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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Zwei Weihnachtsabende.

In jener prachtvollen Straße der reichen Kaufmannsstadt, wo sich die geräumigen, wohnlichen Häuser an Eleganz zu überbieten scheinen, gewahrt man heute an vielen Fenstern hellen Lichterglanz. Riesige Christbäume mit zahllosen Kerzen verbreiten einen Schimmer, der selbst durch die dichten Gardinen dringt und den Vorübergehenden eine Ahnung giebt von der Pracht und dem Reichthume, die sich heute dort entfalten mögen.

Nur eines der palastähnlichen Häuser ist finster und die wenigen erleuchteten Fenster geben Zeugniß, daß man dort auch heute in nichts von der täglichen Gewohnheit abgegangen ist. Das Haus gehört einem Manne, dessen Reichthum ein fürstlicher genannt werden kann. Er bewohnt das weitläufige Gebäude nur mit seiner Gattin und der Dienerschaft, aber es ist ein finsterer Geist, der in jenen Räumen waltet. Der reiche Mann scheint den Freuden des Lebens entsagt zu haben, finster ist sein Blick, gebeugt sein Gang, die bleichen Lippen mögen des Lächelns schon längst entwöhnt sein; nur ein bitter höhnischer Zug spielt zuweilen um seinen Mund. Auch des reichen Mannes Gattin, eine würdige Matrone, muß schon schwere Sorgen in ihrem Leben ertragen haben; ihr Haar ist gebleicht und die kummervollen Falten des edlen Antlitzes erzählen von den schweren Leiden eines gekränkten Mutterherzens. Die matten Augen mögen wohl unzählige Thränen geweint haben, aber den Zug unendlicher Güte konnten sie aus den sanften Blicken doch nicht verwischen. In Gegenwart ihres Gatten zwingt sich die Matrone, heiter und gefaßt zu erscheinen; sie möchte so gern seinen Kummer heilen, den sie so lange getheilt hat und der noch immer schwer ihr Herz bedrückt.

Die beiden alten Leute stehen allein, ganz allein in der Welt, und nie mag wohl eine solche Einsamkeit drückender auf Herz und Seele lasten, als am Christabend, wo Jubel und Freude überall zu herrschen pflegen.

Einstens freilich war es anders in diesem Hause. Vor zehn Jahren herrschte auch hier ein freudiges Leben und das jetzt so stille und trübe Elternpaar schwelgte im Vollgenusse eines Glückes, das durch ihr einziges Kind, die liebliche Gertrud, begründet wurde. Wie es kam, daß dieses schöne Glück mit einem Schlage für immer zertrümmert ward – wir wollen es hier nicht des Breitern erzählen. Es ist kalt heute auf der Straße, und die Geschichte, die da drinnen in dem reichen dunklen Hause just vor zehn Jahren am Weihnachtsabend spielte, ist eine heiße, glühende Geschichte, wie sie nur im Herzen der Menschenbrust geschrieben steht. Unter den heißen Thränen eines schönen Mädchenauges, unter Bitten und Flehen eines jungen, aber armen Mannes und dem zürnenden Fluche eines Vaters wickelt sich hier ein trübes, erschütterndes Drama ab, dessen Schlußact mit der Zerstörung eines schönen Familienglückes endet. An jenem Weihnachtsabend brannten umsonst die Lichter des Tannenbaums, umsonst waren all’ die reichen Gaben für das geliebte Kind in dem Salon aufgestapelt, umsonst das Warten der Eltern – das einzige Kind, um dessenwillen alle Pracht aufgebaut war, erschien nicht am Weihnachtstisch, und statt ihrer kam nur ein Brief mit Worten des Abschieds und Bitten um Verzeihung, daß sie mit dem geliebten Mann hinausgezogen – fort von dem zürnenden Vater, der dem armen Liebling ihres Herzens die Anerkennung versagte.

Was an jenem Abend des gestörten Christfestes in dem Hause vorging, übergehen wir mit Stillschweigen. In den Ausbrüchen des wüthenden Zorns warf der Vater der fliehenden Tochter Verwünschungen nach, die das Herz der armen Mutter erbeben machten. All’ ihr Bitten und Flehen prallte am eisernen Willen des beleidigten Vaters ab. Selbst als die erste Nachricht von der glücklichen Ankunft des jungen Paares in London eintraf, als die junge Frau mit der ganzen Gluth der jungen Liebe ihr Glück schilderte, dem nur noch die Verzeihung des Vaters fehle, um die sie mit aufgehobenen Händen flehe – selbst da wies der Zürnende jede Vermittelung zurück und befahl seiner Frau Stillschweigen, als sie immer und immer wieder für das einzige Kind bat.

Aufgebracht, wie er war, schrieb er damals sofort an den Verführer, daß ihn seine ganze, tiefste Verachtung treffe, Gertrud aber möge versuchen, ob sie, belastet mit dem Vaterfluche, im Stande sei, an der Seite ihres Verführers zu vergessen, daß ihre eigenen Eltern den Tod herbeisehnten, um von der Schande befreit zu werden, die ein mißrathenes Kind über ihr Haupt gebracht hätte.

Die jungen Leute hatten sich hierauf, wiewohl mit schwerem Herzen, hinüber nach Amerika gewandt, von wo aus Gertrud noch einigemal versuchte, den harten Sinn ihres Vaters zu erweichen. Alle ihre Briefe aber blieben ohne Antwort, denn der alte Herr öffnete niemals einen derselben, sondern übergab sie ungelesen den Flammen. Er hatte das Bild seiner Tochter ganz aus dem Herzen verbannt, wenigstens versicherte er dies oft kalt seiner Gattin, wenn diese in Klagen um ihr verlorenes einziges Kind ausbrach. Unter solchen Verhältnissen wird man leicht begreifen, daß gerade das Fest allgemeiner Freude – Weihnachten, für jenes alte Ehepaar immer ein sehr trauriges war. An diesen Tagen flossen der Mutter Thränen im Geheimen endlos um die Tochter, von deren Schicksal sie schon seit Jahren nicht das Mindeste erfahren hatte. Der Vater dagegen bemühte sich, in dieser Zeit womöglich noch kälter und verschlossener zu sein, als es gewöhnlich der Fall war.

Der Weihnachtsjubel war verbannt aus jener Stätte des Reichthums, doch unterließ die würdige Matrone es nie, am Christfeste wohlthätige Spenden an Bedürftige nach allen Seiten hin auszutheilen, und wenn dann die Armen kamen, um ihr dankerfülltes Herz vor ihrer Wohlthäterin auszuschütten, sagte sie beim Abschied heimlich zu den Beglückten: „Betet für mein armes Kind, das vielleicht so arm wie Ihr in der weiten Welt umherirrt; dies ist der einzige Dank, den ich von Euch verlange.“

An dem Abend, von dem im Eingang unserer Erzählung die Rede war, am zehnten Jahrestage von Gertrud’s Flucht aus dem elterlichen Hause, konnte sich die alte Mutter einer tiefen Wehmuth nicht erwehren. Sie hat an eine Menge Armer die gewohnten Wohlthaten vertheilt, womöglich noch reichlicher, als früher. Aber auch ihrem tiefgebeugten Gatten wollte sie eine Freude bereiten. So Manches, wodurch sie ihn zu erfreuen glaubt, hat sie eingekauft und dazu auch einen mächtigen Tannenbaum, den ersten, der seit jenem Schreckensabend wieder in das Haus der Trauer gekommen ist. Wieder hat sie unter Thränen der Erinnerung im Prunkzimmer den Weihnachtstisch geordnet und die Gaben für ihren Gatten darauf ausgebreitet. Sie will jetzt die Kerzen des Baumes anzünden. Da mitten in die Vorbereitung fällt ihr ein, daß diese Ueberraschung vielleicht den Gatten unangenehm berühren könne; sie beschließt deshalb, ihn lieber auf die beabsichtigte Feier vorzubereiten.

Drüben im Nebenzimmer sitzt der alte Herr vor dem Kamine und blickt finster in die lustig emporleckenden Flammen.

„Guter Ferdinand,“ sagt seine Frau, sich ihm nähernd und die Hand schmeichelnd auf seine Schultern legend, „darf ich Dir wohl einen Vorschlag machen?“

„Warum nicht? sprich nur,“ entgegnet gleichgültig der alte Herr, ohne seine Stellung zu verändern.

„Du weißt, wir haben so lange kein Weihnachtsfest mehr gefeiert,“ beginnt zaghaft die Matrone.

„Ich dächte, das letzte vor zehn Jahren wäre ein so mißlungenes gewesen, daß Dir wohl auf Lebenszeit die Lust dazu hätte vergehen müssen,“ unterbricht sie der Gatte heftig.

„Ich möchte Dir gern auch wieder einmal eine Freude bereiten,“ fährt die Gattin im sanftesten Tone fort, als überhörte sie jene bittere Anspielung. „Ich habe Dir einige Kleinigkeiten gekauft, auch habe ich, soweit es meine blöden Augen erlaubten, selbst etwas für Dich gearbeitet, worüber Du Dich gewiß freuen wirst. Drüben liegt Alles bereit, darf ich die Kerzen des Christbaumes anzünden?“

„Frau, wenn Du mich noch ein klein wenig lieb hast und wenn Du willst, daß ich Dir nicht gram werden soll, so sprich mir kein Wort von Weihnachten und vom Christbaume. Fort, fort, in das Feuer damit!“

So poltert, heftig aufspringend, der alte Herr und durchmißt mit großen Schritten die Stube.

„Aber Ferdinand, willst Du mir denn nicht diese kleine Liebe erweisen?“ bittet die gute Frau, die sich schon ihrer Thränen nicht mehr erwehren kann.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 814. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_814.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)