „Ich muß die Thür aufschließen.“

Sie ließen den menschlichen Körper, den sie trugen, zur Erde nieder. Man hörte das dumpfe Stöhnen einer Frau.

„Sie lebt!“ flüsterten sich die entsetzten Stimmen der Dreie zu, die an der Seite des Thurmes verborgen standen.

„Was wollen sie mit ihr in dem Thurme?“

„Ich ahne es,“ sagte der alte Conrad. „Wir müssen retten.“

„Nur nicht ihnen jetzt entgegentreten,“ sagte der alte Conrad.

„Der alte Graf wird Waffen bei sich tragen; der Hund, der Hannibal – er ist nicht bei ihnen; aber er wird in der Nähe sein, dort – mich schaudert, wenn ich an das Schnauben zurückdenke! Ein Ruf des Grafen führt ihn her.“

„Warten wir das Weitere ab,“ sagte der Arzt.

Der alte Graf hatte die Thür des Thurmes aufgeschlossen.

„Nehmen wir sie wieder auf, Moritz.“

Sie nahmen die Frau wieder auf. Man hörte wieder ihr entsetzliches, unterdrücktes Stöhnen. Konnte sie nicht laut rufen, um Hülfe? Sie verschwanden mit der Frau in dem Innern des Thurmes. Die Thür wurde nicht wieder zugeschlossen.

Die drei Verborgenen traten hinter dem Thurme hervor und nahten sich der Thür. Gleich an der Thür führte eine Wendeltreppe in den oberen Theil des Thurmes. Sie blieben an der untersten Stufe der Treppe stehen. Die Treppe hinauf trugen die beiden wahnsinnigen Grafen die Frau. Es war ein langsames und mühsames Schleppen.

„Wohin werde ich gebracht?“ stöhnte die Frau.

„Gieb ihr keine Antwort, Moritz,“ befahl der alte Graf seinem Enkel.

Sie trugen schweigend die Frau weiter. Auch die Gräfin schwieg. Sie erreichten das obere Ende der Treppe. Eine Thür wurde aufgestoßen; sie war nur angelehnt gewesen.

„Die Thür zu dem frühern Wohnzimmer des Grafen,“ sagte der alte Kammerdiener des Grafen zu seinen beiden Gefährten.

„Hier, mein Sohn,“ sagte der alte Graf, „sind wir an unserem Ziele; lassen wir sie los.“

„Gehen wir hinauf!“ flüsterte der Hauptmann. „Jetzt gilt es. Aber sie dürfen uns nicht hören, wenn wir nicht zu spät kommen wollen, wenn nicht geschehen sein soll, was wir verhindern müssen.“

Sie erstiegen mit leisen Schritten die Treppe und standen vor der offenen Thür des ehemaligen Wohnzimmers des alten Grafen, das er aber seit fünfzig Jahren heut zum ersten Male wieder betreten hatte. Es herrschte tiefes Dunkel in dem Zimmer. Man konnte nichts von dem unterscheiden, was darin war. Aber das Ohr vernahm durch die Dunkelheit desto schärfer. Und – vor fünfzig Jahren hatte der alte Diener dort ein Stöhnen und ein Wimmern gehört, dessen Erinnerung ihn noch immer mit lähmendem Schreck durchfuhr – was jetzt sein Ohr vernahm, und was mit ihm seine beiden Gefährten vernahmen, und was sie dann sahen, das sollte mit seinen furchtbaren Schrecken sie zu Bildsäulen erstarren machen, mit den Schrecknissen der Gegenwart, des Augenblicks, mit jenen noch immer ungelösten entsetzlichen Räthseln der Vergangenheit eines halben Jahrhunderts.

Der alte Graf sprach zu der Verbrecherin. Seine Stimme war nicht mehr heiser; sie erklang klar und volltönend. Die Worte, die er sprach, legten Zeugniß ab, daß in diesem Momente sein Geist von den Fesseln des Wahnsinns befreit war.

„Und nun, meine Gnädige, Sie wollten wissen, wohin man Sie bringe? Vernehmen Sie es von mir. Ich bringe Sie in Gesellschaft. Es ist eine edle Gesellschaft und Sie sind ihrer nicht würdig. Sie sollen dennoch in ihr sterben. Die Nähe der Edlen wird vielleicht die Buße desto reuiger in Ihnen erwecken, und der Himmel wird Ihnen dann vielleicht verzeihen, was wir, die Menschen, Ihnen nicht verzeihen konnten. Hören Sie mir zu. Vor fünfzig Jahren lebten hier eine tugendhafte und gottesfürchtige Frau und ein edler und frommer Mann, aber auch zugleich ein Mensch, der durch böse Leidenschaften sich das Herz schlecht und verhärtet gemacht hatte. Der verhärtete Mensch war ich; die tugendhafte Frau war meine Gemahlin; der edle Mann war mein Bruder. Meine Härte ließ mich Beide hassen. Meine eigene Schlechtigkeit ließ mich gegen Beide einen unwürdigen Verdacht fassen. Meine Leidenschaftlichkeit steigerte den Verdacht zum Wahnsinn. Die Unglücklichen fielen als Opfer meiner Eifersucht. Sie war kein untreues Weib, er war kein verrätherischer Bruder. Als es zu spät war, erkannte ich es. Ich verfiel in Wahnsinn. Er war meine Strafe. Ich hatte das Bewußtsein meines Wahnsinns; es war die entsetzlichste Strafe, die die Gerechtigkeit Gottes über den Menschen verhängen kann. Mein Herz verhärtete sich noch mehr, immer mehr – ach, das war doch wohl meine schwerste Strafe. – Mein Wahnsinn war keine völlige Nacht des Geistes. Er ließ mich Vieles erkennen. Er ließ mich auch Sie erkennen, meine gnädige Frau, Sie, der ich die Ehre erwiesen hatte, einem edlen und erlauchten Geschlechte angehören zu dürfen. Ich erkannte Sie schon seit einiger Zeit als ein ungetreues, verrätherisches Weib, das die eigene Ehre und die Ehre eines erlauchten Hauses frech und schamlos mit Füßen trat. Heute – heute trieben Sie

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 612. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_612.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)