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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

erinnert sich jetzt, daß Herr Reiser Vater eines unerwachsenen Mädchens ist, von dem Frau Flemming vor zwei Jahren noch[WS 1] ungebührlich viel in ihren Briefen geschrieben … Ist dieses unerwachsene Mädchen – wie heißt sie doch? – an den Pocken oder einer andern acuten Krankheit gestorben?

Die Mutter sah ihn über die Brille weg mit großen Blicken an. Dann legte sie kopfschüttelnd ihr Strickzeug vor sich hin, fuhr mit der Hand ein, zwei Mal über den Strumpf und sagte: „So ist die Jugend!“

„Hab’ ich doch heute den ganzen Tag,“ redete sie hierauf ihren Sohn an, „hab’ ich doch die liebe lange Zeit seither davon weder zu reden, noch zu schreiben gewagt, weil ich Dir schweren Herzenskummer zu bereiten fürchtete. Und nun erinnerst Du Dich des Mädels, Deiner Jugendgespielin und besten Freundin, Deiner Elise kaum! Aber so ist die Jugend, so ist sie. Heute heiß, morgen Eis. Wenn die Kinder groß sind, werfen sie anstatt der Puppen ihre Freundschaften in den Winkel … O! o! kennt Apothekers Lieschen nicht mehr!“

Gustav bedauerte sein schwaches Gedächtniß und versprach das größte Interesse für die Nachrichten, die er über das Fräulein hören würde.

Nach einiger Ueberlegung, wie sie ihrem unschuldigen Sohne von einer so leichtsinnigen, sündlichen Person sprechen sollte, erzählte Frau Flemming die Geschichte von Elisens Verirrung, welche Gustav in kräftigeren Zügen bereits vom Kaufmann gehört hatte. Sie schloß ihren Bericht mit der Versicherung, daß ihr Gustav’s leichter Sinn, obschon sehr tadelnswerth an sich, in diesem Falle eine Centnerlast vom Herzen wälze. Denn sie habe früheren Beobachtungen zufolge bis zur Stunde geglaubt, Gustav wäre Lieschen ganz besonders zugethan; eine Neigung, die sie vor einem Jahre noch von ganzem Herzen gesegnet hätte, unter den gegenwärtigen Verhältnissen aber als ein heilloses Unglück betrachten müßte. „Gott sei Dank,“ schloß sie, „Du hast sie vergessen. Nun bitte ich Dich selbst, zum alten Reiser zu gehen, der mir in tiefster Seele leid thut. Sei freundlich gegen den armen, geschlagenen Mann, und wenn – wenn seine Tochter zufällig anwesend ist, sei nicht verletzend, sei höflich auch gegen die Unglückliche, Verführte.“

Gustav erhob sich in seiner ganzen Größe, zuckte bedauernd die Schultern und sagte: „Es betrübt mich außerordentlich, Deinem Wunsch nicht willfahren zu können, allein nach dem, was Du mir soeben von Fräulein Reiser mittheiltest, kann ich in ihrem Hause die alten Verbindungen nicht wieder anknüpfen, unmöglich!“

„Aber warum willst Du den guten Mann, ihren Vater, nicht besuchen?“

„Warum?“ fragte er voll flammender Entrüstung. „Ich setze den Fall, Fräulein Reiser sei anwesend; ich setze den Fall, Fräulein Reiser grüße mich, spreche mich an – Wie? Du könntest im Ernst wünschen, daß ich ihr Red’ und Antwort stehe, ihr, einer Person, welche sich ihrer Familie, ihrer Stadt, Deiner und meiner Freundschaft so unwürdig zeigte?! Nimmermehr.“

Nach diesen großartigen Worten verließ er die alte Frau, welche dem wohlgezogenen, sittenstrengen Jüngling mit mütterlichem Stolze nachblickte, bis er im Gebüsch, das tiefer in den Garten führte, verschwand. „Gott segne und erhalte Dir Dein reines Herz!“ sagte sie.

Gustav aber, der mit den hochmüthigen Worten und Mienen den inneren Aerger nur verbarg, nicht beschwichtigte, rannte, sobald er sich unbemerkt wußte, wüthend die Gartenpfade auf und nieder, hieb mit seinem Stock links und rechts in die Sträucher und stieß Drohungen, Hohnworte und Verwünschungen aus. Möglich, daß sein Herz blutete, über allen Zweifel gewiß aber war es, daß seine Eitelkeit sich wand und bäumte, züngelte und zischte, wie eine getretene Schlange.

Erschöpft ließ er sich zuletzt auf einer Bank nieder, die am Saum einer Birkenpflanzung stand, wo der Fluß als Grenze des Gartens vorüberglitt. Die Beine von sich gestreckt, die Hände in den Taschen und das Haupt finster zur Brust geneigt, suchte der Gekränkte sich zu beruhigen. „Sie verdient nicht,“ dachte er, „daß ich mich ihretwegen gräme. Ja, wenn sie mich einem würdigen Nebenbuhler geopfert hätte, irgend einem Crösus oder Prinzen! Dann wollte ich nichts dagegen sagen und ihr großmüthig verzeihen. Aber wer stellte mich in den Schatten? wer? Ein alter Ehe-Invalid; ein verkommener, bettelarmer Blattschreiber. Wie schändlich, nein, wie lächerlich! Einen Oldenburg zieht man mir vor, mir, Gustav Flemming, dem reichen Erben, dessen Herz und Hand ganz andere Schönen als Apothekerstöchter höchst begehrenswerth erachten und eifersüchtig bewachen würden! Bah, verließ ich die Vergnügungen der Residenz, um hier einer losen Dirne nachzuweinen? Bewahren wir den Fall als eine Erfahrung im Gedächtniß und vergessen wir die Thörin!“

Er erinnerte sich an den Brief, den ihm seine Mutter ausgehändigt hatte. Er zog ihn hervor und erbrach das Siegel. Das Couvert enthielt folgendes Schreiben, das mit wenig Schonung für die Augen des Lesers und noch weniger Rücksicht auf Styl und Orthographie von einer Damenhand gekritzelt war:

     „Abscheulicher Mensch! lieber Gusti!

Ich sitze hier, in der maison dorée, mit dem garstigsten aller Männer, blos weil er Dein Freund ist, mit Buttler nämlich. Wir haben soupirt, und obwohl ich Deine plötzliche abschiedslose Abreise sehr ungalant und unbeschreiblich finde, auch Mitternacht beinahe vorüber ist, kann ich doch nicht umhin, Dir heute noch zu schreiben. Aufrichtig gestanden, wundere ich mich sehr, wie ein gentiler Mann, wie Du, dorthin reisen kann. Ich will Dir also in aller Eile nur sagen, daß der Diener von Gerson gestern und heute wieder mit der Rechnung bei mir war. Bester, herzlichster Gusti, Du wirst von meiner Liebe zu Dir überzeugt sein und mir das Versprochene gewiß recht bald schicken. Adieu, mein Engel, mein Goldkäfer! Die Adresse wird der garstige Buttler schreiben, denn ich kenne die Neugier einer Mama, wenn man an ihr Herzblättchen schreibt, das wahrhaftig die Liebe nicht verdient, mit der ich bin

Deine getreue Georgette Fachini,
Solo-Tänzerin am königl. Hoftheater.

P. S. Du bist doch auf Buttler nicht eifersüchtig? Er ist heute wieder so borstig und trinkt wie ein Igel. Aber er meint es recht gut mit Dir, sonst würde ich mit ihm wahrhaftig nicht soupiren. Das Essen war übrigens herzlich schlecht. Die Müller tanzt morgen bei Kroll! Wie findest Du das?!“

Gustav zerriß den Brief in vier Stücke und schleuderte das zerknüllte Papier verächtlich in den Fluß. Eine Weile zauderte sein Blick auf der braunen, ruhig ruhlosen Fluth und schweifte dann über Aehrenfelder, Weidengänge und Gehöfte zur waldigen Hügelkette, welche das Thal umschließt.

Die Sonne schied, und ein sanftes, hinsterbendes Licht ergoß sich durch Himmel und Erde. Gustav’s Ohr, vom Getös der Hauptstadt so lange betäubt, hörte nach langer Zeit nun wieder die Musik der Vögel, den Nachtgesang der Grille und das leise Rauschen der Blätter; sein Auge, nicht mehr gebannt durch ein Gewirr von Häusern, Mauern, rauchenden Schornsteinen und riesigen Thürmen, tauchte nach langer Zeit wieder in die blauen Tiefen des Himmels. Eine weiche Stimmung bemächtigte sich seiner mehr und mehr. Nicht als lauter, stürmischer Schmerz, sondern als wehmüthige Sehnsucht beschlich ihn die Reue über drei wüste, verlorene Jahre. Er wünschte – er wollte – – Seltsam! Inmitten seines heimathlichen Thals fühlte Gustav zum[WS 2] ersten Male Heimweh.




Um sechs Uhr Nachmittags machte der Lehrjunge der Adler’schen Druckerei Toilette, um Herrn Oldenburg den Correcturbogen der Waldkirchener Morgenzeitung zu bringen, das heißt, er zog den linken Zipfel seiner blauen Schürze durch das Gürtelband und nahm sein Portefeuille von grauer Pappe mit dem feuchten Druckbogen unter den Arm. Die schwarzen Spuren auf Nase und Wangen gehörten zum Geschäft; die Hemdärmel waren der Jahreszeit und dem unternehmenden Charakter angemessen; die ungeheuern, in vergeblicher Sehnsucht nach Wichse ergrauten Stiefel waren seine Eigenthümlichkeit. So konnte er ohne Weiteres seinen wichtigen Geschäftsgang antreten.

Die Druckerei lag vom rothen Roß nicht zweihundert Schritt entfernt; man hatte nur über den Marktplatz zu gehen Aber in Anbetracht gewisser Umstände hielt es der Junge heute für gut, so langsam als möglich vorwärts zu kommen …

Seit einer Stunde herrschte in den Straßen Waldkircheus ein ungewöhnliches Getriebe. Der Jahrmarkt und das Schützenfest sollten andern Tages beginnen. Festzüge und Zechgelage, Musik und Tanz, buntbewegte, fröhliche Tage in Aussicht! Ist es das allein, was die Bewohner des Städtchens so fieberhaft erregt?

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ncch
  2. Vorlage: zu
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 770. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_770.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)