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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

der andern Erdhälfte, selten aber der Deutsche, den meist die Themse oder die Südbahn über Dover heranträgt, – immer ist es dieser stundenlange New Road, wo der Fremde den ersten Fuß auf den Boden der Hauptstadt setzt. Die bewegliche Omnibusbarrikade, zwischen der wir uns eben über die Straße hinüberschlagen müssen, würde das Neulingsauge kaum als ein Zeichen der „todten Zeit“ erkennen, in der kein Mensch in der Stadt ist, wie der gute Ton mit zäher Beharrlichkeit behauptet.

Dieses New Road, das Local, der Ausgangspunkt unsers heutigen Londoner Streifzugs, das Mundloch der Unterwelt, die wir heute besichtigen wollen – erschrecken Sie nicht, eine höchst civilisirte und wohlorganisirte Unterwelt – die Decke des neuen unterirdischen Schienenwegs, folglich etwas näher kennen zu lernen – ist ein mehrnamiges Geschöpf. Der Kopf, das heißt die Strecke vom Westbahnhof bis zum Regentsparke heißt Mary-le-bone Road, nach einem der fünf sogenannten Flecken, boroughs, getauft, welche nebst der City und der Stadt Westminster das endlose Häuserconglomerat ausmachen, das man heute unter dem allgemeinen Namen London begreift. Der Schwanz, der verlängernde Anhang, der Theil, der vom berühmten Omnibusstrahlenpunkte, dem Engelwirthshause, das uns aus mancher Dickens’schen Novelle ein lieber alter Bekannter ist, durch das mittelbürgerliche Islington erst in südöstlicher, dann in rein südlicher Richtung über Finsbury und Moorgatestreet nach dem Allerheiligsten Londons, nach der Bank von England, läuft, wird der City Road genannt; das Mittelstück, das wir eben erreicht haben, ist der Euston Road, weil es sich etwa in der Hälfte seiner Ausdehnung zu dem stattlichen Euston Square erweitert; weiter östlich wird’s zum Pentonville Road. Und wie je nach den Umgebungen der Name, so wechselt auch der Charakter der Straße. Im Allgemeinen zeigen sich uns zwar überall rechts und links kleine schmale Vorgärten, manchmal wohlgepflegte Plätzchen mit netten Blumenbeeten und frischen Sträuchern, öfters rußüberstreute Flecke dürftigen abgetretenen Rasens mit einem elenden verkümmerten Baume im Winkel, hinter deren Eisengittern gleichförmig und monoton wie eine Reihe Soldaten die ungetünchten verräucherten Backsteinhäuser je drei Fenster breit nebeneinander aufmarschiren; dennoch tragen die einzelnen Theile der großen Verkehrsarterie ihr ganz bestimmtes Sondergepräge.

Wir fassen Posto, wo wir eben angelangt sind, in Euston Road. Das ist der exclusive Theil der großen Nordcommunication, aber darum noch lange keine fashionable Nachbarschaft im englischen Sinne, immer nur ein respectabler Mittelclassenbezirk. Hier an den Squares und Plätzen der Umgegend, auch in den Palastcombinationen um den Regentspark wohnt der Kaufmann, der einen sichern Grund zur Börsengröße gelegt hat, doch bei Weitem noch nicht zu den Cityfürsten zählt, welche draußen um die ehemalige Richtstätte von Tyburn herum ihre Privatresidenzen besitzen; hier haust der Arzt, welcher die alleroberste Staffel seines Gewerbes noch zu erklimmen hat, der Advocat, der nicht durch Geburt „von Familie“ und damit hochlebig ist, der Künstler, der Schriftsteller, der angesehene Lehrer, – kurz hauptsächlich die Gesellschaftsschichten, die man als „professional men“, das heißt, Leute vom gelehrten Handwerk bezeichnet. Vordem, noch im ersten Viertel dieses Jahrhunderts waren hier Rang und Mode heimisch, bis Ausgangs der zwanziger Jahre die große Emigration von Adel, Geldaristokratie und Gentry gen Westen begann und diese Tendenz nach Abend allmählich die gesammte wohlhabendere Bevölkerung ergriff. Alles drängt westwärts, eine Classe immer der andern nach; denn je westlicher, je vornehmer, und wer möchte in dem trotz aller politischen Freiheit gesellschaftlich durch und durch aristokratischen England nicht gern vornehm, mindestens „respectabel“ sein? Merkwürdig, daß ganz ähnliche westliche Strömungen auch in anderen europäischen Großstädten wahrzunehmen sind! In Paris sind die Quartiere um das Bois de Boulogne, um die Champs Elysés, vor der Barrière de l’Etoile die vorzugsweise eleganten; nach Morgen im Faubourg St. Antoine sitzt der Ouvrier. In Berlin bilden die Straßen um den Thiergarten, um den Anhalter Bahnhof, vor dem Brandenburger und Potsdamer Thore das Rentiers- und Geheimrathsviertel, während im Osten in der Königsstadt, auf dem Köpniker Felde, vor dem Rosenthaler Thore u. a. m. sich Geschäft und Arbeit placken, um sich so schnell wie möglich in den Westregionen zur Ruhe setzen zu können. Auch in Frankfurt a. M. liegen die Millionärpaläste zumeist am Westsaume der Stadt, und selbst in Leipzig tritt eine „Weststraße“ mit gewissen hochmüthigen Prätentionen auf. Sind dies zufällige Erscheinungen, oder hängt dieser Zug nach Westen mit der Bewegung der menschlichen Cultur überhaupt zusammen, die ja auch in der nämlichen Richtung vorschreitet? – –

Hier rechts auf den breiten Stufen der neugothischen Kirche stellen wir uns auf, das Straßenbild festzuhalten, das sich vor unseren Augen entfaltet, der Künstler mit uns, der es mit raschen Strichen für die Gartenlaube skizzirt. Die weite Perspective, welche die breite regelmäßige Straße gewährt, eine der wenigen Londons, deren aus einem Gusse systematisch geschehene Anlage die Ausschmückung mit Baumalleen gestattet hat, ist an einem Tage, wie der heutige, wo die Luft klar ist und der Himmel die graue Landesfarbe abgelegt hat, wirklich überraschend schön. Und sehen Sie sich um, meine Theuerste, wollen Sie sich noch einreden, daß London jetzt todt und langweilig ist? Dem eingeweihten Auge mag das Gemälde allenfalls um einen Ton gedämpfter, um einen Schalten minder brillant erscheinen, als im Mai und Juni, wo die Saison in Hochfluth geht; allein wie wenig thut das dem Gesammteffect Eintrag! Haben wir denn nicht ringsum eine unablässig wechselnde Fülle von Leben und Bewegen? Sind da nicht gleich zwei wandelnde Butterbrode auf einmal? Sie haben recht gehört, in London wandeln die Butterbrode in den Gassen umher. Sandwich, zu deutsch Butterstolle, ist der technische Ausdruck für jene Burschen, deren Lebensberuf darin besteht, mit Bretern auf dem Rücken oder über der Brust in den Londoner Straßen umherzuspazieren, um dem Publicum irgend eine Ankündigung, meist von Abendergötzlichkeiten und ähnlichen Vergnügungen, aber auch – von Predigern und Gottesdiensten, recht augenfällig zur Schau zu tragen. Und unsere Freunde, die kleinen Schuhwichser, sie fehlen auch nicht, und der hier dicht zu unseren Füßen, der sieht gar nicht so griesgrämisch drein, wie sein feiernder College, den wir in Piccadilly sahen, denn das Macadam ist jederzeit schmutzig, bei schlechtem Wetter vom Regen und bei gutem von den Ergießungen der Staubsprengwagen, und so halten hier auf dem New Road die hurtigen Schelme fast immer ihre Ernte. Auch eine Metropolitan-Rifle-Compagnie, ein Zug jener freiwilligen Scharfschützencorps, die seit einigen Jahren zu den stehenden Typen des Londoner Straßenlebens gehören, die exerciren und manövriren mit Feuer und ohne Feuer, als sei das Vaterland in allerhöchster Gefahr, schon ein zweiter Wilhelm der Eroberer über den Canal gelandet und ein anderes Hastings zu fürchten, kommt mit dem commandirenden Officier zu Pferde uns entgegen, um zum Uebungsplatze zu marschiren. Dazwischen laufen Cabs und Hansom’s Cabs, jene zweirädrigen und zweisitzigen flinken Sicherheitsdroschken, welche der Kutscher von erhabenem Hintersitze über das Verdeck hinweg leitet, nach allen Richtungen, und schwerbeladene Omnibus von und nach Kings Croß und nach und von Paddington rollen aneinander vorüber, und die Conducteure auf den Außentritten recken unablässig die rechten Zeigefinger empor, um noch mehr lebendige Fracht zu kapern. Das geht so still, so rasch, kein ewiges ohrenzerreißendes Klingeln wie bei uns, kaum ein Halt; ein schneller Zug an der mit dem Kutscher correspondirenden Schnur und der neue Passagier des „Bus“ ist ein- oder aufgestiegen. Wie lärmt, wie schreit, wie rasselt, wie blökt’s durcheinander, denn zum Ueberfluß drängt sich noch eine Schafheerde, die von dem berühmten neuen Viehmarkt auf dem Caledonian Road in Islington heimgetrieben wird, durch das Gewirr von Menschen, Rädern und Pferden.

Ist das nicht Lebens genug? Verlangen Sie noch mehr Gewühl, noch ärgeres Getöse? Geduld! Sie sollen noch mehr davon haben; ganz nach Herzenslust. Hören Sie jetzt das dumpfe Gedröhn, das aus der Tiefe zu unsern Ohren dringt? Ist’s nicht, als wanke der Boden zu unsern Füßen, als schicke er sich eben zu einem kleinen Erdbeben an, als stünden wir buchstäblich auf einem Vulcane, welcher sich plötzlich aufthun wolle, um uns und das ganze profane Treiben des großen Babels zu verschlingen? Doch keine Angst, die Erde bebt nicht, der gute ehrliche Londoner Lehmboden ist nicht über Nacht zum feuerspeienden Berge geworden, das sind blos Lebenszeichen aus jener Unterwelt, die meine Wünschelruthe Ihnen jetzt erschließen soll.

Der Durchschnitt ist geschehen. Ah! Sie staunen, und wahrhaftig, es ist staunenswerth, was wir erblicken, so überraschend und frappant, daß auch Freund Maler herantritt, das untere Bild zugleich mit dem obern in seine Mappe einzufangen, schnell, so lange die Kraft meiner Hexerei vorhält.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 615. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_615.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)