Seite:Die Gartenlaube (1864) 755.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Die Marktstraße durchschnitt Waldkirchen von Osten nach Westen in zwei Hälften. Am westlichen Ende dieser Straße stand das Haus der reichen Holzhändlerswittwe Frau Flemming in einem schönen, großen Garten, der sich bis an den Fluß erstreckte. Als die Nachmittagssonne heiß auf dem Pflaster lag, schlenderte Gustav im erhebenden Bewußtsein, gegenwärtig das Gespräch sämmtlicher Kaffeekränzchen in Waldkirchen zu sein, den Hut keck auf’s rechte Ohr gestülpt und mit einem Reitstocke fuchtelnd, durch die breite, stille Straße. An der Ecke, wo sie zum Marktplatz sich kreisförmig erweitert, stürzte der Kaufmann Marowsky, von der Ahnung einer aufblühenden, fruchtbaren Kundschaft getrieben, aus seinem Laden auf den Löwen des Tages los und nöthigte Herrn Flemming über seine bescheidene Schwelle, um eine Flasche gezehrten Ober-Ungars auf des Herrn Flemming glückliche Ankunft zu trinken. Gustav, der sich vom gesprächigen Kaufmann eine bedeutende Bereicherung seiner Localnotizen versprach, nahm die Einladung herablassend an und schritt durch den Laden in das gewölbte, kühle Weinstübchen, dessen Tapete, eine Rebenlaube mit ungeheuern Trauben darstellend, ihm vor drei, vier Jahren als der Triumph der Tapeziererkunst gegolten.

Mit einer Art jovialer Majestät lehnte er dann im Ledersopha unter den Bildnissen Ihrer Majestäten. Er war mit sich, wie mit Gott und der Welt zufrieden. Selbst die Gesichter der zwei Ladenburschen, die am Guckfenster der Thür abwechselnd auftauchten, störten ihn nicht, denn er las auf ihnen die aufrichtige Bewunderung seines englischen Sommeranzugs und seiner blauseidenen Halsbinde.

Aber trotz der behaglichen Stimmung lastete eine Frage auf seinem Herzen, die er nicht bei seiner Mutter, nicht jetzt beim redseligen Krämer auszusprechen wagte: „Was macht des alten Reiser Kind Elise?“ Der Name derjenigen, deren Bild, entweiht und vergessen im Wirbel der Residenz, jetzt mit alter Macht und neuem Zauber in ihm erwacht war, wollte nicht über seine Lippen. Es bedrängte ihn ebenso sehr falsche Scham, sich ihrer zu erinnern, wie heimliche Reue, sie vergessen zu haben.

„Geduld!“ sagte er sich im Innern, „Du hast ja Zeit. Ich wette, das gute Mädchen stellt sich heute oder morgen selbst bei meiner Mutter ein, und wenn sie noch immer so hübsch ist –“

„Aber Sie trinken ja gar nicht,“ unterbrach Marowsky seine Gedanken. „Hat Sie der Tod des alten Palm oder die Heirath von Bürgermeisters Anna so nachdenklich gemacht? Ja, ja, in drei Jahren kann sich vieles ändern. … In den nächsten Tagen werden wir wieder die Todtenglocke läuten hören: Komm’ her! komm’ her!“

„Liegt Jemand im Sterben?“

„Ja, eine blutjunge, schöne Frau – Sie brauchen nicht zu erschrecken; es ist keine Waldkirchnerin; sie kam von auswärts. Aber ihren Mann, dem Gott verzeihen möge, den Doctor Oldenburg, kennen Sie.“

„Den Literaten?“

„Ja, den Sohn des verstorbenen Pastors, der vor sieben Jahren von hier fort und, anstatt unter die Theologen, unter die Literaten ging, den meine ich.“

„Seit wann ist der wieder hier? Damals machte man ja ein Geschrei und Aufhebens von ihm, als ob er der zweite Goethe wäre. In der Residenz freilich hörte und las ich von dem neuen Wunder nichts.“

Der Kaufmann schenkte seinem Gaste und sich die Gläser voll. „Was ich Ihnen jetzt erzähle,“ begann er, „bleibt unter uns; denn Sie werden einsehen, daß ich es mit dem Doctor nicht verderben darf. Er ist mein Kunde, und mehr noch, er schreibt eine Zeitung. Was nun den Rumor betrifft, den er hier machte, als Sie noch in die Schule gingen, so glaube ich, daß sein Lockenkopf und blonder Bart mehr dazu wirkten, als seine Verse. Er war und ist heute noch ein bildschöner Mann, fünf Fuß, elf Zoll hoch, breitschultrig, mit einem Paar Augen, in deren Himmelblau die Hölle brennt. Kurz, unser Frauenvolk war vernarrt in ihn, und weil es bei ihnen im Guten wie im Bösen, im Für und Wider immer aus dem Vollen geht, mußte der schöne Heinrich auch ein Genie sein. Zuletzt bildete er sich selber ein, ein Phönix zu sein, und ging nach der Residenz, um ein berühmter Mann zu werden. Wie es ihm dort, wo viele Vögel singen, ergangen, weiß man nicht. Er war lange Zeit wie verschollen. Eines Tages kam er wieder in Waldkirchen an, nicht reich, nicht berühmt, aber, was seine ehemaligen Gönnerinnen am meisten verdroß, verheirathet. Sie wurden meine Nachbarn; da drüben im rothen Roß wohnen sie nun zwei Jahre schon. Er machte dem Bürgermeister, dem Kreisrichter und andern Honoratioren seinen Besuch, und drei Wochen nach seiner Ankunft erschien zum ersten Mal die ,Waldkirchener Morgenzeitung, redigirt von Doctor Heinrich Oldenburg’.“

Marowsky reichte Gustav ein Exemplar der Zeitung hin, das dieser jedoch mit vornehmer Geringschätzung zurückschob, indem er bemerkte, daß er für Politik ganz und gar kein Interesse habe.

„Uns war es Wasser auf die Mühle,“ fuhr der Kaufmann in seiner Erzählung fort. „Nun hatten wir außer dem Kreisblalt und den drei Exemplaren der Vossischen, welche hier gehalten werden und nach vier Wochen in die letzte Hand gelangen, unser eigenes Organ. Jede Nummer war ein Feuerbrand. Abends debattirten über den Leitartikel vom Morgen drüben im rothen Roß die Fortschrittsmänner, bei mir die gemäßigt Liberalen und in der Theegesellschaft beim Major Falkenstein die Reactionären. Oldenburg ließ sich wenig sehen; er schrieb Tag und Nacht, hatte sein Auskommen und war wieder der Phönix. Seine Frau, der man die Güte und Sanftmuth zehn Schritte weit ansieht, führte einen musterhaften Hausstand; immer um ihren Gatten besorgt, geräuschlos thätig, nie recht gesund, aber niemals klagend. Soweit wäre nun Alles gut gewesen. Da lassen sich Oldenburgs im vergangenen Winter zu ihrem Unglück überreden, einen Ball im rothen Roß mitzumachen. Die Frau Doctorin sah wie ein Engel aus, aber unseres Apothekers Tochter, Mamsell Reiser, war doch schöner noch.“

Hoch auf horchte Gustav. „Wer?“ fragte er.

„Nun,“ erwiderte der Andere mit schlauem Lächeln, „ihrer müssen Sie sich doch erinnern. Sie war ja im Hause Ihrer Frau Mutter früher ein täglicher Gast.“

„Ja, ja, ich erinnere mich jetzt,“ sagte Gustav, feuerroth im Gesicht, „ein leidlich hübsches Mädchen – aber was hat sie mit der Geschichte Oldenburg’s zu thun?“

„Hm, sie wurde der Frau Doctorin vorgestellt, und diese stellte ihr hinwieder ihren Mann vor. Die arme Frau durfte nicht tanzen, denn sie war damals schon leidend, aber er, er tanzte und mit der neuen Bekannten mehr, als mit jeder Anderen. Und vom folgenden Tag an kam das Mädel täglich in Oldenburg’s Haus. Erst wunderte man sich über die rasche Freundschaft einer Frau zu einem Mädchen, dann begann man zu munkeln; man beobachtete, man bemerkte, reimte zusammen – kurz, es dauerte nicht vier Wochen, so wußte ganz Waldkirchen, daß Doctor Oldenburg mit Mamsell Reiser eine Liebschaft habe.“

„Tod und Teufel!“ fuhr Gustav empor.

„Die Frauen riefen des Himmels Strafgericht auf die Schuldigen hernieder; die Mütter warnten ihre Töchter; wir Männer zuckten die Achsel; der Pastor Gottwald predigte eines Sonntags über den Ehebruch; nur sie, die am tiefsten verletzt ward, Frau Oldenburg sagte nichts, klagte nicht und that, als finde sie es durchaus natürlich und in der Ordnung, daß ihr Mann mit dem ehrvergeßnen Mädchen stundenlange Spaziergänge machte und bis in die sinkende Nacht im Garten des Apothekers saß. Aber was und wie sie litt, verriethen ihre blassen Wangen und verweinten Augen. Wenn sie am Arm ihres Gatten durch die Straßen vor das Thor wandelte, was immer seltener geschah, und dann links und rechts, immer lächelnd, immer freundlich grüßte, da schnitt Jedem dies Lächeln in’s tiefste Herz, und Keiner war, der nicht den Hut vor ihr wie vor einer Prinzessin gezogen und die Faust hinter Ihrem Manne her geballt hätte. Der unterdrückte Jammer zehrte an ihrem Leben. Bald kam der Arzt täglich in’s rothe Roß; im Mai und Juni stand sie schon nicht mehr von ihrem Lager auf, und seit einigen Tagen soll sie hoffnungslos ihrer letzten Stunde entgegensiechen. Mamsell Reiser aber kommt nach wie vor Tag für Tag in ihr Haus.“

Die Entrüstung und das Feuer, womit der Kaufmann seine Erzählung schloß, schien sich auch Gustav mitzutheilen. Er redete plötzlich der Tugend und strengen Sitte das Wort, als ob er nie auf ihrem Pfade gestrauchelt hätte. „Diese Verworfenen!“ rief er. „Ehrvergessenes Mädchen! Treuloser Barbar! Seine Frau, eine solche Frau zu kränken, zu morden! Eine Kugel verdient er. Bei Gott, ich werde ihn fordern! Und wenn er zu feig ist, sich mit mir zu schießen – er ist feig – werd’ ich ihn öffentlich peitschen, ihn massacriren!“ Er knirschte die Zähne zusammen und

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 755. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_755.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)