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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

in ein halb unterirdisches Winzerdorf: in unregelmäßigen Windungen und Ecken dringen eine Menge von Gäßchen und Schluchten in den Berg hinein, augenscheinlich ohne irgendwelchen Plan angelegt, im Schooße der Erde Felsenwohnungen und oben als Dach die schönsten Weingärten. Jeder Winzer hat hier nach seiner Bequemlichkeit sich seine Wohnung im Felsen ausgebrochen, unbekümmert um alle Symmetrie. Ehe wir das Innere betraten, standen wir einen Augenblick still, und ich konnte mich eines Gefühls sonderbarer Rührung nicht erwehren. Hier also wohnten die Leute, die mit ihrer Arbeit den glänzenden Tafeln reicher Leute den schönsten Schmuck verleihen! Hier in den Winkeln und Felsenecken stehen die einfachen Geräthe, die den herrlichsten Saft der Traube zu Tage fördern! Dort vor den Höhlen sitzen die armen Leutchen, die im Schweiße ihres Angesichts Jahr aus Jahr ein an den sonnigen Berghalden für kümmerlichen Lohn schaffen! Während ihre Erzeugnisse über die Feste der Mächtigsten ihr begeisterndes Licht ausstreuen, müssen die armen Winzer ihre Stätte aufschlagen unter der Erde, entsagen sie um wenige Gulden Ersparniß den sonnigen Freuden der Welt!

Der alte Bauer sah uns bedeutungsvoll an, er schien zu errathen, was wir im Augenblicke dachten. „Ja, ja, arme Leute sein’s freilich, aber sie wohnen doch gerne hier und alle Jahre werden neue Häuser gebaut.“ Er hatte Recht, man bricht noch immer neue Höhlen aus, weil sie doppelten Vortheil gewähren, denn nicht nur werden neue Wohnungen dadurch geschaffen, sondern man treibt mit den hier oben ausgebrochenen Steinen einen einträglichen Handel nach Pesth, wo sie das trefflichste Material zu den Prachtbauten der schönen Stadt liefern. „Aber nun kommen’s, meine Herrn,“ sagte ungeduldig der Alte, als wir noch immer am Eingänge standen. „Sie müssen noch Vieles sehen.“ Und so führte er uns denn hinein in die eigentlichen Gassen. Wie malerisch lagen die einzelnen Hütten dort! Hier steigen wir herunter, dort müssen wir wieder hinaufklettern, unten zwischen menschlichen Wohnungen, oben zwischen Weingärten. Dort zieht sich ein schlecht gehaltener Friedhof auf der Hochebene entlang, oben die Todten und unten die Lebenden; auch unser Führer zieht uns hinauf auf den Friedhof. Wir sind seine Freunde geworden, und nun will er uns auch seine lieben Todten zeigen. „Da liegt mein einziger Sohn,“ sagt er, indem er auf einen kleinen Hügel zeigt.

„Woran ist er denn gestorben?“

„Am Ungrischen,“ war die räthselhafte Antwort. „Ja, ja, am Ungrischen,“ wiederholte er, als wir ihn fragend anblickten. Wir sind hier deutsche Leute und Keiner kann ein Wort Ungrisch, aber jetzt wollen’s doch Alles wieder ungrisch machen, und da mußte ich mein Kind auch fortschicken in ein andres Dorf, wo eine ungrische Schule ist, und dabei hat sich der Bube in dem kalten Winter auf dem Wege eine Krankheit zugezogen, und nun liegt er da, und ich und mein Weib sind wieder ganz allein.“ Wir standen eine Weile still und fühlten das Leid des Mannes mit, und das schien ihm wohl zu thun.

Wieder steigen wir hinab, und ein neues Wunder überrascht uns: die Steine, die wir erst für Leichensteine ansahen, sind Schornsteine, der Rauch des Kaffeefeuers dringt ja daraus hervor, und tief unter den Todten sitzen die Lebenden vor ihren Wohnungen, halbnackte Kinder spielen auf den Steinen umher, während sich die Erwachsenen ernster beschäftigen. Unser Erscheinen macht einiges Aufsehen, und unser guter Alter hat eine Menge neugieriger Fragen zu beantworten, als z. B. daß wir Ausländer und noch weit hinter Böhmen zu Hause seien, daß wir durchaus nicht gekommen wären, um neue Vermessungen vorzunehmen und neue Steuern auszuschreiben, wir seien nur gekommen, um uns Alles einmal anzusehen. Dann wurden die Leutchen zutraulicher; freundlich wurden wir eingeladen näher zu treten, und bereitwillig führten sie uns in das Innere ihrer Wohnungen. Hier fanden wir Alles, oben, unten und an den Seiten, Stein und nichts als Stein, aber weiß getüncht, zuweilen sogar gemalt. Ueberhaupt machten die Zimmerchen, die im Ganzen sehr reinlich gehalten waren, lange nicht einen so trüben Anblick, als man von draußen vermuthen mußte. „Das hätten’s wohl nicht glaubt, daß es hier bei uns so ausschaut?“ sagte unser Alter, als er sich mit uns an den einfachen Tisch einer solchen Wohnung setzte. „Ja, ja, es giebt noch bessere hier, wir sein ja Deutsche.“

Damit wollte er sagen, daß die Deutschen in Ungarn sich immer vor allen Anderen durch häusliche und wirthschaftliche Ordnung auszeichnen. Wahrhaft rührend ist die Anhänglichkeit, mit welcher die Leutchen noch vom alten Vaterlande sprechen, wie sie bei ihren sonst so beschränkten Lebensansichten doch das Interesse an den Vorgängen in demselben nicht verlieren. Wie freudig lauschten sie, als wir ihnen von dem Kriege erzählten, den jüngst die Deutschen für ihre bedrängten Brüder im Norden gegen die Dänen führten! Die ganze Liebe zur Heimath, zu dem schönen Schwabenlande, wo ihre Vorfahren gewohnt, schien in ihnen wieder zu erwachen, und während wir so plauderten, zog ein Trupp von jungen Burschen und Mädeln vorüber und sang eines jener lieblichen oberösterreichischen Volkslieder, die aus der gemüthlich sprudelnden Heiterkeit des süddeutschen Volkslebens so keck emporgewachsen sind.

Unser Führer drängt abermals weiter, er will uns noch mehr zeigen. Wieder durchwandern wir die Schluchten, jeder Punkt eine Studie für den Maler. Es gehört wahrlich kein geringes Orientirungsvermögen dazu, sich beim Herabsteigen in den Gäßchen zurecht zu finden, die wie eine Guirlande den Fuß des Berges umschlingen. Hütten, Gehöfte, nette Steinhäuschen, zerfallene Brunnen, wüste Plätze und Baracken wechseln in bunter Reihenfolge mit einander ab. Nichts von der Behaglichkeit der deutschen Dörfer; das Meiste scheint Nothbau oder Verfall zu sein, da es jedoch Sonntag ist und die Leute in ihrem Sonntagsstaate erscheinen, so fällt ein Schimmer von idyllischer Heiterkeit auf das Ganze.

Wir kommen jetzt an einem Wirthshause vorüber; wie lieblich und einladend sieht das aus! Vor dem Eingänge sitzen unter weit hervorspringendem Dache die älteren Bauern und sehen vergnügt dem lustigen Treiben der Jugend zu, die nach den grellen Strichen der Zigeuner-Geigen munter umherspringt. Wir wollten hier einen Augenblick verweilen, aber unser Führer zieht uns vorüber, er hat noch etwas Wichtiges für uns bereit. Wir folgen ihm, und bald gähnt uns der gewaltige Bogen einer mächtigen Felsenhöhle entgegen, welche die Natur geschaffen hat. Ergriffen von dem interessanten Anblick starrten wir in die Finsterniß, in diesen Eingang zur Unterwelt hinein? Welche malerische Zusammenstellung von Baracken, Felsstücken, Arbeitsgeräthschaften aller Art, Wagen, Leitern etc. scheint sich dort in der Höhle zu verlieren; wie bunt ist die Staffage, welche die halbnackten Kinder und größeren Bewohner dieser Höhle bilden! Die wildeste Phantasie könnte es sich nicht kühner zusammenstellen. Aber treten wir ein, die Höhle ist ja nur erst der Eingang zu einem jener berühmten Promontorer Weinkeller, die so große Mengen des flüssigen Goldes verbergen. Dort hinten aus der Finsterniß schimmert uns ein Licht entgegen, und darauf lossteuernd kommen wir vor den Eingang des Kellers. Ein alter Mann nebst Frau und ein jüngeres Paar waren eben mit dem Proben eines alten Fasses beschäftigt. Einen Moment sahen uns die Leute ob der Seltenheit eines solchen Besuchs an, dann aber, als wir nach Kräften uns entschuldigten, wurden wir um so herzlicher aufgenommen, und namentlich die hübsche junge Frau verstand es, die so gerühmte ungarische Gastfreundschaft mit vieler Liebenswürdigkeit zu üben. Schnell wurden noch ein Paar Gläser hergebracht, und schon nach einigen Augenblicken sprachen und tranken wir, als wären wir alte Bekannte.

Der Keller, in dem wir uns befanden, war einer jener alten Riesenkeller von Promontor, die, wie man uns versichere, oft 40–50,000 österreichische Eimer Weins enthalten und Jahrhunderte schon die riesigen Fässer beherbergen. Viele Generationen der besitzenden Familie haben sie erlebt und immer noch bergen sie den flüssigen Schatz. Mit sichtbarem Stolze zeigte uns der junge Mann dieses und jenes Faß und machte uns genau mit dem Alter und der Herkunft des Weines bekannt, während er uns von den verschiedenen Sorten zu kosten gab. Ein Stündchen später, und wir waren wieder auf der Oberwelt, die eben von der untergehenden Sonne beleuchtet wurde.

Unser alter Bauer war sichtlich gerührt, als wir ihm mit der aufrichtigsten Herzensfreude für die Ueberraschungen dankten, die er uns bereitet hatte. Er erwiderte, stolz und verschämt zugleich: „Es habe ihm selbst Freude gemacht, fremden Herren einmal so Etwas zu zeigen, es komme ja so selten ein Fremder hierher.“

Wir stiegen nun vollends zum Ufer der Donau hinab, um auch den untern Theil des Dorfes zu sehen, das hier zwischen üppigen Obstgärten sich lang am Ufer hinzieht. Heerden kamen nach Haus und brüllten fröhlich ihren Ställen entgegen. Wagen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 636. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_636.jpg&oldid=- (Version vom 30.7.2017)