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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Das Gefängniß war etwa zwölf Fuß lang und sechs Fuß breit. In der einen Ecke befand sich auf dem Fußboden ein Strohsack, darüber ausgebreitet ein weißes leinenes Tuch und eine wollene Decke; auf der andern Seite ein kleiner Tisch und eine Bank, welches Beides auf dem Fußboden befestigt war.

„Sie müssen,“ sagte ich zu dem Gefangnen, nachdem ich ihm die Einrichtung gezeigt hatte, „jetzt die Kleider ab- und geordnet auf die Bank legen und dann Ihr Lager aufsuchen. Da Sie sich im Dunkeln nicht werden zurechtfinden können, so werde ich das Licht hier an der Thür stehen lassen, nach fünf Minuten aber zurückkehren. Ich erwarte, daß Sie dann fertig sein werden.“

Der Gefangene erwiderte nichts. Als ich die Zelle verließ, bemerkte ich, daß er beide Hände an seinen Kopf legte, sonst aber sich nicht rührte. Der Mann that mir leid, er mußte unendlich viel leiden. Sein Stolz wurde gebeugt, sein Trotz gebrochen und ihm eine Wunde geschlagen, welche unheilbar sein und für die ganze Lebenszeit fortbluten mußte. Der Schmerz war tief in das Innere hineingedrungen, hatte sich hier festgesetzt und wühlte nun in der Brust, ohne einen Ausgang finden zu können. Solche Schmerzen thun zehnfach wehe.

Nach etwa zehn Minuten war ich wieder bei S. Er stand noch genau ebenso, wie ich ihn verlassen hatte. Ich durfte das nicht dulden.

„Herr v. S.,“ sagte ich ernst, „ich habe Ihnen statt fünf zehn Minuten Zeit gelassen. Sie haben meine Weisung nicht befolgt. Jetzt fordere ich Sie auf, dies sofort zu thun, damit Sie sich keine Verlegenheiten bereiten.“

Er schreckte zusammen, als er mich sprechen hörte, die Hände fielen schlaff herab, und seine großen, braunen Augen starrten mich wie abwesend an. Nach einer kleinen Pause sagte er langsam und in tiefer Bewegung: „Aber, mein Herr, ich will mich nicht legen, ich will auf meinen Füßen bleiben. Das werde ich doch thun dürfen?“

„Ich bedauere,“ entgegnete ich, „Ihnen bemerken zu müssen, daß der Gefangene in diesen Mauern keinen Willen hat. Nach der Hausordnung ist es unstatthatt, daß der Gefangene während der Nacht angekleidet bleibt und nicht auf seinem Lager zubringt. Es geschieht dies, um Fluchtversuche zu verhindern, weshalb bei Verdächtigen die Kleider während der Nacht auch außerhalb der Zelle verwahrt werden. Sie sind nicht verdächtig, Herr v. S., ich werde Ihnen daher Ihre Kleider belassen; aber auskleiden und niederlegen müssen Sie sich auf jeden Fall.“

Ich sagte das Letztere mit erhobener Stimme, damit S. nicht zweifelhaft sein konnte, daß er folgen müsse. Er that das auch. Aber ich werde in meinem Leben den Ausdruck seines Gesichts nicht vergessen. Ich hatte und habe nie etwas Schmerzlicheres gesehen. Und als er fertig war, als er sich auf den Strohsack niederwarf, da gewahrte ich, wie seine Brust keuchte und wie er das laute Aufschreien unterdrückte. Mir ging das so nahe, daß ich an seiner Stelle hätte weinen mögen. Auch der Gefängnißbeamte weiß den wahren Schmerz zu würdigen. –

Die Nacht war vorüber. Mich drängte es, S. aufzusuchen. Ich fand ihn noch unangekleidet auf seinem Strohsacke sitzen. Als ich eintrat, sprang er auf.

„Nun muß ich wieder aufstehen und mich ankleiden,“ sagte er ruhig, „nicht wahr? Ich bin ja hier nicht mehr als eine Maschine. Sie sehen, ich bin heute viel ruhiger, als ich diese Nacht war. Und wissen Sie, mein Herr, wodurch ich das geworden bin? Ich habe mein Leben Schritt vor Schritt verfolgt und mich so überzeugt, daß ich das nicht gethan habe, was man mir schuld giebt. Aber noch mehr, ich könnte mit einer seltenen Gedankenschärfe die Ursachen aufsuchen, welche zu meinem Mißgeschicke Veranlassung gegeben haben. Und ich bin auch so glücklich gewesen, auf einen Umstand zu stoßen, der mir meine Freiheit wiederbringen muß. Ich bitte, mein Herr, melden Sie dem Herrn Director oder, wenn dieser behindert sein sollte, dem Herrn Untersuchungsrichter, daß ich so bald als möglich vernommen zu werden wünsche, weil ich im Stande wäre, die Differenz aufzuklären.“

„Da werden Sie sich doch wohl noch einige Stunden gedulden müssen,“ versetzte ich. „Der Rapport geht erst acht Uhr ab. Außerdem haben Sie heute Vormittag Ihr Verhör zu gewärtigen, also Gelegenheit, sich auszusprechen. Eine besondere Meldung darf ich in diesem Falle nicht erstatten, weil derselbe nicht zu den besonders schleunigen gehört.“

„Ich werde warten,“ entgegneie S. ruhig, „bis ich gerufen werde.“

Gegen elf Uhr wurde er zum Verhör vorgeführt. Er ging aufrecht mit festen Schritten, mit erhobenem Kopfe, nicht wie ein Schuldiger. Das Auge strahlte in seltenem Glanze, wie das eines Siegers nach glücklich beendetem Kampfe. Und doch hatte er noch nicht gesiegt, er wollte erst für seine Freiheit kämpfen. Gegen ein Uhr kehrte er zurück, betrübt und niedergeschlagen.

„Man hat mir nicht glauben, mich nicht freigeben wollen.“ Das war Alles, was er mir sagte. Er hatte sich getäuscht, wie das so häufig geschieht. Die Criminal-Justiz läßt Den nicht so leicht wieder los, welchen sie einmal gefaßt hat. Nach etwa sechs Wochen, in welcher Zeit sich S. fügsam, willig und anspruchslos, aber auch stets schweigsam zeigte, wurde derselbe vor die Geschworenen gestellt. Ich erfuhr nun, daß er achthundert Thaler nicht zu der von ihm verwalteten Casse gebracht und ebenso die Eintragung in die Bücher unterlassen habe.

S. gestand das zu, bekannte sich aber nicht für schuldig und behauptete, daß der Fehler blos aus Vergeßlichkeit geschehen sei. Unmittelbar nach der Abgabe des mit der Post eingegangenen Geldcouverts sei eine entfernt wohnende Schwester unvermerkt bei ihm eingetreten. In der Freude über diesen Besuch habe er sich nicht die Zeit genommen, das Geld in die Casse zu bringen und den Eingang in das Cassenbuch einzuschreiben; er habe den Geldbrief eiligst in ein auf seinem Arbeitstische liegendes Actenheft gesteckt und damit weggelegt. An diesem Tage sei er nicht wieder in sein Arbeitszimmer gekommen und bei der Revision am Nachmittag des folgenden Tages sich in der Bestürzung nicht erinnern können, wo das Geld geblieben sei; erst in dem Gefängnisse sei ihm das wieder in das Gedächtniß gekommen.

Obgleich das Geld an der bezeichneten Stelle unentsiegelt gefunden worden war, so führte der Staatsanwalt in einer längeren Rede doch aus, daß das Nichtzurcassebringen ein Beiseiteschaffen und die unterlassene Eintragung in das Cassenbuch eine unrichtige Buchführung darstelle; daß auf den Nachweis des Geldes nichts gegeben werden dürfe, weil dieser Nachweis erst das Ergebniß der Verhaftung sei, und daß mithin das Schuldig ausgesprochen werden müsse.

Der Vertheidiger war ein geschickter Mann. Er sprach klar und faßlich. Zuerst wies er nach, daß von den Erfordernissen, welche die Anwendung des Strafgesetzes voraussetzten, hier nichts dargethan sei, und dann wußte er mit wenigen ergreifenden Worten auf das Gefühl der Geschworenen einzuwirken, indem er die bisherige Unbescholtenheit und Reinheit des Angeklagten vorhielt und diesen Eigenschaften das Ungeheuerliche der Strafe gegenüberstellte. Sein Antrag lautete: Nichtschuldig.

S. behielt unverändert seine Ruhe. Noch am Schlusse der Verhandlung erklärte er laut und fest, daß er nicht im Entferntesten daran gedacht habe, das Geld bei Seite zu schaffen und die Eintragung in die Bücher zu unterlassen, daß dies vielmehr aus Nachlässigkeit unterblieben sei, die er allerdings zugeben müsse.

Die Geschworenen blieben nur kurze Zeit in ihrem Berathungszimmer. Sie hatten dem Angeklagten Glauben geschenkt, denn ihr Obmann erklärte: „Nein, der Angeklagte ist nicht schuldig.“

S. kehrte nicht wieder in das Gefängniß zurück. Er hat die eine Nachlässigkeit schwer büßen müssen und trägt vielleicht jetzt noch daran, obgleich seitdem bereits mehr als zehn Jahre verstrichen sind.




Die Amazonen.

Unter all den schönen Sagen, welche die Dichter des Alterthums berichten, ist kaum eine, die ein gleiches Interesse und kopfschüttelndes Staunen erregt, wie die Sage von den Amazonen. Die schönen Leserinnen sind stolz darauf, daß zu den schwersten Arbeiten, die der Zorn einer Göttin für den Helden Hercules ersann, die gehörte, einer Frau das Wehrgehenk zu entreißen; daß der tapfere Perseus sich unter allen seinen Thaten keiner so sehr rühmte, als daß er einer Dame, der Medusa, den Kopf abgeschlagen;

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 809. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_809.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)