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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

von Empfindungs- auf Bewegungsnerven nennt man in der Wissenschaft „Reflex, Ueberstrahlung“, und die so ohne und gegen den Willen erzeugten Bewegungen „Reflexbewegungen“. Die Kinderkrämpfe sind in sehr vielen Fällen solche Reflexbewegungen; bisweilen werden sie natürlich auch durch Krankheiten im Nervencentrum veranlaßt.

Daß nun aber bei kleineren Kindern häufig Reflex-Krämpfe auftreten, hat seinen Grund darin, daß in dem noch sehr weichen Gehirne bei nur einigermaßen heftigerer Reizung der zuleitenden Nerven das Ueberspringen jener elektrischen Fünkchen auf eine große Anzahl auch entfernt von einander liegender Bewegungsnerven leichter vor sich geht, als bei Erwachsenen. So sah Verfasser beim eigenen Kinde mehrtägige sehr heftige allgemeine Krämpfe in Folge einer starken Reizung des Gehörnerven (durch einen Dampfwagenpfiff) eintreten. Deshalb kommen bei Würmern im Darme, bei leichten Reizungen der Haut, beim Zahnen etc. oft schreckenerregende Krämpfe bei Kindern zum Vorschein, die aber sehr bald und ohne Anwendung irgend eines Arzneimittels wieder verschwinden. Allerdings gesellen sich solche Krämpfe nicht selten auch zu nicht ungefährlichen Krankheiten, besonders im Athmungs- und Verdauungsapparat, aber auch diese Reflexkrämpfe haben keine so gefährliche Bedeutung wie die Krämpfe, deren Ursache im Schädel sitzt. Glücklicher Weise sind diese letzteren (centralen) Krämpfe seltener als Reflexkrämpfe.

Wenn Verfasser nun durch diese Darlegung eines Theils die Angst der Mütter bei vorkommenden Krämpfen ihrer Kinder in Etwas zu beschwichtigen gesucht hat, so möchte er andern Theils aber auch noch vor dem vielen Mediciniren bei Kinderkrämpfen warnen. Man bedenke doch nur, daß der Arzt bei diesen Leiden in den allerwenigsten Fällen die Ursache der Krämpfe mit Sicherheit ausfindig machen kann und daß es gewissenlos ist, auf gut Glück hin wirksam einzugreifen. Verf. würde es niemals über das Herz bringen können, kleinen Krampfpatienten Blutegel an den Kopf zu setzen und das scheußliche Calomel einzugeben, ja er ist sogar der festen Ansicht, daß schon manches mit Krämpfen behaftete Kind nicht diesen, sondern den Mitteln unterlegen ist. Leider nur zu oft öffnete Verf. Kinder, welche unter Krämpfen gestorben waren, bei denen das Gehirn widernatürlich blutarm gefunden wurde, obschon im Leben mit Energie gegen Blutüberfüllung und Entzündung des Gehirns gekämpft worden war. Man möchte wahrlich, selbst als Feind der ganz unwissenschaftlichen homöopathischen Heilkünstelei, doch bei Kinderkrämpfen, wenn es denn durchaus nicht ohne Arzt und Arznei geht, einen Homöopathen mit seinen Nichtsen in Streuküchelchen und Tröpfchen empfehlen.

Ein vernünftiges diätetisches Verfahren bei diesen Krämpfen richtet sein Augenmerk darauf, daß die natürlichen Functionen im kindlichen Körper gehörig in Ordnung gehalten werden. Man lasse den kleinen Patienten in guter, reiner, mäßig warmer Luft athmen und in weichem, trocknem, warmem Lager ohne beengende Kleidung ruhen, sorge durch Klystiere für Stuhlentleerung, fördere die Hautthätigkeit durch warme Waschungen oder Bäder und erhalte die Ernährung mittels leichtverdaulicher nahrhafter Kost (besonders durch Milch und Ei) aufrecht. Ist’s freilich möglich, die Art und den Ort der Reizung, welche durch Ueberstrahlung die Krämpfe hervorrief, aufzufinden, dann muß dieselbe natürlich zu heben versucht werden, aber nur auf unschädliche Weise. Das überlasse man dann einem rationellen Arzte.

Bock. 




Die Spielhölle in Wiesbaden.[1]
Von Paul Frank.
2. Ein Beispiel von Hunderten.

Eines Tages flanirte ich im Westende von Wiesbaden, auf der Emser Straße, einer mit hübschen Gärten und einzeln stehenden Landhäusern flankirten Chaussee. Ziemlich weit draußen beredete mich mein Begleiter, in einen bescheidenen Wirthsgarten einzutreten, wo die Leute aus der Stadt ihren Aepfelwein und ihre saure Milch nehmen und zugleich auch die Fuhrleute und Bauern von draußen einzukehren pflegen. Wir fanden in dem Garten eine Gruppe, die mich interessirte. Zwei Bauern hörten mit Aufmerksamkeit, ja beinahe mit Andacht, einem Dritten zu, der halb leise und ganz heiser zu ihnen sprach. Dieser Dritte war halb bäuerlich und halb städtisch gekleidet. Er hatte, was bei den hiesigen Bauern eine große Seltenheit ist, eine mächtige Glatze. Sein Gesicht war durchfurcht von einem Netze tiefer Runzeln und Einschnitte, welche sich um die Augen herum zu einer solchen Hautwulst zusammenästelten, daß man nur zeitweise die kleinen grauen Augäpfel zu sehen bekam. Neben sich hatte er einen ledernen Büchsenranzen liegen, aus welchem vergilbte und schmutzige Papiere hervorsahen. Der Mann interessirte mich. Ich erkundigte mich bei dem Wirthe nach ihm und erfuhr, daß er ein durch das Spiel heruntergekommener, ehedem reicher Bauer sei, der jetzt zu den „problematischen Existenzen“ gehöre. Seine Geschichte ist kurz, aber lehrreich. Hier ist sie:

Der Mann hatte ein schönes Bauerngut in dem zwischen den Bädern Schwalbach und Schlangenbad mitteninne liegenden Dorfe Wombach. Man schätzte sein Vermögen auf etwa fünfzigtausend Gulden rheinisch. Er war verheirathet mit einer jungen und hübschen Bäuerin, die ihm zwei kräftige Jungen geboren hatte. Die Ehe war glücklich, die Frau wirthschaftlich und ordnungsliebend, der Mann fleißig. Sie kamen hübsch vorwärts oder – um einen bei den hiesigen Bauern grassirenden Provinzialismus zu gebrauchen, über den ich, so oft ich ihn hörte, habe lachen müssen – sie „empörten sich gehörig“, d. h. sie kamen empor. Der Bauer hatte schon in seiner Jugend die Spinnstuben und sonstigen bäuerlichen Vergnügungen nicht aufgesucht, die bei Branntwein und einer hier zu Lande üblichen Art Tabak, die Miggeseriwer heißt und übel duftet, gefeiert zu werden pflegen. Er schien sich für etwas Besseres zu halten und war deshalb bei seinen Standesgenossen mißliebig. Man beschuldigte ihn des Stolzes. So kam es, daß er, da nun einmal ein jeder Mensch das Bedürfniß nach menschlicher Gesellschaft hat, öfters nach dem benachbarten Bade Schwalbach ging und dort den Umgang der Kleinstädter suchte. Damals wimmelte es hier zu Lande noch von Spielhöllen. Sogar das kleine Schwalbach und das noch kleinere Schlangenbad hatten jedes seine „Bank“. Jetzt sind die kleinen „Banken“ verschwunden. Sie trugen den Unternehmern nicht genug ein. Das Laster des Spiels hat sich concentrirt auf einige große Etablissements, wovon eins gefährlicher ist, als früher ein Dutzend kleine.

Damals, als unser Wombacher Bauer, – er hieß Peter – nach Schwalbach ging, war ein Baron Fechenbach Bankhalter, wie auch gegenwärtig ein Baron Wellens Chef der Wiesbadner Spielhöllen-Actiengesellschaft ist. Wenn es heißt „der Baron“, so versteht man darunter den Chef des Spiels. So ein adeliger Titel giebt dem Spiel Lüstre, auch wenn er unecht ist. Bei dem „seligen Fechenbach“ war er aber echt. Sein Vater lebte als pensionirter Officier in einem Städtchen am Main. Er hatte sechs Söhne und ließ sie alle sechs gar nichts lernen. Ein Freund fragte ihn: „Aber lieber Baron, was soll aus Ihren sechs Söhnen werden; Vermögen haben Sie nicht, und Sie lassen den Jungen auch nichts lernen?“ – „Bah“, antwortete der alte Baron, „wenn sie groß sind, gebe ich Jedem ein Spiel Karten in die Hand und schicke ihn in die Welt, da mag er sein Glück machen und sich mit der Karte den Weg suchen.“ Mit der Karte meinte er natürlich nicht die Landkarte, sondern das Kartenspiel. Einer dieser sechs Söhne, die der alte Baron mit einem so sicheren Wegweiser in die Welt geschickt hatte, war der Spielbaron Fechenbach in Schwalbach. Er verstand sein Geschäft. Schwalbach war und ist noch kein Luxus-, sondern ein Heilbad. Sogenannte „große Spieler“ kamen nicht hin. Man mußte daher der klugen Spinne nachahmen, die, wenn keine großen Fliegen in das Netz flogen, keinen Anstand nahm, in Erwartung besserer Glücksumstände, auch die kleinen zu verspeisen. So war denn in den damaligen Spielhöllen, und auch in Bad Schwalbach, der geringste Satz eine österreichische Silbermünze,


  1. S. Nr. 3, 1864.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 712. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_712.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)