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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

probiren, ob er schon lose ist; ist er noch fest, so lassen wir ihn ruhig sitzen.“ Der Faden wird umgeschlungen, ein kleiner schwacher Ruck, und wahrhaftig, da baumelt er schon, der kleine allerliebste Mausezahn, am abgestumpften Kegelende mit einem schimmernden frischrothen Blutpünktchen geziert.

Die Thür geht auf, die Thür wie andere Thüren nicht ohne Schlüsselloch; der glücklich Operirte kehrt weinend zu seinen Geschwistern zurück, die natürlich nicht etwa – zugesehen haben. Denn erstens stehen sie ganz am andern Ende des Zimmers, und zweitens nicht überall, wo die Kinder zuzusehen wünschen, ist dies erlaubt. Ueberhaupt müssen sie nicht so neugierig sein und nicht von Allem wissen wollen, sonst werden sie zu früh alt.

Die ersten Schuhe.

Glücklicherweise sind diese Fälle ausgeschlossener Oeffentlichkeit nicht häufig. Wenn ein slovakischer Hausirer altes Geschirr mit Drahtgeflecht bestrickt, wenn der Glaser eine Scheibe einsetzt, wenn der Uhrmacher die große Kastenuhr auseinandernimmt, oder der Böttcher Reifen um das Faß schlägt, wenn der Maurer Mörtel mischt – der fette weiße Kalk ist die Schlagsahne, der bräunliche Sandkies zuckersüßes Backwerk – bei Gartenarbeiten und beim Wäscherollen, beim Zuckerschlagen und Bratenausschneiden, beim Packen zu versendender und beim Oeffnen angekommener Kisten, und bei einer Menge anderer interessanter und lehrreicher Vorgänge in Haus und Hof, dürfen die Kinder frei und ungehindert, was sie so gerne thun, und was nur sie allein mit dieser selbstvergessenen, sich ganz in den Gegenstand versenkenden Naivetät zu thun vermögen – zusehen.

Die Reise in der Kinderstube.

Aber wie die Zeit vergeht bei dem – Zuschauen! Da dämmert es schon, und doch ist’s nicht zum Fortkommen aus diesem Himmel, ja es wird immer schöner, je länger wir zwischen unseren vier Wänden verweilen, und was schmeckt denn dem Kleinsten da so gar gut? Sein eigener Schuh! Wer sieht euch nicht mit leiser, wonniger Rührung an, ihr kleinen lieben Kinderschuhe!

Abends, wenn das kleine Volk ausgezogen und zu Bett gebracht ist, stehen an der Thür der Kinderstube, paarweise, in langer Reihe, Schuhchen aller Gattungen, bei deren Anblick wir gern verweilen. Winzige Schlappschuhchen stehen da, nicht viel größer als Puppenschuhe, mit mehr Neigung und Geschick, in den Mund gesteckt zu werden, als aufrechten Ganges das Kind zu tragen.

Schuhchen, die wie „ein Pfeil“ kriechen.

Schuhchen, denen wir Bedeutungsvolles genug nachzusagen glauben, wenn wir anführen, es sind die ersten „kalbledernen“ schwarz gewichsten; das kindische Prunken mit rothem Saffian und blanken, gelben Knöpfchen ist für sie eine längst überwundene Jugendthorheit.

Schuhchen, die nach vielen verübenden Gehversuchen endlich die ersten freien Schritte ohne Anhalt gethan.

Schuhchen, die, wenn sie nicht mehr laufen wollen, gar schmeichelnd „uppa“ betteln, um auf den Schooß genommen zu werden.

Schuhchen, es sind Mädchenschuhe, von so leichtem, kurz schreitenden, und doch unendlich fixen Gangwerk, daß ihr Hin- und Hertappeln an die zierliche Behendigkeit der Rebhühner erinnert.

Schuhchen, es sind charaktervolle Knabenschuhchen, deren fester, sicherer Schritt auf den Ernst und die Willenskraft künftiger Jahre hinweisen, und leichtlebige Schuhchen, die ein Gelübde abgelegt zu haben scheinen, niemals zu gehen, sondern stets zu hüpfen, zu springen, zu traben und zu galoppiren.

Schuhchen, die mit einem schwungkräftigen „Hopsa“ über die Gosse gehoben werden.

Schuhchen, hochbeglückt dadurch, daß sie beim letztmaligen Besohlen knarren gelernt.

Schuhchen, die den nach Hause kommenden Eltern die halbe Straße lang entgegen laufen.

Schuhchen mit der Devise wasserdichten Selbstvertrauens „durch Dick und Dünn“, die von draußen ganze Rittergüter an den Sohlen mitbringen und zur Fußbürste zurückgeschickt werden mit der Weisung: „Vorher aber erst tüchtig den Strauchbesen gebraucht!“

Schuhchen, gedankenvollem Baumeln ergeben, die nach melancholischer Auffassung den „Esel zu Grabe läuten“.

Schuhchen, fein lang und schlank, von schwarzem Zeuge mit Glanzlederspitzen; sie haben Tanzstunden und stehen in regelrechter dritter Position.

Schuhchen, die gar zu gerne schon Halbstiefel wären, junge Halbstiefelchen, die den Wunsch hegen, zum Geburtstage Anschlagesporen zu bekommen, und andere, noch ehrgeizigere Halbstiefelchen, die sich bereits in still verwegenen Hoffnungsträumen als wirkliche effektive Schäftenstiefel erblicken.

Man sieht, es herrscht eine große Mannigfaltigkeit der Charaktere, Eigenarten und Thätigkeiten unter den Schuhchen so gut, wie unter den Kindern, die sie tragen, aber eine Eigenschaft ist durchgehend – kleine Reißteufel sind sie alle.

Laßt sie reißen in Gottes Namen! Besser eine große Rechnung vom Schuster, als vom Apotheker.

Was sollte sonst aus dem höchsten Fest in diesem Himmel des Hauses werden, wenn das Christkindlein bescheert und seinen Sack ganz ausleert? – Wie waren doch die Tage in den letzten Wochen alle so lang! Endlich ist der letzte Tag ertragen und der heilige Abend auch, und das ist die letzte Nacht, – und morgen ist’s endlich Morgen! O Du liebe Ungeduld!

Die Sonne wußte recht gut, weshalb sie gestern Abend so frühzeitig in die entlegenste Südwestecke hinabsank, sie hat einen weiten Weg unten um die ganze Erde herum, ehe sie wieder aufsteigt im Osten. Der Zeit aber ist das ganz recht, sie will wieder einbringen, was in den übergeschäftigen letzten Tagen an rennender Hast zu viel geschah, oder will sie gar, im demüthigen Gefühl ihrer Endlichkeit, ganz und gar vom Posten gehen und der Ewigkeit selbst die Ehrenwache bei den hochheiligen Mysterien überlasten?

Dennoch schwingt der Pendel, die Zeiger rücken, der Glockenhammer hebt sich, wenn die schleichende Stunde endlich vollbracht ist.

Der Hahn wird unruhig auf seiner Latte, obwohl er weder selbst Bescheerung erwartet, noch für seine Familie heimlich aufgebaut hat. Er krähte schon mehrmals und läßt sich nicht länger irre dadurch führen, daß noch Mond und Sterne scheinen, er hat

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 685. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_685.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)