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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

„Ist das der Doctorin Grab?“

„Es wird’s, es wird’s,“ antwortete Jener.

„Wenn es nach Recht und Verdienst ginge,“ sagte die Schielende, „müßte eine Andere hinein.“

„Ah bah; ein wenig früher, ein wenig später – ich begrabe sie Alle.“

„Bis Ihr selber an die Reihe müßt.“

„Na,“ sagte der Alte und drehte jetzt sein rothes, pfiffiges Gesicht den Frauen zu, „ich habe lange genug Andern eine Grube gegraben.“

Da die Arbeit gethan war, half er sich mit dem Spaten aus der Tiefe und hob seinen schwarzen Kittel aus dem Grase auf.

„Ist’s schon so weit?“ fragte die Webersfrau.

„Wird bald zum ersten Mal läuten,“ war die Antwort. Dann zog er eine Branntweinflasche aus der Westentasche und that einen tüchtigen Schluck.

„Gut vor einem Begräbniß,“ schmunzelte er, die Flasche den Frauen reichend. Aber nur die Schielende that ihm Bescheid. „Gut für Alles,“ sagte sie nach einem langen Zug.

„Ihr habt wohl heute noch Feiertag?“ fragte der Alte und zwinkerte mit den Augen. Aber Peter’s Frau nahm seine Anspielung übel auf.

„Ihr seid ein aller Sünder!“ zürnte sie. „Das ewige Leichenbuddeln hat Euch herzlos und verstockt gemacht. Sonst würdet Ihr Euch schämen, über uns arme Leute zu spotten! Weil Ihr vom Tod das gute Leben habt, Todtenwachen, Begräbnißsporteln und den ganzen Kirchhof! Ihr könnt nicht leugnen, das habt Ihr!“ Sie begann zu schluchzen. „Und ich frage mich oft: warum ist mein Mann nicht Todtengräber geworden? Dann litte er nicht Noth – und mich, mich könnte er begraben.“ Ihre Stimme erstickte in Thränen. Auch das Kind begann zu weinen.

„Na,“ beschwichtigte der Alte, „ich meint’ es nicht so böse. Aber der Oldenburg,“ fuhr er ironisch fort, indem er sich mit einem neuen Schluck aus der Flasche stärkte, „der Oldenburg, das ist ein Gescheidter, der weiß Alles; er mußte natürlich auch vorherwissen, daß seine Frau bald sterben wird, und darum sah er sich bei Zeiten nach einem Ersatz um … Ein Tausendsappermenter, dieser Oldenburg!“

„Ein ruchloser Mensch ist er,“ rief Peter’s Frau und gewann plötzlich Muth und Beweglichkeit. „Eine Liebschaft vor den Augen seiner Frau zu unterhalten! dem braven Weib das Herz zu brechen!“

„Und solch ein Mörder will uns in seiner Zeitung vorschreiben, was wir thun und lassen sollen?“ fiel ihre Begleiterin ein. „Ha, seine Mamsell, des Pillendrehers Tochter, soll sich heute blicken lassen! die Augen kratz’ ich ihr aus.“

„Dabei bin ich auch,“ sagte die Schüchterne sehr entschlossen.

„Sie wird sich hüten,“ meinte der Todtengräber, „doch in die Grabrede kommt sie, dafür lass’ ich den Pastor sorgen.“ Damit verließ er den Platz. Die Webersfrauen aber kehrten in das Haus zurück und mahnten ihre Hausgenossinnen, daß es Zeit zum Begräbniß sei. Und bevor von der Kirche die Glocken riefen, wanderte eine Truppe von mehr als hundert Fabrikarbeiterinnen über den Marktplatz zum rothen Roß. Als sie beim Trauerhaus anlangten, wo Männer, Frauen und Kinder in flüsternden und doch aufgeregten, unruhigen Gruppen sich drängten, deutete die Schüchterne auf ein Fenster und sagte: „Da droben liegt sie.“

Droben lag sie. Des Doctors Wohnung steht wie die Schenke im Erdgeschoß Jedermann offen, und es herrscht zwischen unten und oben ein stillgeschäftiger Verkehr. Man sieht den wohlgenährten Bürger, der jetzt in der Wirthsstube mit Andern zusammensteht, ein Bierseidel leert und zornigen Gesichts die Fabrikfrage erörtert, einige Minuten später im Trauerzimmer mit herabgezogenen Mundwinkeln und feuchten Augen seinen Bekannten feierlich die Hand schütteln, als wäre fortan die Welt schwarz für ihn und interesselos. Kinder drängen sich an den Schänktisch und sehen mit eben der Scheu, womit sie droben den Sarg betrachteten, dem Bierschank des Kellners zu. Frauen wühlen auf der Treppe noch schonungslos in der Herzenswunde der Verstorbenen und treten dann schluchzend vor die Todte, deren Leben Dulden und Verzeihen war. Es ist ein Köpfezusammenstecken, Flüstern und Seufzen, ein rastlos Kommen und Gehen im Todtenzimmer, daß die Wachslichter um die Bahre unruhig flackern und qualmen. Aber diesen Schlaf stört kein Geräusch …

Oldenburg saß in der Nebenstube. Der Geruch von Rosen und Wachskerzen, Trauertüchern und von der Truhe, das Gemurmel und die Tritte drangen zu ihm, nichts aber zerstreute seine Gedanken, nichts verwirrte und bannte das Traumbild, das ihm vor Jahren erschienen war, als er seine Braut im Myrthenkranz an die Brust drückte, und das nun mit peinlicher Treue wiederkehrt, das er weiter denkt und ausmalt, als wäre das Dazwischen, die Enttäuschungen und Kämpfe, der Kummer und der Tod ein Traum. Er sah sich in seinem Arbeitszimmer, wie jetzt, aber mit ruhiger Stirn über Bücher und Schriften gebeugt. Es öffnet sich die Thür, und herein tritt sein schönes Weib, blühend in Gesundheit, Liebes- und Lebensglück, einen blondgelockten Knaben auf dem Arm. Lächelnd begrüßt sie den Gatten und reicht ihm das Kind zum Kusse hin. „Vater!“ sagt der Knabe, indem er die Aermchen schmeichelnd um seinen Hals legt. Er nimmt das Kind auf seinen Schooß, streicht ihm die Locken zurück und betrachtet das geliebte Antlitz: das ist seine Stirn und das sind der Mutter Augen – – Nein! nein! diese sanften, treuen Augen hatte nur ein Wesen, und sie sind gebrochen. Sein Traum ist Traum, und er ist einsam – einsam für immer.

Er schaute empor und sah Elise vor sich stehen … Es war eine Zeit, wo dieses Mädchens Besitz ihm der schönste Wunsch, das höchste Glück schien. Aber da? Gedächtniß selbst jener frevelnden Gedanken ist ausgelöscht, und das blonde Weib, das nicht mehr ist, waltet allein in seinem Traum. Elise reicht ihm tröstend die Hand, aber er fühlt, daß er einsam ist, einsam für immer.

Elise verstand Oldenburg’s irren Blick, las in seiner Seele. Schmerzlich, doch ohne Vorwurf, ließ sie seine Rechte und trat an’s Fenster. Die heiße Stirn an die Scheibe drückend, blickte sie auf die wogende Menschenmenge hinab. Und wieder zuckte sie zusammen, wie gestern. Wieder begegnete ihr Auge Gustav, der am Hause gegenüber stand und mit verächtlicher Miene zu ihr emporschaute. Sie wollte vom Fenster zurücktreten, aber ihre Augen waren gebannt, ihre Füße gelähmt. Ein wilder Schmerz ergriff sie, und sie war in Versuchung, das Fenster zu zertrümmern, sich hinabzustürzen und sterbend zu bitten: Gustav, nicht diesen Blick! … Und jetzt – bemerkt sie – wendet sich Flemming an einen Mann, der neben ihm steht, und zeigt mit seinem Stock auf das Mädchen droben – auf sie, auf sie – – Es ist ihr, als hörte sie sein Hohnwort. Ihre Sinne verwirren sich, und eine Weile lang ist es Nacht vor ihr. Dann wieder hinabblickend, sieht sie die Leute sich zusammenrotten, sieht alle Augen auf sich gerichtet, sieht zornige Gesichter, drohende Gebehrden. Sie vernimmt das Rufen der wildbewegten Gruppe – es wächst zum wüthenden Geschrei an, und ihr Name ist’s, ihr Name, den Männer mit drohend erhobenem Arm ausstoßen, Frauen kreischen, Kinder verwünschen. Elise erkennt die Einzelnen. Da ist Peter’s Frau, die Weberin; aber wie verwandelt: ihr Haar hat sich gelöst und ringelt sich den Nacken nieder; mit funkelnden Augen und fliegender Brust drängt sie sich durch die anwachsende Volksmasse, redet ihre Freundinnen und Fremde an und stachelt den Unwillen zur Wuth. Der Wirth vom rothen Roß tritt unter die Menge, will anscheinend beschwichtigen, aber bald verschwindet er unter den Tobenden. Ist Niemand da, der das Mädchen vertheidigt? Niemand. Nur mit Flüchen gepaart, schallt ihr Name zu der Unglücklichen empor. Gustav ist vor dem Andrange in den Kaufladen zurückgetreten und verfolgt als Zuschauer den Aufruhr, zu welchem er die Losung gab. Sein Blick vermeidet jetzt das Opfer droben.

Das Entsetzen raubt Elisen die Besinnung. Keines Schrittes fähig, mit schlotternden Knieen, hält sie sich am Fensterriegel aufrecht und steigert dadurch die Erbitterung der Untenstehenden, denn man legt ihr Verweilen als schamlosen Hohn aus. Da fliegt ein Stein empor, zerschmettert das Fenster, streift Elisens Arm und fällt dicht neben Oldenburg nieder, der endlich aus seinem dumpfen Brüten erwacht, und die Sinkende in seinen Armen auffängt. In demselben Augenblick wird die Thür aufgerissen und aus dem Trauergemach stürzt der Pastor herein, hinter ihm drängen sich die zum Leichenzug Versammelten zur Schwelle und blicken mit Angst und Unwillen auf das verfehmte Paar.

„Man stürmt das Haus!“ schreit der Priester. „Wehe, Wehe über die Sünde!“ Anklagen, Vorwürfe, Warnungen der Uebrigen begleiten seine Worte.

„Elende!“ ruft Oldenburg außer sich. „Achtet der Todten Nähe!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 787. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_787.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)