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gefunden. Der Torf ist also, wenn man das Alter dieser Geschirre auf mindestens 1400 Jahre zurück datirt, etwa einen Fuß (genau dreißig Centimeter) im Jahrtausend gewachsen. Wenn nun in einzelnen Torfmooren nicht nur ein Fuß Dammerde, sondern auch sieben bis zehn und noch mehr Fuß Torf über den Pfahlbauten liegen, so müssen wir diese, die jüngsten und neuesten Producte der Urmenschen, wenigstens auf ebensoviel Jahrtausende zurücksetzen, und gehörten die Scherben, statt dem vierten Jahrhundert nach Christo, der Invasion Cäsar’s an, so wüchse unsere Berechnung sogleich um einige Jahrtausende. Welche ungeheure Anzahl von Jahren muß aber von dem ersten Auftreten der Urmenschen, von der Periode der Höhlenbären an bis zu der Epoche der Pfahlbauern verflossen sein, damit so ungemeine Fortschritte in der Cultur bewirkt und so große Aenderungen in der umgebenden Thierwelt durchgeführt werden konnten, wie wir sie im Verlaufe dieser Zeiten schilderten? Annähernd läßt sich dies nur aus dem Umstande erschließen, daß die Feuersteinmesser aus der Höhlenbären-Periode unter Anschwemmungsschichten liegen, die bis zu zehn Meter, also dreißig Fuß Mächtigkeit erreichen und daß erst über diesen Anschwemmungen der Seegrund folgt, in welchen die Pfähle eingetrieben wurden, und der Torf, der sie bedeckte.

Wenn wir aber auf eine solche Altersbestimmung nach Jahrhunderten oder Jahrtausenden insofern verzichten, als wir nur das über alle Berechnung hohe Alter behaupten, so können wir nicht umhin, noch einmal auf die Resultate kurz hinzuweisen, die aus den Forschungen bis jetzt hervorgehen. Diese sind aber wesentlich die ursprüngliche Verschiedenheit der Menschenracen, die Europa’s Boden bewohnen, und ihre selbstständige Entwickelung auf diesem Boden durch harten Kampf hindurch und durch stete Bethätigung ihrer intelligenten Arbeit. Hinab also mit jener Annahme von ursprünglicher Einheit des Menschengeschlechtes und Abstammung desselben von einem einzigen Menschenpaare – hinab mit jenen Träumen von einem früheren glücklicheren Zustande, von einem Paradiese und ursprünglicher Unschuld und Leichtlebigkeit ohne Kampf um das Dasein – hinab damit in die Ideenstampfe und aufgeschaut zu diesem Entwickelungsgange und diesem Entwickelungsgesetze, das den Menschen auf seine eigenen Füße stellt und die Verbesserung seiner Zustände in seine eigene Hand legt!




Versunken und vergessen.
Historische Erinnerungen aus dem Palast Vendramin zu Venedig.
Von Georg Hiltl.

Durch den Canal grande der Lagunenstadt Venedig, auf die sich seit der bekannten September-Convention Napoleon’s mit Victor Emanuel Aller Augen von Neuem lenken, fliegt die Gondel! Sie trägt den neugierigen Reisenden vorüber an jenen Palästen, die ein gewaltiges Geschlecht zum Tummelplatz seiner Intriguen, seiner Fröhlichkeit, zum Sesam für zahllose Schätze des Handels, der Kunst und Industrie ausersehen hatte. Verschwunden, versunken, vergessen, das müßte die Inschrift sein für alle Häuser jener alten, dahingegangenen Familien Venedigs. Wo sind sie, die Zianis, Moncenigos, Dandolos u. s. w.? Noch prahlen ihre Zeichen an den öden Gebäuden, welche der Marmor bedeckt, aber von den Balconen herab, aus den Fenstern, den Orten, von denen die üppigen Besitzer einst stolz auf das Getreibe der Stadt sahen, hängt das Lederzeug der österreichischen Soldaten. Die Pfähle in der trüben Fluth des Canals, die das Anstoßen der Gondeln verhindern sollen, waren sie nicht geziert mit den prunkenden Wappen, den bunten Farben der Hausbesitzer und Familien? Kein Wappen, keine Farbe Derer sichtbar, die hinter kolossalen Denkmälern in den Kirchen Venedigs längst zu Asche zerfielen. Und doch tauchen dort Pfähle auf geschmückt mit heraldischen Zeichen. Aber es ist kein Schild des italischen Adels: in Blau eine goldene Lilie – das Wappen der Bourbonen. Die Gondel legt an. Aus den Wellen der Lagune steigt der Palast Vendramin, ein Bau im herrlichen Renaissancestyl des Meisters Lombardo, dem nach erhaltenem Lohne noch ein Ring von ungeheuerem Werthe zum Andenken verehrt ward.

Wiederum fragen wir: „Wo sind die Vendramins?“ Die Antwort lautet wieder: „Verschollen oder vergessen.“ Wer aber besitzt heutzutage den Palast? Maria Caroline, Herzogin von Berri, geborene Prinzessin von Sicilien. Der Besitz eines versunkenen Geschlechtes gelangte in die Hände der Familie, welche seit einem Menschenalter bestimmt scheint, ruhe- und heimathlos umhergeworfen zu werden; die kaum auf Thronen, dereinst den Ruhestühlen ihrer Vorfahren, von Neuem Platz genommen hatte, als das Schicksal sie wieder hinunterstieß; die, immer unglücklich in ihren Versuchen die verlorene Krone Frankreichs wieder zu gewinnen, dennoch nie die stolze Hoffnung verlor.

Die hervorragendste Persönlichkeit der gegenwärtigen Sprossen des Geschlechtes, die muthige Herzogin von Berri, ist also Besitzerin des Palastes Vendramin und sie hat die Mauern und Gemächer desselben umgewandelt zu einem Epitaphium, es ist eine Galerie des Mißgeschickes königlicher, erlauchter Häupter. Fast scheint es, als wollte in allen Zusammenstellungen die Herzogin zeigen, wie nichtig die irdische Größe, wie ohne Wahl die Hand des Geschickes eingreift auch in den Lebenslauf des Mächtigsten; als wollte sie die Bilder und Statuen reden lassen für das Recht ihrer selbst und das ihrer Kinder.

Ueber die breite Treppe, deren Geländerstäbe qualvoll sich ringelnde, von fletschenden Löwenzähnen gepackte Schlangen umwinden, stieg ich in das Innere dieses Palastes, der, angefüllt mit ernsten Reliquien, nicht nur zum Beschauen, sondern weit mehr zum Nachdenken stimmt.

Durch den mit Bildwerken von Palma gezierten Vorsaal gelangt man in den Speisesaal, woselbst schon die Geschichte des Unglücks beginnt, eine Geschichte in Bildern. Ich betrachtete mit Empfindungen, wie sie der Geschichtsfreund in solchen Augenblicken hegen muß, die schmerzausdrückenden Züge Henriette’s von Frankreich, die stolzen ihrer herzlosen Mutter Maria von Medicis. Ich gedachte des Hauses zu Köln am Rhein, des Hauses, in welchem Rubens geboren, gelebt, und in welchem Maria verlassen und arm gestorben. Zwischen beiden Portraits leuchtet das der Katharina Cornaro hervor, umgeben von Bildern der Mitglieder des Geschlechtes Vendramin, des Geschlechts, von dessen einstiger Existenz nur noch seine Leichensteine zeugen.

Daneben – ein Sprung von mehrern hundert Jahren – erblickte ich die Bilder der Tanten Ludwig’s XVI., jener armen, alten Damen aus bourbonischem Blute, die, hinausgetrieben aus Frankreich, umherirrten und in der Fremde starben· Wie viel Unglück auf dieser kleinen Stelle vereinigt ist! Nur wenige Schritte weiter, und wir finden Heinrich IV., den größten der Bourbonen; Bosio’s Meisterhand hat ihn als Knaben dargestellt. Er lächelt, ein Zug reizender Unbefangenheit umspielt den schönen Mund, heiter, sorglos. Die Zeit ist noch fern, wo Ravaillac’s Mörderstoß die Hoffnung Europa’s vernichten soll.

Ludwig XIII., der kalte, gefühllose Sohn des großen Königs, Franz I. mit seinem mephistophelischen Antlitz erweitert das Gefühl des Unheimlichen. Wesentlich trägt hierzu das Düster des Zimmers bei, in welchem die Gemälde hängen. Alte Ledertapeten bedecken die Wände, seltsame Holzschnitzereien springen aus den Ecken und Winkeln hervor; wohin ich mich wende – eine trübe Erinnerung, eine Reliquie, welche von einem durch das Schicksal, sei es selbstverschuldetes oder unverdientes, schwer heimgesuchten Wesen stammt. Dort in der Ecke legen wir die Hand auf ein Schreibepult, vor dem dereinst die unglückliche Maria Antoinette gesessen, wir betasten die Schubladenknöpfe, die ihre zarten, zitternden Finger umklammerten – wenige Schritte weiter trägt ein alter, schwerfällig, aber kostbar verzierter Tisch ein Schreibzeug Katharina Cornaro’s, jener Königin, die nur schreiben gelernt hatte, um Abdankungen, Urtheile über Leben und Tod und zuletzt die Einwilligung in ihre eigene ewige Kerkerhaft unterzeichnen zu können. Nachdem ich mich ein wenig an den herrlichen Gemälden, welche das Zimmer links von dem Speisesaale füllen, erheitert hatte (obwohl die Vorwürfe auch gerade nicht erfreulich auf das Gemüth wirken, denn man findet Martern und Büßungen genugsam dargestellt,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 728. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_728.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)