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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

weiter gekommen waren, als man vom Rathhausthurme der Stadt aus sehen konnte. Da war es denn kein Wunder, wenn der Handwerksbursch in den Augen eines hochmüthigen, brutalen Unterbeamten nur als Lump und Schuft angesehen und wie ein Hund angefahren wurde. Wer in Leipzig z. B. nicht so und so viel Thaler Reisegeld aufzeigen konnte, wurde sofort im Thor von einem Polizisten in Empfang genommen und zum andern Thor wieder hinausgebracht. Kam ein Handwerksbursch am Abende ohne das gesetzliche Reisegeld in Leipzig an, so mußte er auf der Polizei übernachten, um am frühen Morgen durch die Stadt fortgebracht zu werden, nachdem man ihm noch einen Groschen für das Visiren des Wanderbuchs abgenommen hatte.

Wer nach Oesterreich wandern wollte, mußte fünf Gulden, wer nach Baiern, drei bis fünf Gulden, wer nach Preußen reisen wollte, drei Thaler Reisegeld aufzeigen. Dies hielt indessen nirgends schwer; wenn es nämlich wirklich an Baarem mangelte, so wurde die Uhr oder das Bündel auf eine halbe Stunde versetzt, oder dasselbe Geld, welches der eine Wanderbursch bereits aufgezeigt hatte, wurde kurz darauf auch von einem zweiten, dritten, vierten etc. hintereinander auf die Polizei getragen.

Die Grenze mußte ja überschritten werden, denn weit herum suchte jeder rechtschaffene Handwerksbursch zu kommen, damit er einst in der Heimath recht viel erzählen könne von fremden Ländern und Menschen. Zu den Sehenswürdigkeiten in der Fremde zählten nicht gerade Museen und Kunstsammlungen, sondern vor allen Dingen die sogenannten Wahrzeichen der Städte. Wer in Wien drin gewesen war, der hatte auch den Stephansthurm und den „Stock in Eisen“ gesehen. Bei Görlitz wurde das heilige Grab besucht, in Erfurt die große Glocke auf dem Dome angestaunt und in Hamburg das Glockenspiel auf dem Nicolaikirchthurme bewundert. In München war für den Handwerksburschen das Merkwürdigste der Stein im Schloß und der Fuß in der Frauenkirche, in Regensburg auf der Donaubrücke der Hahn und der Hund, in Nürnberg die alte Linde bei der Burg und der schöne Brunnen auf dem Markte, in Brünn der Lindwurm, in Arnstadt der Lehrling und der Hund auf dem Thurme der Liebfrauenkirche und in Rudolstadt an der Stadtkirche die Stelle, wo kein Gras wächst. In Wittenberg wurden Luther und Melanchthon gesehen, in Rostock der alte Blücher, in Stettin die Uhr am Schloßthurme, in Eisenach der St. Georg besichtigt und in Lübeck die zwölf Apostel im Dom betrachtet. Wer nach Andernach kam, der mußte die Kanone sehen, welche einst bis vor Koblenz geschossen hatte, und ebenso den Laacher See; wer in Düsseldorf gewesen war, der wußte auch von dem silbernen Pferde zu erzählen, d. h. von der bronzenen colossalen Reiterstatue des Kurfürsten Johann Wilhelm; wer in Darmstadt gewesen sein wollte und das Ludwigsmonument nicht gesehen hatte, der war nicht dort gewesen. In Ollmütz sah man am Rathhause die merkwürdige Uhr mit den Aposteln als Trompeter, in Baden bei Wien den Husarentempel, in Münster den Lambertusthurm und in Lüneburg am Rathhause einen Knochen jenes Schweines, welches die Salzquellen in der Umgegend aufgewühlt hatte etc.

Kam der Wanderbursch dann in die Heimath zurück, so blieb ihm die Erinnerung an die Wanderjahre durch sein ganzes Leben hindurch eine gar freundliche Begleiterin, und gar oft nach dem Feierabende griff er wieder nach dem Wanderbuche, um, darin blätternd, sich im Geiste zurückzuversetzen in die Zeit seiner Wanderschaft. Darum war auch das Wanderbuch des Vaters den Kindern stets ein liebes, theures Familienstück, und ich weiß, daß sich meine Jungen um das Wanderbuch des Großvaters dereinst einmal streiten werden. Denn wie über das deutsche Burschenleben auf den Universitäten, so ist auch über das Wanderburschenleben der Zauber der Poesie ausgegossen und in ihm eine Fülle von Romantik enthalten.

August Topf. 




Blätter und Blüthen.

Der Stedinger Freiheitskampf. Im Lande Oldenburg breiten sich, wo die Hunte und die Weser einander sich nähern und endlich zusammenfließen, die weiten Marschen und Geeststrecken aus, auf welchen seit tausend Jahren das Völklein der Stedinger wohnt. Es sollen Holländer und Friesen gewesen sein, die dort zuerst sich ansiedelten und die Sümpfe bewältigten durch ihre gewaltigen Dämme, jene rettenden Erdmauern der tiefen Ebene. Der Kampf mit der Natur erzieht überall ein starkes, muthiges Geschlecht, das voll Gottesfurcht und Frömmigkeit zum Himmel betet und im Höchsten des Reichs willig seinen Herrn anerkennt, aber um so entschlossener jedem Gelüste entgegentritt, mit dem kleine Gewaltherren ihm die Kette der Botmäßigkeit über den Nacken werfen wollen. Kämpfe, wie sie die Eidgenossen führten, sind in Deutschland viele gewagt worden, aber nie wieder so glücklich, wie jene des Alpenvolks, und niemals mit mehr Tapferkeit und Opfermuth, als auf diesem Stedinger Boden.

Weltliche und geistliche Herrschsucht vereinigten sich gegen diese freien Bauern; die Grafen von Oldenburg und die Erzbischöfe von Bremen, wie erbitterte Feinde sie oft auch selbst einander waren, reichten sich die Hände, wo es galt, der Volksfreiheit, die zwischen ihnen eine feste Burg gegründet hatte, ein Ende zu machen. Beide begannen damit, daß sie den Stedingern ihren Schutz aufdrangen und Vögte in feste Schlösser setzten, welche die Gerichtsbarkeit über die gräflichen und bischöflichen Meier und Unterthanen im Lande ausüben sollten. Auch diese „Geßler“ übten bald alle Schandthaten des Uebermuths und der Zuchtlosigkeit am Volke aus, raubten sogar Weiber und Töchter der Bauern, um sie in der Sicherheit ihrer Burgen zu schänden, und riefen so selbst die Rache gegen sich aus. Im Walde beim Brookdeich fanden die Stedinger ihr Rütli. Hier hielten sie nächtlichen Rath und beschlossen erst friedlich ihr Recht zu suchen. Und als sie das nicht fanden, brachen sie die Burgen und erschlugen die Junker und vertrieben von ihnen Alles, was nicht erschlagen war. Das geschah im Jahre 1198, nach Andern schon 11159.

Die That war geschehen, der Kampf begonnen, die Stedinger wußten, daß sie das Schwert nicht in die Scheide stecken durften. So verwandelten sie denn ihr Land in eine große Festung; ringsum ragten die Wälle der hohen Dämme, und wo ihren beiden Feinden sich ein Weg bahnen konnte, da warfen sie die stärksten Bollwerke auf und besetzten sie mit wachsamen Mannen. Auch verbanden sie sich mit ihren Nachbarvölkern, besonders mit den allezeit schlagfertigen Friesen. So blieb ihr Land in Sicherheit vor feindlicher Verheerung, während sie selbst der Schrecken ihrer Gegner wurden. Denn durch ihre großen Reichthümer und ihre Wahrhaftigkeit war nun der Uebermuth in die Bauern gefahren, der nun wiederum die Rache der Fürsten gegen sich wach rief.

Im Jahre 1234 brach dieser Rachekampf aus. Was den Vögten und auch dem Oldenburger Grafen Burchard nicht gelungen war, der im selben Jahr noch eine schwere Niederlage durch die Stedinger erlitten hatte, die Unterjochung dieses Volkes, das sollte durch die Pfaffen und Mönche den Erzbischofs vollbracht werden. Die Kutten überschwemmten förmlich das Land; aber ihr freches Gebahren führte nicht zur Versöhnung, sondern zum Verzweiflungskampf des Volks.

Wie hundert Jahre später in der Schweiz jener Freiherr, welcher in des Bauern Mittagsmahl spuckte, und den der Bauer mit dem Kopf in die Schüssel stieß, ausrufende „Nun friß, was Du gewürzet hast!“ – die Freiheitsfeuer des Eidgenossenkriegs entzündete: – – so hier ein Pfaffe. Die Münze, die er als Beichtgeld von einer Stedinger Frau empfangen, war ihm zu gering gewesen, und er gab sie ihr zum Hohne beim Abendmahl als Oblate in den Mund. Nicht tiefe Schandthat am Altar, sondern die Rachethat des Ehemanns, der den Pfaffen in dessen Behausung aufsuchte und niederstieß, – rief das Strafgericht der Geistlichkeit bis zum Papst hinauf gegen die Uebelthäter aus, ein Kreuzzug gegen die Ketzer wurde gepredigt von allen Bischöfen rings umher, und ein Kreuzheer, aus dem verworfensten Gesindel erlesen, dem dafür Ablaß und Gnade des Himmels verheißen wurden, zog gegen die Bauern heran. Alle Fürsten umher, ein Herzog von Brabant, die Grafen von Holland, von der Mark, von Cleve, von Oldenburg verbanden sich mit ihm, und 40,000 Mann stark war das Heer, gegen das die 11,000 Stedinger ihre Freiheit behaupten sollten.

Zwischen Alten-Esch und Ochtum war das Schlachtfeld. Bolko von Barnefleth, Tanne von Huntorp und Detmar von Dieke hießen die Führer der Bauern. So viel der Stedinger Mannen waren, so viel Leichen des Kreuzheeres deckten den Boden. Aber die Uebermacht siegte. Vergeblich kämpfte der Rest der Helden. Die Frauen steckten die Wohnungen in Brand und starben mit ihren Kindern in den Flammen. Die Freiheit war erstickt. Nur der große Grabhügel bei Warfleth, der die Tausende der erschlagenen Feinde und Freunde deckt, ist das Denkmal des Stedinger Freiheitskampfes.

Dieser Kampf, dem nur jener glücklichere der Dithmarsen gegen die Dänenmacht gleich würdig zur Seite steht, lag in der schlachtenreichen Geschichte unsers Vaterlandes abseits von den strahlenden Fürstenthaten, wie ein Armer im Friedhof, begraben, bis ein Dichter ihn zu neuem Leben erweckte, und wir können es mit Stolz und Freude aussprechen: die große That fand einen würdigen Sänger.

Arnold Schloenbach, der in seinen großen epischen Dichtungen, den nur zu wenig bekannt gewordenen „Hohenstaufen“ und im „Ulrich Hutten“ die Kraft und das Geschick, große Stoffmassen zu bewältigen, glänzend bewährte und aus dessen sämmtlichen Schriften ein für Freiheit, Volk und Vaterland erglühender und muthiger Geist weht, hat auch dieses ergreifende Stück deutscher Vergangenheit dem Volke der Gegenwart als ein vaterländisches Heldengedicht vorgeführt.

„Der Stedinger Freiheitskampf“ – ist der einfache Titel dieser bei Müller in Bremen erschienenen Dichtungen. In achtzehn Gesängen und einem Vorgesang rollt sich das ganze reiche Bild vor uns ab.

Selten hat eine epische Dichtung den Referenten so gepackt, so gefesselt, so vom ersten bis zum letzten Gesang unaufhaltsam fortgerissen, so oft bis zu Thränen ergriffen, so oft ihm die Fäuste geballt, so oft ihn zum sinnigen

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