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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

die Uhr im Kopfe. Die Hofthür wird geöffnet, der Widerhall des Hauses erwacht vom Scharren des Kehrbesens, benutzt aber, verschlafen wie es Alle sind nach den vielen Störungen in der Nacht, jede kleine Pause, abermals einzunicken zur köstlichen Nachruhe.

Es poltert im Ofen, Kleider werden geklopft, der wache Morgen schreitet immer dreister einher, dringt immer weiter vor in das Gebiet der Träume und ruft endlich, das blendende Licht in der Hand: „Kinder, steht auf!“

Endlich, endlich ist es Morgen! Morgen, der aber doch immer noch Nacht ist, der einzige Morgen des ganzen Jahres, an dem auch die kleinsten der kleinen Leute bei Lichte aufstehen – dies allein schon ein Ereigniß, eine That, ein Wunder und Glück, das reine Märchen!

Nicht selten müssen sehr kräftige Erweckungsmittel angewandt werden, um die fesselnde Kraft der „himmlisch warmen Bettchen“ zu überwinden. Heute fährt das gesammte Aufgebot der Kinderbeine beim ersten Anruf zugleich heraus – wie ein Bein, und die Schnelligkeit des Ankleidens wird nur von der fröhlichen Verwirrung, die sie erzeugt, übertroffen – und gehemmt.

Endlich trotz aller Confusion fertig gekleidet, fügen sich die Kleinen, die doch sonst nicht genöthigt zu werden brauchen, nur der kategorisch festgehaltenen Weisung, erst noch ruhig zu frühstücken.

Welch ein Zauber für die Kindesseele, eben wieder erstanden aus dem Schlummer, rein und klar wie der sternhelle Morgen, in der ganzen, unberührten Frische eines neuen Tageslebens, an dem noch keine prosaische Erinnerung der Gewöhnlichkeit haftet, das noch kein, wenn auch nur in unbewußter Trübung des Behagens nachwirkender, schnellvergessener Streit, keine paradiesaustreibende Unart entstellte – der höchsten Freude des Jahres entgegen zu gehen! Welch ein Zauber in dieser Verschmelzung der Reize aller Tageszeiten und der entgegengesetztesten Stimmungen, in dieser Nachtdunkel, strahlendes Kerzenlicht und Morgenweihe, Entzücken und Andacht in Eins verwebenden, zeitlos ideellen Wunderwelt! Welch ein Zauber, wenn beim wohlbekannten Klange des Silberglöckchens die Thürflügel aufgehen, von unsichtbarer Hand bewegt, als wären es wirklich geflügelte Thüren, und die stürmisch Herbeigeeilten, geblendet von all dem Glanze, nun doch im ersten Augenblick wie erstarrt auf der Schwelle stehen bleiben, bis der Eltern ermunternder Zuruf zum Nähertreten auffordert – welch ein Zauber, wenn nach der süßen Betäubung erster allgemeiner Freude die jubelnde Besitzergreifung der köstlichen Gaben folgt, wenn ein Jeder gerade das findet, was er „sich am meisten gewünscht“ – die Mädchen ihre Puppen, die sie gar nicht mehr aus dem Arme lassen, die Knaben Trommeln und Trompetchen, deren lustiger Schall dem Feste so wesentlich ist, wie der Glockenklang des Frühgottesdienstes – welch ein Zauber, wenn den Zweigen des Christbaumes jener eigenthümlich würzige Duft entströmt, der, mit keinem andern Wohlgeruch vergleichbar, noch in der Erinnerung so magisch wirkt, daß die Kinder schon wochenlang vor dem nächsten Feste jeden verlöschenden Wachsstock, von Wonneschauern der Vorahnung durchrieselt, begrüßen: „Es riecht nach Weihnachten!“ Welch ein Zauber auch dann noch, wenn die letzten herabgebrannten Lichtchen im Tannengrün zwischen den zurückgeschlagenen Fenstervorhängen die Rosen des Osthimmels aufglühen sehen, den goldigen Alpenschnee der Morgenwolken über den Häusern, die wallenden Rauchsäulen, purpurdurchleuchtet, nicht als stiegen sie aus Schornsteinröhren empor, von Feuerstätten, aus denen klafterweise gekaufte Birken- und Kiefernkloben gebrannt werden, sondern wie Opferdampf flammender Cederscheite, der auf seinen Schwingen die Andacht heiliger Beter emporträgt! – Und von der Höhe dieses Morgens die Aussicht nicht wie bei der Abendfeier auf das immer zu frühe Zubettgestecktwerden, sondern auf einen ganzen langen Tag, dessen frommes Gebot festlicher Muße die Spiel- und Naschfreuden zu einer Gewissenspflicht macht!

So! Nun laßt uns aus dem Himmel scheiden in seinem liebsten Glanz! Wir machen mit frohem, reichem Herzen die Thür auf, die „aus unsern vier Wänden“ wieder in das Leben des Alltags führt, und klappen den Deckel des köstlichen Buches zu, in welchem die kunstreiche Hand eines Kindesherzens die Bilder aus dem Kindesleben so wunderbar schön und wahr gemalt hat. Drückt ihm recht warm die Hand, dem Rudolf Reichenau und auch den Künstlern Pletsch und Bürkner, und wer sein Herz frisch und gut erhalten will, der lasse sich recht oft von ihnen in den Himmel des Hauses führen: er wird, und säße er selbst in diesem Himmel zwischen den eigenen vier Wänden, durch solche Führer ihn immer höher würdigen, immer inniger lieben lernen.[1]

Fr. Hfm. 




Alles hat seine Wissenschaft.

Das Rasiren ist eine chirurgische Operation, und zwar eine der schmerzhaftesten. Wer durch die Umstände dazu verdammt ist, sie an sich vornehmen zu lassen oder selbst vorzunehmen, gehört unter die unglücklichsten Menschen. Verlorenes Vermögen, Zahnschmerz, Arm- und Beinbrüche, Untreue der Geliebten – das sind alles zwar höchst traurige Ereignisse, aber sie gehen vorüber und am Ende lächelt Einem wieder die Hoffnung einer besseren Zukunft. Dagegen steht Dir das Rasirtwerden alle Tage bevor. Das wußten schon die alten Griechen, und ich würde den für einen sehr oberflächlichen Denker halten, der noch nicht eingesehen hätte, daß in der gewaltigen Prometheusmythe das Schicksal der zum ewigen Leiden verdammten Männerwelt mit dem Zauber der versöhnenden Poesie umgossen werden sollte. Prometheus ist ein Mann, welchem es gesellschaftliche Stellung, eheliche Verhältnisse oder Farbensinn nicht erlauben, seinen Bart lang und voll zu tragen; der Felsen, an den er geschmiedet, ist der durch die Phantasie des Dichters verklärte Rasirschemel; die alle Tage aufs Neue wachsende Leber bedeutet eben den Bart, welchen der Geier, der Barbier, allmorgentlich ihm wieder abhackt.

Du magst den Barbier, der Dich aus Deinem schönsten Morgenschlummer stört, wohl einmal fortschicken, „es wäre heut nicht nöthig“; allein Du täuschest Dich selbst. Sobald Du zu klarer Beurtheilung der Verhältnisse gelangt bist, fühlst Du, daß Du Dich mit dem struppigen Kinne nicht unter den Menschen sehen lassen kannst, ohne Deine männlichen Reize der bittersten Bekrittelung ausgesetzt zu sehen Was bleibt Dir übrig, als Dich selbst zu rasiren – und nach qualvollem Besinnen entschließest Du Dich dazu.

Mit der überaus wehmüthigen Vorahnung, daß es wohl auch nicht sehr gut schneiden wird, langst Du das Rasirmesser aus seinem alten Futterale. Der Gedanke an die teuflischsten Folterwerkzeuge hat etwas Süßes im Vergleich zu dem Vorgefühl, welches ein stumpfes Rasirmesser hervorzurufen im Stande ist, und weder die Aussicht auf englisches Pflaster, noch die auf blutstillenden Schwamm kann als ein ausgiebiger Trost erscheinen.

„Wir setzen uns mit Thränen nieder“ ist diesmal nicht der Schlußchor der Passion, sondern die Ouvertüre.

Allein „Du hast’s gewollt, Octavio.“

Uebrigens kannst Du das feinste Rasirmesser nehmen und es auf das Sorgfältigste abziehen lassen, wenn Du es unter dem Mikroskop betrachtest, so zeigt sich seine Schneide durchaus nicht als eine scharfe ununterbrochene Linie, sondern sie hat, mannigfach zerrissen und gezählt, ein unregelmäßiges, sägenartiges Aussehen.

Die einzelnen Risse, welche die Zähne von einander trennen, werden theils durch die Poren des Stahles, theils durch die Einwirkung des rauhen Schleifsteines, endlich auch durch den Druck beim Abziehen hervorgebracht, und da sie natürlich nur von ungemeiner Kleinheit sind – man kann mehr als 600 auf das Zoll rechnen

  1. Das so freudenreiche Prachtbuch, welches uns Gelegenheit bot, einige der schönsten Kinderseligkeiten zu belauschen, führt den Titel: „Aus unsern vier Wänden, von Rudolf Reichenau. Erste Abtheilung: Bilder aus dem Kinderleben. Zehnte Aufläge. Mit 66 Originalzeichnungen von Oscar Pletsch, in Holz ausgeführt von H. Bürkner. Leipzig, Fr. Wilh. Grunow. 1865.“ – Sollen wir zur Empfehlung desselben noch ein Wort zu obigem Artikel hinzufügen, in welchem nur Abschnitte des Textes im Auszug zu einem runden Ganzen verwebt und mit Proben der Illustrationen ausgeschmückt sind, so könnte es nur die Anerkennung für die Verlagshandlung sein, daß sie durch höchst elegante und geschmackvolle Ausstattung des Dichters und des Künstlers Werk in der würdigsten Gestalt dem Publicum vorführt. Jeder Mutter wird das Buch die schönste Weihnachtsgabe sein.
    D. Redaction. 
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 686. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_686.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)