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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Aus den Erinnerungen eines Gefängnißinspectors.
1. Nur aus Nachlässigkeit.

Es war bereits zehn Uhr Abends, als die Klingel an der äußern Thür des Gefangenenhauses drei Mal heftig und in rascher Folge gezogen wurde. Das war das Zeichen, durch welches der Director seine Ankunft meldete, wenn er nicht selbst den Schlüssel zur Thür bei sich trug. Sein Erscheinen zu dieser Stunde ließ allemal auf etwas Ungewöhnliches schließen. An jenem Abend mußte ich das um so mehr annehmen, als ein schauerliches Wetter und eine fast undurchdringliche Finsterniß den Aufenthalt außerhalb seiner vier Pfähle höchst unangenehm machten. Ich beeilte mich daher auch, an die Thür zu kommen und diese zu öffnen.

Der Director war nicht allein. An seiner Seite befand sich ein Mann, den ich nicht kannte, der einige fünfzig Jahre alt sein mochte und leicht, aber anständig gekleidet war. Der Director ließ ihn zuerst in das Haus eintreten. Aus der Art und Weise, wie das geschah, konnte ich annehmen, daß der Mann nicht freiwillig gekommen war, daß er vielmehr ein Bewohner des Hauses werden sollte. Und die Anwesenheit des Directors war ein sicheres Zeichen dafür, daß ich eine Person von „Distinction“ vor mir hatte. Ich sollte darüber nicht lange in Zweifel bleiben. Bei dem Eintreten in das Haus sagte der Director: „Ich drücke Ihnen, Herr von S., nochmals mein Bedauern aus, daß mich die Nothwendigkeit zwingt, Sie hier zurückhalten zu müssen; ich wünsche und hoffe aber zuversichtlich, daß dies nur von kurzer Dauer sein, daß die Untersuchung Ihre Unschuld zweifellos herausstellen wird.“

Herr v. S. erwiderte nichts. Er schien gar nicht gehört zu haben, was der Director gesagt hatte, er starrte in den langen Gang hinein, welcher zu den Gefängnißräumen führte und ihm in seiner halben Beleuchtung unheimlich erscheinen mochte. Ich stand dicht an seiner Seite und sah, daß ein leises Zittern seinen Körper überlief. Vielleicht war das eine Folge der Kälte, denn S. war nur leicht gekleidet. Es konnte aber auch der Ausdruck von Furcht sein; ist doch das Gefängniß ein Ort, der manche Schrecknisse in sich birgt.

„Sie übernehmen den Herrn v. S.,“ wendete sich der Director zu mir, „und behandeln ihn mit aller Achtung, die Sie seiner Stellung schuldig sind.“

Diese Mahnung war eigentlich unnöthig. Aber der Director liebte es, in Gegenwart Dritter Weisungen zu ertheilen und sich so als Mann der Milde und Humanität zu geriren, während er dem Beamten gegenüber den gestrengen Herrn spielte und auch das geringste Abweichen von den zahlreichen Instruktionen unnachsichtlich, manchmal sogar unbarmherzig, ahndete. In diesem Falle sollte die Mahnung indeß nur eine Verlegenheit zudecken, welche das Schweigen des Herrn v. S. hervorgerufen hatte. Denn unmittelbar darauf verließ der Director nach einem kurzen „guten Abend“ das Haus.

Ich war nun mit Herrn v. S. allein. Vor der Einschließung mußten noch einige lästige Förmlichkeiten beseitigt werden. In der Regel geschah das durch einen Aufseher, in diesem Falle mußte ich aber selbst thätig sein, damit die Achtung nicht verletzt würde, auf welche der neue Gefangene Anspruch hatte. In meinem Zimmer war es angenehm warm. Außerdem hatte ich mir eine Tasse Thee bereiten lassen. Da Herr v. S. noch nicht als Gefangener eingeschrieben war, so durfte ich noch Rücksichten nehmen. Ich stellte ihm einen Stuhl in die Nähe des Ofens, machte eine Tasse Thee zurecht und bat ihn, diese anzunehmen. Zu meinem Befremden wurde Beides abgelehnt. S. war stolz, er wollte von mir nichts annehmen und blieb unfern der Thür stehen. Es war eine imponirende Figur, groß, stark und kräftig, mit einem feinen, aber blassen Gesichte, das von einem vollen dunkeln Barte eingefaßt wurde. Der Ausdruck des Gesichts war ruhig und ernst, ich möchte sagen würdevoll; nichts verrieth Schwäche oder Niedergeschlagenheit, Alles wies auf Festigkeit und Vertrauen hin. Als ich ihn darum bat, nannte mir S. seinen vollständigen Namen, sein Alter und seinem Stand. Erst als er mir den Grund der Verhaftung angeben sollte, da wollten die Worte nicht über die Lippen; ich mußte die Frage wiederholen.

„Man giebt mir schuld,“ sagte er dann hastig, „Cassengelder veruntreut zu haben.“

Er sagte nicht, daß er unschuldig sei; er wollte sich jedenfalls mir gegenüber nicht rechtfertigen. Aber er preßte die Lippen fest zusammen und vermochte mich nicht anzusehen.

„Sie müssen,“ versetzte ich, um ihm nicht wehe zu thun, mehr bittend als befehlend, „bis auf die Kleidung, welche Sie tragen, Alles, was Sie bei sich führen, herausgeben und an mich abliefern.“

S. rührte sich nicht.

„Ich darf keine Ausnahme eintreten lassen,“ fuhr ich fort, „es ist unerläßlich, daß Sie das thun.“

Auch diese Bemerkung blieb unbeachtet.

„Wenn Sie mein Verlangen nicht freiwillig erfüllen,“ sagte ich etwas erregt, „so nöthigen Sie mich zu einer Durchsuchung, die ich gern vermeiden möchte.“

Erst hierauf leerte S. seine Taschen und legte die verschiedenen Gegenstände hastig und trotzig auf den Tisch, er behielt nur seine Uhr und zwei Ringe, einen großen Siegelring und einen einfachen Goldreif mit einem blauen Steine.

„Sie müssen auch die Uhr und die Ringe zurücklassen.“

„Die Uhr?“ fragte er und fügte, noch ehe ich antworten konnte, hinzu: „ja, und auch den Siegelring. Aber den zweiten Ring lassen Sie mir.“

„Es thut mir unendlich leid, ich muß auf meiner Forderung beharren.“

„Aber,“ rief S. heftig, „ich habe diesen Ring seit einundzwanzig Jahren an meiner Hand, ich habe ihn nie abgelegt und gelobt, ihn nie abzulegen; ich kann mich von demselben nicht trennen, die theuersten Erinnerungen sind damit verbunden.“’

„Und dennoch darf ich den Ring nicht in Ihrem Besitze lassen. Ich bitte, legen Sie denselben zu den übrigen Sachen auf den Tisch.“

„Herr Gott!“ schrie S., fast weinend, „was ist aus mir geworden ! ich kann ihn nicht freiwillig hergeben; ich muß Ihnen überlassen, den Ring mir – wegzunehmen.“

Ich ergriff die Hand des Gefangenen, zog den Ring ab und legte ihn auf den Tisch. S. leistete keinen Widerstand, aber die Hand zuckte, und als ich ihm zufällig in das Gesicht sah, bemerkte ich, daß der große, starke Mann weinte. Ich mußte ihm unendlich wehe gethan, ihn tief gekränkt haben. Jedenfalls war dieser Ring der Schlußstein, auf welchen vieljähriges Familienglück sich gründete, und bei der gewaltsamen Wegnahme desselben mußten die vielfachen Freuden, welche jenem Glücke entsprossen waren, ihm vor das Auge getreten sein und dies genäßt haben.

Das Maß der Leiden war damit aber noch nicht voll. Die Eintragung in die Liste war erfolgt. Eben so hatte ich die Asservate verzeichnet und dies Verzeichniß anerkennen lassen. Ich konnte nun Herrn v. S. in meinem Zimmer nicht mehr zurückhalten, ich mußte ihn einschließen. S. mußte mir vorausgehen. Er folgte willig, aber schweigend. Ich führte ihn in die zweite Etage des Hauses, in welcher sich die Zellen für die Untersuchungs-Gefangenen befanden. Dieselben waren sämmtlich gleichmäßig groß und unterschieden sich nur dadurch von einander, daß ein Theil nach Mittag, der andere dagegen nach Mitternacht zu gelegen war. S. sollte eine nach Mittag gelegene Zelle bewohnen. Bei dem Ueberschreiten der Thürschwelle stutzte derselbe; er zog den bereits erhobenen Fuß wieder zurück, wendete sich mir zu und sagte dann: „Wollen Sie die Güte haben, zuerst einzutreten und Licht anzuzünden? Vielleicht, daß der Aufenthalt mir dann weniger schrecklich ist.“

„Sie erhalten kein Licht,“ entgegnete ich.

„Was?“ fragte er erschreckt, „gar kein Licht?“

„Nein,“ erklärte ich bestimmt, „es ist das ausdrücklich verboten.“

„Das ist ja schrecklich,“ rief er voller Entsetzen. „Jetzt im November von vier Uhr Nachmittag bis acht Uhr Morgens ohne Licht, also geistig todt, das muß ja einen vernünftigen Menschen wahnsinnig machen!“

„Sobald Sie geistig oder körperlich krank werden sollten,“ versetzte ich tröstend, „erhalten Sie Licht, wenn der Arzt dies für nöthig findet. Bis dahin darf Ihnen keins verabreicht werden.“

„Das ist entsetzlich, das ist fürchterlich!“ sagte S. dumpf in sich hinein, indem er die Schwelle hastig überschritt.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 808. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_808.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)