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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Gustav übte der Ernst der Stunde seinen Einfluß. Die Dankbarkeit und Theilnahme für seinen Retter war größer als seine Eifersucht gegen den Nebenbuhler. Er nahm, fast zärtlich, den gebrochenen, halb ohnmächtigen Mann und führte ihn vom traurigen Schauspiel hinweg. Als sie den Kreis, der sich von Minute zu Minute um das Opfer vergrößerte, hinter sich hatten, machte Gustav den Vorschlag, Oldenburg in das rothe Roß zu bringen, aber dieser entgegnete heftig: „Nein, nein – ich würde mich dort tödten …“ Nach einigem Nachdenken fragte Flemming, ob er – Oldenburg – den Rest der unseligen Nacht im Haus seiner Mutter verbringen wolle.

Der Wankende nahm die Einladung an, indem er sagte, daß er allerdings menschlichen Mitgefühles bedürfe, es aber gerade jetzt lieber von einem Fremden, als von Bekannten beanspruche. Da Gustav hierauf bedeutungsvoll entgegnete, daß sie einander nicht fremd seien, sah Oldenburg mit einem irren Blick in’s Antlitz und sagte: „Sie haben Recht. Diese Stunde hat uns verbrüdert.“

„Er kennt mich nicht,“ dachte Gustav und bewunderte die eigne Großmuth, womit er gegen den Todfeind Gastfreundschaft üben wollte. „Wie wird er sich schämen,“ sagte er bei sich, „wenn er erfährt, wer ihn aufnahm!“

Schweigend gingen sie dann die Straße hinab nach dem Hause Gustav’s. Da dieses am entgegengesetzten Ende der Stadt weit vom Schauplatz des Tumults und seiner gewaltsamen Beendigung lag, walteten in seiner Umgebung die Stille und der Friede der Nacht. Wenige Schritte vom Gartenthor aber verließ Oldenburg der Rest von Kraft. Er schwankte wie ein Trunkener und mußte sich auf einen Stein am Weg setzen, während Gustav in den Garten und zum Hause trat, wo im Erdgeschoß Licht schimmerte.

(Schluß folgt.)




Land und Leute.

Nr. 19. Auf rother Erde.[1]
II.
Altgeregelter Hausstand von Edelmann und Bauer in Westphalen. – Abfinden der jüngern Geschwister. – Die Tenne. – Das große Familienbett. – Das „Kürstündchen“. – Der Jahrmarkt. – Das Erntefest mit Umfahrt und Erntetanz. – „Hofbestattung“ und Leibzucht. – Der letzte Segen.

Das beglückende Bewußtsein, einen eigenen Heerd zu besitzen, verbindet sich wohl bei den meisten jungen Frauen mit dem angenehmen Gedanken, nun auch einen eigenen Willen zu haben und künftighin im Hause nach Gefallen schalten und walten zu können. Auf rother Erde ist das Loos einer Neuvermählten nicht ein solches; wenigstens ein durchaus anderes bei den Bewohnern Westphalens, die den Kern seines Adels, den Kern seines Bauernstandes bilden. Dort ist der ganze Hausstand seit Jahrhunderten ähnlich dem Räderwerk einer Uhr eingerichtet, dort sind Gesetze, ja selbst Handlungen statutenmäßig vorgeschrieben. Sowie Edelmann und Bauer bei der Wahl ihrer Lebensgefährtinnen nach festgestellten Regeln und Principien handeln müssen, so haben auch ihre rebellischsten Frauen sich dem alten Gesetz zu fügen, das sie einzig wie ein Glied in die unzerreißbare Kette jenes großen Ganzen einfügt, das sich nicht allein als eine Art chinesischer Mauer um den Boden der rothen Erde zieht, sondern auch als fester Grund- und Eckstein unter die Pfeiler gelegt worden ist, auf dem Westphalens Adel und Volk seine Schlösser und Höfe errichtet, seinen Wohlstand gegründet und seine Familien vor Ruin und Untergang geschützt hat. Nirgends wohl sind die Gesetze über das Erbrecht starrer, die Statuten über die Erbfolge eigenthümlicher, als in Westphalen.

Die Frau eines der reichsten Grundbesitzer kann, wenn sie keinen Sohn hat und ohne eigenes Vermögen ist, was meistentheils der Fall, nach plötzlichem Tode ihres Gatten ärmer als die ärmste Bauerfrau sein, weil sie verwöhnter ist! Man reißt ihr zwar nicht das Brillantdiadem, das sie lang geschmückt, vom Haupte, man ringt ihr nicht die kostbaren Juwelen des Familienschmucks mit Gewalt ab, aber sie darf von all den Schätzen nicht einen Stein, eine Perle zum eigenen Gebrauch behalten, und könnte solcher Stein, solche Perle sie auch auf Jahre vor dem Mangel schützen, vor dem das alte Familienstatut oft weder sie, noch ihre Töchter geschützt hat. Eine vierspännige Staatscarosse fährt solche Wittwe eines begüterten Edelmanns, laut Statut einzelner Besitzungen, aus den Gefilden des Reichthums und der Ueppigkeit. Sie bleibt ihr auch und ist die größte Ironie auf jenes bescheidene Jahrgehalt, das nur zur Nothdurft für sie und vielleicht einen Schooßhund ausreicht.

Meistens ist der älteste Sohn einziger Erbe des gesammten Vermögens, Erbe von Haus und Hof. Die jüngeren Geschwister werden unter Adel und Volk „abgefunden“ vom Erben, wie jene Theilung unter den Geschwistern heißt. Dies „Abfinden“ ist für den Begüterten aber ein sehr kleiner Ausfall in der Gesammtmasse seines Vermögens, oft die Revenue eines Monats, einer Woche, bei den Reichen vielleicht die eines Tages.

Der westphälische Edelmann, der den Sproß von sechzehn untadelhaften Ahnen als Gemahlin auf das Stammgut seiner Familie führt, der westphälische Bauer, der sein Weib auf den Hof seiner Väter bringt, Beide versetzen ihre jungen Frauen, trotz der neuen Welt, die sie ihnen erschließen, doch in eine alte Welt, in eine Welt, an der Nichts verändert, in der Nichts umgemodelt werden darf! Mit gleichem Stolz führen auch Edelmann und Bauer das Weib ihrer Wahl in diesen gefeiten Kreis altpatriarchalischer Gesinnung. Jener deutet stolz auf sein reines, unbeflecktes Wappenschild über dem mächtigen Portale des aus starken Quadersteinen aufgeführten Einfahrtsthores der Schloßhalle; dieser bleibt voll Triumph unter dem hohen Laubdach der alten Linden stehen und zeigt seinem jungen Weibe die moosbewachsenen Stämme, die sein Urahn dort einst gepflanzt.

Darf nun die Bäuerin im Haus auch ebenso wenig Etwas ändern, wie die Aristokratin im Schloß, so wird sie doch bald in der neuen Heimath ebenso heimisch und fleißig sein, wie auf dem Hof ihres Vaters. Erstaunen oder Verwunderung über Neues, noch nicht Gesehenes raubt ihr keine Zeit! Sowie die Wohnstube des Bauerhofes stereotyp ihren großen Kachelofen mit der hölzernen Bank darum hat, so überall im Hause, in der Tenne, in den Ställen, auf den Böden, dieselbe Einrichtung. In die Thür der Tenne kann ein mit vier Pferden bespannter, hoch mit Getreide angefüllter Wagen bequem einfahren und dort vom Manne abgeladen werden, ohne die am Heerde beschäftigte Frau zu belästigen. Jene Thür ist auch zugleich der Schornstein für allen Küchenrauch. In mächtigem Strome quillt dieser dem Eintretenden gar oft entgegen, wenn die auf dem Heerde fast ewig lodernde Flamme mit nicht völlig trocknem Holze genährt wird. Ueber dieser Flamme hängt an langen eisernen Haken bald ein Kessel, bald ein Topf, und Beides meist so groß, daß Ziege oder Schaf mit Bequemlichkeit Platz darin hätten.

Frühjahr, Sommer, Herbst dient diese Tenne dem Bauern als Aufenthalt bei seinen Mahlzeiten und in den Ruhestunden, und es genirt ihn nicht, daß der Theil seines Viehbestandes, welcher frei umherzulaufen pflegt, sich auch dort zu flüchtigen oder längeren Besuchen einfindet. Die meist mit Thon ausgestampfte Tenne ist stets sauber, und in musterhafter Ordnung hängen an den in verschiedenen Balken eingefügten Pflöcken die Ackergeräthe. An die eine Seite der Tenne grenzen die Stallungen für Pferde, Ochsen, Kühe, Schweine, und wirksam angebrachte Luken lassen diesen die freie Ein- und Aussicht in und auf den Hauptsammelplatz der Familie und jene niedern Regionen ihrer Standesgenossen, die sich dem geselligen Treiben der Menschen anzuschließen pflegen. An die andere Seite der Tenne stoßen die Milchkammern, die Wohnstube und der Alkoven, in welchem letztern ein Bett, mit Kissenbergen und Deckbetten, schwerer als das belastetste Gewissen, der ganzen Familie, sei sie noch so zahlreich, ein nach Länge und Breite ausreichendes Asyl bietet.

Knechte und Mägde schlafen auf dem Heuboden. Einem Gast, sei’s Mann oder Frau, wird aber, wenn er Nachts auf dem Hofe bleibt, jenes Familienbett ebenso freundlich und unbefangen zur Disposition gestellt, wie auf dem Edelsitz einem forschenden Heraldiker das Familienarchiv. Einem jungen reichen Bielefelder Kaufmannssohne,


  1. S. Nr. 32, S. 502 d. Jahrg.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 804. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_804.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)