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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Ihre Frechheit und Schamlosigkeit mit einer fast herausfordernden Offenheit, gaben Sie mir selbst das Schwert der Züchtigung in die Hand – heute haben Sie zum letzten Male ein menschliches Angesicht, das Licht des Himmels erblickt. Folge mir mit ihr, Moritz, mein Sohn! Es ist Alles bereit.“

Man hörte ihn drei Schritte vorantreten, eine Thür aufreißen. Es war die Thür seines ehemaligen Schlafgemachs. Ein mächtiger Lichtstrahl drang plötzlich durch die Thür. Wachskerzen ohne Zahl verbreiteten die Helle des Tages in dem Gemach. In dieser Helle gewahrte man gerade der geöffneten Thür gegenüber ein hohes Himmelbett. Die weißen Vorhänge waren dicht zugezogen. Vor dem Bett lagen an der Erde zwei menschliche Gestalten. Sie lagen nebeneinander, lang ausgestreckt. Es waren ein Mann und eine Frau. Sie lagen in ihrer vollen Bekleidung da: die Frau in einem Kleide von schwarzer Seide; die Kleider des Mannes waren von Blut bedeckt. Aber die volle Bekleidung umhüllte keine menschlichen Körper mehr. Zwei Skelete waren von ihr umschlossen, seit fünfzig Jahren so.

Das Räthsel des halben Jahrhunderts war gelöst. Ein Grausen durchfuhr, lähmte die drei Männer an der Thür. Ein furchtbarer Schrei drang aus der Brust der Frau.

„Auf, auf, mein Sohn!“ rief der alte Graf.

Mit dem blöden Lachen des Blödsinns hob der junge Graf seine Gemahlin auf. Er trug sie zu der Thür des hellen Schlafgemachs. Sie ließ sich willenlos tragen. Der alte Graf stand an der Thür, in der Hand den Schlüssel zum Verschließen, sobald die Unglückliche in das Gemach gestoßen war.

„Wirf sie hinein!“ sagte der alte Graf.

Der Blödsinnige wollte sie hineinwerfen.

„Zurück – haltet ein!“ rief eine Stimme.

Es war eine mächtige, befehlende Stimme. Sie kam wie die Stimme Gottes, und ein Diener Gottes hatte die Worte gerufen. Der alte Mönch war auf den Ruf der Kammerfrau zu dem Thurme gegangen, hatte die Treppe erstiegen, sich still hinter die Drei gestellt, die oben an der Thür standen. Er war vorgetreten, mitten in das Zimmer. Seine Gestalt war hoch aufgerichtet.

„Haltet ein!“ rief er. „Ich befehle es Euch im Namen des Herrn. Und ich habe noch ein anderes Recht und eine andere Pflicht, es Euch zu befehlen. Ich, Eures Stammes der Letzte, dem der Himmel das Licht des Geistes bewahrt hat, ich, der Graf Adolph von Frankenberg, bin das Haupt der Familie, das außer mir nur noch zwei Mitglieder zählt, und diesen ist der Verstand verwirrt. Ich bin der Herr hier! Ich bin Euer Herr! Und ich befehle Euch, lasset ab von dieser Frau, vermesset Euch nicht in Eurer Thorheit, Gerechtigkeit üben zu wollen im Namen des ewigen Gottes! Du aber, sündiges Weib, entweiche aus diesem Hause, das Du entweiht hast; kehre nimmer – nie hierher zurück!“

Der alte Graf war zusammengezuckt, als er die Stimme des Mönchs vernahm. Er hatte einen Blick des Entsetzens auf den hohen Priester Gottes geworfen. Nur eine Secunde lang. Er hatte den Verwandten, den von ihm mißhandelten Verwandten erkannt. Der Geist verwirrte sich ihm wieder. Er lachte laut auf. Das Lachen wurde heiser, krampfhaft. Er sank um und fiel zu den Skeleten am Boden. Der Schlag hatte den mehr als neunzigjährigen Greis getroffen. Der Todte war zu den Todten gefallen.

Der Mönch kniete nieder zu den drei Entseelten und betete lange still, wie er bei der Leiche der Freifrau gebetet hatte. Er erhob sich. Die Gräfin hatte sich entfernt. Der blödsinnige junge Graf war ihr singend gefolgt. Der Sinn war ihm ganz verwirrt.

Der Mönch wandte sich zu dem Arzte, dem Hauptmann und dem alten Diener.

„Ich bin Mitglied des Ordens der Franziskaner und habe das Gelübde der Armuth abgelegt. Ich kann nicht Herr dieses Schlosses und dieser Güter werden. Sie fallen zurück an den Fürsten, von dem meine Familie sie zu Lehn trägt. An seiner Statt regiert jetzt ein despotischer Feind im Lande. Er wird die Güter in Besitz nehmen. Aber die Zeit, in der wir leben, geht vorüber; auch die Tage dieses Feindes sind gemessen. Deutschland wird wieder frei werden. Dann werden auch diese Güter wieder ihrem rechtmäßigen Herrn zufallen. Tragt Sorge für die Bestattung der Leichen.“

Er wandte sich und kehrte zurück zu dem Zimmer der todten Freifrau. Er betete die ganze Nacht bei ihrer Leiche und betete gewiß auch für Andere. Am Morgen las er die Messe in der Schloßkapelle. Dann kehrte er in sein Kloster zurück. Wie das Gelübde der Armuth, so hatte er auch das des Gehorsams zu erfüllen.

Der Freiherr wurde bekanntlich nicht erschossen. Er wurde längere Zeit in Frankreich gefangen gehalten und später hat er seinem Vaterlande noch lange und viele Dienste geleistet.

Die Gebeine des Mönches ruhen in dem Kirchhofe des aufgehobenen Klosters Heiligenkreuz.

Das edle Geschlecht der Grafen von Frankenberg ist ausgestorben. Schloß und Herrschaft Frankenfelde sind landesherrliche Domaine.

J. D. H. Temme. 




Bilder aus dem Londoner Verkehrsleben.
3.
Das „leere“ London. – Die große nördliche Verkehrsader des New Roads. – Euston Road. – Die Westströmung der englischen Gesellschaft und ihre Analogien in andern Großstädten. – Das wandelnde Butterbrod. – Eine Rifle-Compagnie. – Die Etagen der Londoner Unterwelt: Gas-, Wasser- und Cloakencanäle. – Das Wunder der Wunder: die unterirdische Eisenbahn. – Kaffee wie in Frankreich. – Eine Burg des Humbugs.

August, und noch in London? Pfui, wie unfashionabel! denkt der Leser, der bewandert ist im eisenstrengen Gesetzbuch englischer Sitte und Etikette. Wie gemein! In London zu bleiben, wenn die Saison vorüber, wenn kein Mensch mehr in der Stadt ist, als die Rotüre, die „Niemande“, die unglücklichen paar Millionen, welche schaffen und arbeiten, handeln und markten müssen zu ihres Leibes Nahrung und Nothdurft und zu Anderer Lust und Genuß; wenn das Parlament vertagt ist und die Minister ihre classischen Weißfische in Greenwich längst verdaut haben; wenn alle Welt, Palmerston und Russell voran, auf den schottischen Hochlandsmooren Birkhühner schießt oder im Lande umherreist und volksbeglückende Reden vom Stapel läßt; wenn selbst der Citykrämer und der Cityschreiber sich Ferien machen und sammt Mistreß und Misses Töchtern und Gentlemen Söhnen als falsche Lords und unechte Ladies unsere Kellner und Hoteliers am Rhein und in der Schweiz in Ehrfurcht und Bewunderung schrecken, – mit einem Worte, wenn keine Seele, die auf Anstand hält, in London bleibt oder sich mindestens nicht mehr auf der Straße blicken läßt, sondern in die hintersten Hintergemächer ihrer verschlossenen Wohnung verkriecht, damit ja die Welt nicht merkt, daß sehr triftige Gründe ein Zurückziehen auf Güter und Jagdgründe nicht verstatten. Entsetzlich, wahrhaft entsetzlich die Idee!

Die Stadt ist leer, meinen Sie; ganz leer, leer zum Grauen und Fürchten. Sie haben Recht, sehr Recht – nach Londoner Begriffen. Ich meinerseits wette aber, der Fremde, der heute anlangt in London, findet das eben nicht, wenn er jetzt mit uns durch das elegante Halbrund von Park-Crescent in den New Road einbiegt, jene marktbreite lange Straßenperspective, die, wie wir schon wissen, im Norden den Saum der eigentlichen Stadt bildet. Man kann sie als eine Art von Boulevard gelten lassen, wenn man bei dem Worte nicht gerade an die Pariser Boulevards mit ihrem wandelnden und sitzenden, plaudernden und flanirenden, ganz- und halbweltlichen amusanten Schlaraffenleben denkt, ein Boulevard, der in einem mehr als anderthalb deutsche Meilen großen Bogen als nördlichste Communicationslinie Westend und City verbindet und direct vom prachtvollen Stationshofe der großen Westbahn in’s Centrum des Weltcentrums, nach Bank und Börse führt. Wer vom Norden oder Nordwesten aus nach London kommt – also bei weitem die Mehrzahl der Landeskinder selbst und die Zuzügler aus

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 614. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_614.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)