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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

„Wo?“

„Hinter jenen Buden.“

„Folgen Sie mir von Weitem.“

Sie ging nach den Buden, und ich folgte ihr von Weitem. Im Gehen wandte sie ein paar Mal den Kopf zurück, ängstlich, wie es schien, nicht nach mir. Zwei Geistliche standen dort, wohin sie sich wandte, katholische Geistliche, in den langen schwarzen Priesterröcken, mit den niedrigen, breitgekrämpten schwarzen Hüten. Sie sahen nicht nach ihr. Hatte sie sich davon überzeugen wollen? Und warum fürchtete sie diese Geistlichen, während sie mich ausgesucht hatte, weil ich Geistlicher war? Hinter den Buden wartete sie auf mich.

„Ich logire im Gasthofe zur Stadt Amsterdam,“ sagte ich zu ihr. „Er ist mir empfohlen. Wünschen Sie einen anderen?“

„Fahren wir hin. Ich kenne hier keinen Gasthof.“

Schweigend saß sie auf unserer Fahrt neben mir im Wagen. Nur manchmal hörte ich sie schwer und bang aufseufzen. Als wir vor dem Gasthofe hielten, ergriff sie auf einmal meine Hand; sie drückte sie fast krampfhaft.

„Ich gehe einem schweren Schicksale entgegen,“ sagte sie mit gepreßter, zitternder Stimme. „Verlassen Sie mich nicht,“ setzte sie, wie in höchster Angst, hinzu.

Wir waren ausgestiegen.

„Befehlen Sie ein oder zwei Zimmer?“ fragte der Kellner.

„Zwei!“ sagte sie.

Der Kellner führte uns ein paar Treppen hinauf und wies uns dort zwei nebeneinander gelegene Zimmer an.

„Werden Sie heute noch ausgehen?“ fragte sie mich, während wir die Treppen hinaufstiegen.

„Nur zu einer Promenade durch die Stadt, falls Sie meiner nicht bedürfen sollten.“

„Vor der Hand danke ich Ihnen.“

Sie ging in ihr Zimmer, ich in das meinige. Ich kleidete mich um zu der Promenade durch die Stadt. Meine Gedanken waren nur mit der Dame beschäftigt, mit ihrer Trauer, mit dem schweren Geschick, dem sie entgegenging, mit dem Geheimnisse, das über dem Allen lag. Ich hörte sie in ihrem Zimmer nebenan auf- und abgehen; ihr Schritt war bald rasch, bald langsam; sie mußte in großer Unruhe, in schwerem Kampfe mit sich sein. Manchmal, wenn sie stand, seufzte sie wieder so tief und bang auf, als wenn die Angst ihr das Herz zuschnüre. Einmal sprach sie laut mit sich, nur wenige, abgerissene Worte:

„Es war schon vier Uhr vorbei – unter allen den Menschen nicht – auch er, auch er – was sind Schwüre?“

Dann eilte sie zu der Klingel in ihrem Zimmer; sie zog sie hastig. Jemand trat bei ihr ein.

„Wann kommt das nächste Schiff von Brügge?“ fragte sie.

„Es kommen jede Stunde Schiffe an,“ wurde ihr geantwortet.

„Gut.“

Sie war wieder allein. Sie öffnete einen Secretair, der in ihrem Zimmer stand, und setzte sich davor. Ich hörte, wie sie ein Blatt Papier nahm und faltete. Sie wollte schreiben, sprang aber wieder auf.

„Nein, nein!“ rief sie.

Sie durcheilte mit hastigen Schritten das Zimmer.

„Nein, nein!“ rief sie noch einmal. „Und was dann?“ fragte sie sich. „Nimmer!“ schrie sie fast auf, wie unter einem furchtbaren Schauder des ganzen Körpers.

Sie flog wieder an den Secretair und schrieb hastig, nur wenige Worte. Sie faltete das Papier zusammen und siegelte es zu.

„Es muß sein! Gott sei mir gnädig. Gott? –“

Sie stand auf. Ich hörte, wie sie an ihrer Kleidung ordnete. Sie verließ das Zimmer, schloß die Thür ab, ging den Gang, die Treppe hinunter. Ich sah durch das Fenster, das auf die Straße führte. Sie erschien auf der Straße, tief verschleiert und ging sie hinunter, in der Richtung, in der wir angekommen waren, die zum Kai führte. Ich glaubte die Worte zu verstehen, die ich sie hatte mit sich sprechen hören. Bald nach vier Uhr waren wir im Hafen angelangt; sie hatte dort Jemanden erwartet; darum ihre angelegentlich suchenden Blicke unter den Menschen am Ufer. Sie hatte ihn nicht gefunden. Er war nicht dagewesen, trotz seiner Schwüre nicht. Sie wollte jetzt zum Kai zurück, ihn noch einmal zu suchen. Er konnte unterdeß angekommen sein, von Brügge. Aber was hatte sie geschrieben? So combinirte ich. Ich mußte Gewißheit haben und ging ihr nach. Es war ein eigenmächtiges Eindringen in ihre Geheimnisse. Aber sie hatte sich ja unter meinen Schutz begeben.

Ich verfolgte die Straßen, durch die wir vorhin gefahren waren, und ich sah sie bald vor mir gehen. Sie ging rasch, eilig. Ich hielt mich zurück, um nicht von ihr bemerkt zu werden. Wir erreichten den Kai, wo es, wie immer, von Menschen wimmelte. Sie drängte sich durch die Menschen, durch die dichtesten Haufen, spähend, suchend. Sie ging zu der Stelle, an der vor etwa drei Stunden unser Schiff gelandet hatte; auch dort suchte sie vergebens. Sie fragte einen Matrosen etwas. Er zeigte mit der Hand nach einer anderen Gegend des Landungsplatzes der Schiffe. Hatte sie nach der Stelle gefragt, wo die Schiffe von Brügge landeten? Es war so. Sie ging dorthin, wohin der Matrose gezeigt hatte. Sie sprach dort wieder mit einem Schiffer. Ich hatte unter den vielen Leuten nahe zu ihr treten können. Ich hörte die Antwort des Menschen.

„Heute kommt kein Schiff von Brügge mehr, Madame.“

Sie zuckte heftig zusammen. Dann durcheilte sie noch einmal den ganzen Kai und sah sich alle Leute an. Sie mußte in fieberhafter Aufregung sein, ihre Schritte flogen. Ich konnte ihr kaum folgen. Daß man nach ihr sah, daß sie auffiel, beachtete sie jetzt nicht. Es hatte angefangen zu dunkeln. Die Sonne war untergegangen und an einzelnen Stellen des weiten Landungsplatzes wurden bereits Laternen angezündet. Auf den Thürmen der Stadt schlug es acht Uhr. Das Gewühl der Menschen ließ noch nicht nach. Sie verließ es und ging links, die Schelde hinauf, wo es leerer und stiller war. Ich konnte ihr in der eingetretenen mehr als halben Dunkelheit auch in die menschenleere Gegend folgen. Sie ging, ohne anzuhalten, immer am Wasser hinauf. An einem einzeln stehenden kleinen Hause hielt sie an. Ein Knabe von etwa zwölf Jahren saß vor der Thür. Sie blieb vor ihm stehen, redete ihn an und gab ihm dann Geld und ein Papier.

Der Knabe kam eilig stromabwärts an mir vorüber. Er trug einen kleinen Brief in der Hand. Ich konnte ihn nicht anhalten. Sie sah ihm nach. Ich durfte hinter einem Baume, an dem ich mich verborgen hatte, nicht hervortreten. Sie ging weiter und ich folgte ihr weiter. Wir kamen in eine völlig menschenleere Gegend. Sie setzte sich auf einen Stein, der am Ufer der Schelde stand. Ich blieb zwanzig Schritte von ihr stehen, wieder hinter einem Baume. Sie saß lange. Sehen konnte ich in der stärker gewordenen Dunkelheit nur wenig von ihr. Sie saß unbeweglich, aber ihr schweres, banges Seufzen hörte ich deutlich durch die Stille des Abends und der einsamen Gegend. Mir war selbst so bange geworden. Was wollte sie in dieser menschenleeren Gegend! Den Tod suchen? In der Schelde? Ich schwankte, ob ich an sie herantreten sollte.

Auf einmal erhob sie sich. Sie war rasch aufgesprungen. Sie stand hoch aufrecht, stolz, erhaben. Dann beugte sie sich, tief, tiefer – sie war verschwunden. Wie ich ihr nachsehen wollte, hörte ich einen Fall in das Wasser. Sie hatte den Tod gesucht. Ich flog zu der Stelle, zu dem Steine, an dem sie verschwunden war. Ich sah in den Strom; ich sah nur die kreisförmigen Wellen. Aber mitten in dem Kreise tauchte ein schwarzer Gegenstand auf. Sie war es. Ich stürzte in das Wasser, und da ich immer ein tüchtiger Schwimmer war, so erreichte ich sie und brachte sie an das Ufer. Sie war leblos, aber ihr Körper war noch warm; sie mußte in das Leben zurückzurufen sein. Ich legte sie auf den Rasen des Ufers und rief um Hülfe. Ich öffnete ihre Kleider, rieb ihre Füße, sie kam nicht in das Leben zurück. Weitere Mittel kannte ich nicht, auf mein Rufen kam Niemand. Ich ließ sie im Grase und eilte fort, zu den benachbarten Häusern, an denen ich vorbeigekommen war, um dort Hülfe und Beistand zu suchen, um einen Arzt herbeiholen zu lassen. Ich wußte mir nicht anders zu helfen.

Das nächste Haus war ein paar hundert Schritte entfernt. Nahe vor demselben begegnete mir ein Wagen mit zwei Pferden. Es schien eine vornehme Equipage zu sein. Sie war verschlossen; ich konnte nicht sehen, ob Jemand darin saß. Ich wollte sie anhalten, doch die Pferde jagten im Galopp an mir vorüber und der Kutscher auf dem Bocke achtete nicht auf mein Rufen. Ich erreichte das Haus; es war das nämliche, an welchem die Dame dem Knaben das Papier, einen Brief, übergeben hatte. Eine Frau stand in der Thür, welche dem Wagen nachzusehen schien, der vorbeigejagt war. Ich theilte ihr mit, daß eine Dame in’s Wasser gefallen sei, daß ich sie herausgeholt; ich bat sie, mit mir zu kommen, um Rettungsversuche

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 723. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_723.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)