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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

abgehärmt und immer erschrocken aussah, an einen von den Webern, welche auf dem Vorplatz eines casernenähnlichen Hauses in müßigen Gruppen umherstanden.

Dies Haus lag zwischen der Baumwollenspinnerei und dem Waldkirchener Friedhof. Der geräumige Vorhof wurde durch eine dunkelrothe hohe Mauer vom gleichfarbigen Fabrikgebäude getrennt und sah wie das Haus kahl, ärmlich und trotz des heitern Sommertages düster aus. Er besaß einen Rasenplatz, aber auch dieser war farblos und kahl, während jenseits der Straße Wiesen im saftigsten Grün lagen. Nur an Armuth reich und an Kindern gesegnet erschien der Ort. Im Grase, wie auf den Sandwegen, um den Brunnen herum und im Hausflur sprang, lief und kroch, schob und stieß sich der junge Nachwuchs, Mädchen und Knaben jeden Alters. An vielen Fenstern standen Frauen, mit Säuglingen auf dem Arm oder an der Brust, sahen stumpf auf das Getümmel nieder und schrieen zuweilen etwas herab, was im Höllenlärm natürlich unverständlich blieb und höchstens den einen oder andern Flachskopf einen Augenblick lang aufblicken machte.

Der Mann, dessen Arm die Schielende mit ihrer Stricknadel berührte, kehrte von der Unterhaltung seiner Cameraden ein erhitztes, trotziges Gesicht den beiden Frauen zu. „He! Du, Peter! Wie nannte uns Brausewetter?“ wiederholte Jene.

„Märtyrer.“

„Hörst Du?“ wandte sich die Schielende mit stolzer Befriedigung an Peter’s Frau. „Märtyrer sind arme, geplagte Leute wie wir. Alle Märtyrer sind Weber gewesen.“

„Nein,“ bemerkte Peter, den Kopf schüttelnd. „Nein, alle Weber sind Märtyrer.“

„So ist’s! Recht hat er! Brausewetter ist unser Mann!“ sprachen die Männer, welche mit Peter zusammen standen. Nur die Schüchterne schien nicht beruhigt. „Wenn er es so gut mit uns meint,“ entgegnete sie, „warum batet Ihr ihn nicht, uns bei unserm Fabrikherrn zu vertreten? Weiß er, was gestern geschehen ist? Und wenn er es weiß, warum ist er schon heute wieder abgereist?“

„Der Brausewetter?“ fragte Peter. „Na, warum sollte er es wissen? Er ist ein gescheidter Mann, der den Nagel auf den Kopf trifft, aber doch kein Weber. Und da er nicht aus Waldkirchen und kein Weber ist, so geht es ihn den Teufel an, was wir mit unserm Fabrikherrn haben.“

„Uns wird, uns muß geholfen werden, hat er gesagt,“ eiferte ein Zweiter. „Wir sollten nur Vertrauen haben.“

„Und uns nicht verführen lassen,“ fiel ein Anderer ein. „Die Morgenzeitung ist an unserm Unglück schuld! Die Regierung will uns helfen, aber die Fabrikanten, die Geldjuden und in ihrem Sold die Zeitungsschreiber schreien dagegen. Woher wissen wir, wie es der Regierung geht? Aus den Zeitungen. Woher weiß die Regierung, wie es uns geht? Aus den Zeitungen. Was aber stand neulich in der Waldkirchener Morgenzeitung? Daß sich unsere Lage von Jahr zu Jahr verbessere und der Lohn steige, daß wir keine Staatshülfe brauchten, sondern uns selber hälfen. Nun frag’ ich Euch: Wenn die Herren droben dergleichen Schwarz auf Weiß und gedruckt lesen, müssen sie nicht glauben, daß es uns gut geht, daß wir am Fleischtopf sitzen und fett werden? Hängen sollte man den Kerl, der das schreibt! Eine schöne Wahrheit! Wir verbessern uns, wir nehmen zu! Ja, unser Verdienst geht den Botenschritt, aber die Theuerung fährt sechsspännig voraus. Ein Thaler Zuwachs meinem Lohn bringt tausend dem Lohngeber.“

Ein kleiner, verwachsener Kerl stürzte in den Kreis. „Wißt Ihr die Neuigkeit?“ rief er aufgeregt und rieb sich die Hände. „Der Fabrikherr wird Abends herüber kommen – denkt Euch, Er zu uns! – will begütigen, mit uns unterhandeln! Er kriecht zum Kreuz! Sagt’ ich es nicht? er kriecht zum Kreuz!“

Die Aufregung, welche seine Worte hervorriefen, war groß. In einigen Secunden verbreitete sich die Nachricht im Hof, stürmte wie eine Lärmglocke die Leute im Hause aus der Nachmittagsruhe und trieb sie an’s Licht. Es war erstaunlich, wieviel Menschen das eine Gebäude ausspie, Männer in grauen Kitteln oder schmutzigen Hemdsärmeln, Weiber in Flanellunterröcken und ausgewaschenen Spensern, Alle voll banger Erwartung, Unruhe und Hoffnung. Selbst die Kinder hörten auf zu spielen und drängten sich in den großen Kreis, der sich um den Buckligen bildete. Man fragte, rieth und schrie wirr durcheinander. Die Mehrzahl der Arbeiter jubelte, und ihre Frauen beglückwünschten sich. Allein der Bringer der Freudenbotschaft, der bucklige Nöldeken, derselbe, der zuerst zur Arbeitseinstellung gerathen hatte, war gegen die Aussöhnung mit dem Fabrikherrn. Als der erste Sturm vorüber war, ergriff er das Wort. „Freunde!“ begann er und warf die langfingrigen Hände in die Höhe. „Seht Ihr denn nicht, daß man anfängt, uns zu hören, zu achten, zu fürchten? Der Augenblick ist unser. Die Rede vom Präsidenten der wahren Volksfreunde schuf uns einen Anhang unter den Bürgern. Der Soldat, der Beamte und kleine Handwerker murrt längst über den Fabrikanten; Brausewetter hat sie mit uns verbrüdert! Darüber erschrickt unser Bedrücker. Er bietet die Hand zum Vergleich – wir haben gesiegt. Steht es dem Sieger an, sich Bedingungen vorschreiben zu lassen oder gar in’s alte Joch zurückzukehren? Nein, lasset uns fest sein! Vorgestern baten wir um ein Drittel unseres Lohnes; fordern wir heute das Doppelte, so erlangen wir morgen das Dreifache. Consequenz, meine Freunde, Consequenz, eiserne Consequenz! Geben wir unsern Brüdern in der Provinz, im ganzen Lande ein Beispiel. Die Fabrik kann nicht still stehen. Hände aber sind rar; es ist Erntezeit und Krieg vor der Thür. Und dann – und dann – man kann uns nicht verhungern lassen. Wir sollen der Regierung vertrauen, sprach gestern Brausewetter, und unsere Sache ihr anheimstellen. Brausewetter ist ein Freund der Regierung, er muß wissen, welcher Wind für uns weht. Brausewetter ist ein ganz andrer Kerl, als unser Fabrikherr!“

Er machte eine Pause, und schon nickten ihm Mehrere beifällig zu. „Und nun paßt auf!“ erhob er seine Stimme, „kann die Regierung uns als Ruhestörer und Aufständische behandeln, wenn wir uns in ihren Schutz begeben? Kann sie das? Wie immer unsere heutige Verhandlung endigen möge, der Weg nach der Residenz bleibt uns offen. Laßt uns eine Adresse an den Minister, an den König entwerfen! Denn ich frage Euch: Wollt Ihr in der Morgenzeitung lesen: ,die Waldkirchener Weber stellten vorgestern ihre Arbeit ein, haben heute Reue und Leid gethan und sehen morgen ihrer Bestrafung entgegen’? Ha, eher wollte ich, ich allein die Pressen zerstören und die Druckerei anzünden … Wer aber wagt gegen uns zu schreiben, wer uns zu richten, wenn wir zum Könige selber gehen? Eine Adresse, eine Deputation, das ist mein Vorschlag.“

Die Weber sahen sich überrascht an; die Frauen und Mädchen blickten mit scheuer Bewunderung auf das zwerghafte Männchen. Er aber, Nöldeken, zog ein Papier aus der Tasche und schwenkte es in der Luft. „Hier,“ rief er, „hier ist der Entwurf einer Adresse. Und wenn ich Euch bitte, das unter uns Männern droben zu berathen, so weiß ich, daß jeder, der kein Feigling ist, mir folgen wird.“

… Sie folgten ihm Alle, weil er – obwohl weder klüger, noch klarer – so doch entschlossener und beredter als Alle war … Nur Peter’s Frau wollte sich nicht beruhigen, nicht zu heitern Hoffnungen überreden lassen. Während sie mit der Schielenden, ihrer Freundin, auf und ab ging, weinte sie still vor sich hin und sagte ein über das andere Mal: „Es ist unser Unglück.“

Ihr Töchterchen, ein winziges Ding mit den erschrockenen Augen der Mutter, zupfte sie an der Schürze und fragte: „Mutter, wer wird denn da begraben?“

Die Webersfrau stand betroffen still, blickte dem Mädchen starr in’s Gesicht und stammelte: „Herr Jesus, Kind, was meinst Du?“

„Drüben aus dem Friedhofe graben sie ein großes, großes Grab – so groß,“ sagte das Kind und breitete die Aermchen weit auseinander.

„Ich wollt’, es wäre für mich,“ seufzte die Mutter.

„Unsinn!“ versetzte die Andere und zog ihre Freundin mit sich zum Hagedornzaun … „weißt Du’s denn nicht, ’s ist der Doctorin Grab.“ – Der Begräbnißplatz war, mit dem Hof verglichen, ein üppiger Garten, mit einer Pappelallee in der Mitte, mit Rosensträuchern und Hollunderbüschen. Im hohen Gras standen rothe und blaue Blumen, Epheu umrankte die Kreuze und Weiden neigten sich über die Grabhügel. Im Mai und Juni sang hier die Nachtigall, an jenem Nachmittag aber summten nur geschäftige Hummeln über den Halmen, und gelbe Schmetterlinge flatterten auf und nieder, hin und her, als tändelte die Luft mit Blumenblättern.

„Prost Mahlzeit, Meister!“ rief die Schielende dem Todtengräber zu, der unweit des Zaunes bis an die Schultern in einem frischen Grabe stand und Erde ausschaufelte.

„’N Morgen,“ erwiderte er, ohne sich umzusehen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 786. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_786.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)