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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

mit einem langen Blick betrachtet hatte, durchwandelte er einigemal das Zimmer, um Fassung und einen klaren Gedanken zu gewinnen. Dann blieb er eine Weile am Fenster stehen und schaute hinaus auf das Wogen und Wallen der Nebel, auf den Kampf von Licht und Schatten in den Gefilden und auf das erglimmende Morgenroth. Als er sein Antlitz wieder Gustav zukehrte, gab der Aufruhr seiner Seele nur den großen Augen Feuer, seine Züge, seine Bewegungen waren fest, ruhig, würdevoll. Das offene Fenster im Rücken, leicht an den Sims sich anlehnend, begann er:

„Ich weiß, wohin Sie zielen. Sie sind beleidigt und wollen Genugthuung, das heißt, was man so Genugthuung nennt. Wohlan. Ich bewies Ihnen in der verflossenen Nacht meinen Muth. Sie werden mir also nicht Feigheit als Beweggrund zuschieben, wenn ich Ihnen eine bessere Genugthuung verspreche. Hören Sie mich an!

„Es gab zu allen Zeiten Schwärmer für Ideen, welche zu Märtyrern für dieselben werden, auch wenn es weder Zeit, noch Umstände erfordern. Ich war ein solcher Schwärmer. Weil es in meinem System stand, daß ein Mann des Volkes – dafür halte ich mich auch heute noch – heirathen muß, verband ich mich mit einer armen Wäscherstochter von unaussprechlich sanfter Gemüthsart und zarter Schönheit, harmlos, unerfahren, unwissend wie ein Kind. So weit war es gut: der Volksmann freit die Tochter aus dem Volke. Meine Schuld begann erst, als der Mann des Volkes begehrte, daß seine Frau mehr als gut, häuslich und arbeitsam sein sollte; als ich die Geduld verlor, wenn die Wäscherstochter nicht für Lessing und Goethe schwärmte; als ich unwillig wurde, wenn sie mit erschrockenen Augen meinem Arbeitstisch sich näherte, und außer mir war, weil sie meine literarische Thätigkeit, meine Ideen und Pläne, meinen Ehrgeiz für ein Unglück hielt. Unsere Ehe blieb kinderlos. Aeußeres Mißgeschick trat hinzu. Die tausend Räthsel und Probleme der Gegenwart im Staats- und Völkerleben, in Kunst und Wissenschaft lasteten auf meiner Seele. Ich zersplitterte meine Kraft, indem ich alle zu lösen versuchte. Meine Frau siechte. Ich zog ihr zu Liebe hierher, in meine stille Heimath, das heißt, ich gab Alles auf, was ich in der großen Stadt und durch die große Stadt zu erreichen hoffte. Hier begegnete mir Elise Reiser, die ich als Kind verlassen hatte, als herrliche Jungfrau, geistreich ohne Affectation, bei aller Grazie voll Wissen und Wißbegierde, feurig und schwermüthig zugleich, gut und schön. Sie begriff die titanischen Kämpfe in meiner Brust, weil sie die Zeit begreift; nahm an meinen Arbeiten Theil und hielt mich hoch bei den Verdächtigungen und Vorwürfen, die ich als Journalist von Gegnern und Parteigenossen erlitt, weil ich ihnen bald zu viel, bald zu wenig sagte. Sie ergänzte meine Frau, und wir Drei waren in der Freundschaft glücklich. Aber das Entzücken meines Geistes hielt ich für den Taumel der Empfindung und eines Tages, als Elise Ihren Verrath beweinte, zog ich sie an meine Brust und küßte sie mit den Lippen, die von der Reinheit des Volkes und von Bürgertugend so trefflich zu sprechen wissen … Wir fanden uns wieder, aber der Fluch fiel auf uns Beide. Die Verleumdung, die an unser Ohr schlug, vergrößerte nur, aber erdichtete nicht die Schuld. Meine Frau welkte rasch unter dem Schatten, der auf uns lag. Ich begrub sie gestern, und gestern auch ward mein Urtheil gesprochen: Ich sah das Volk, dessen Vertheidiger, Freund und Bruder ich sein will, im Wahn und Irrthum, aber es weist meine Stimme zurück, weil auch mein Leben nicht mehr rein von Makel ist; ich darf den Armen nicht mehr Geduld! zurufen, seitdem ich gegen die Losung meines Standes knirschte, die Resignation, die Entsagung persönlichen Glücks. Wer Priester sein will, muß den Nimbus haben!“

Er schwieg eine Weile. Als Gustav ihn nicht unterbrach, fuhr er fort: „Sie hegen wahrscheinlich den Wunsch, mich zu tödten. Ich gestehe Ihnen, daß ich nicht weiß, wie ich weiter leben soll, seitdem ich die Entdeckung machte, daß ich im Entsagungsmuthe wanken kann. Von großen Ideen für den Fortschritt der Menschheit, für das Wohl des Allgemeinen erfüllt, nahm ich Rücksicht auf mein kleines Ich und wollte mehr als nützlich, wollte geliebt sein. Das verdient den Tod … Was aber berechtigt Sie, mein Richter zu sein?! Ihre Wahlstatt ist – soviel, ich gehört habe – der Salon, Ihre Losung Genuß, Ihr Abgott die eigene Person. Sie könnten ebensogut unter Nero in Rom oder unter Ludwig dem Vierzehnten in Frankreich leben. Ich aber bin der getreue Sohn meiner Zeit. Mit meinen Anlagen würde ich in vergangenen Tagen vielleicht ein berühmter Mann geworden sein, und doch, wenn ich mit einem Wink meiner Hand die Welt verwandeln könnte – ich würde mir lieber die Rechte abhauen, als sie gegen meine Zeit erheben. Ich leide unermeßlich, daß ich einmal, auch nur einmal des Vaterlandes vergessen und genießen wollte. Wann denken Sie an Ihr Volk, weinen über ihm zugefügtes Unrecht, träumen von seiner Zukunft? Ich arbeite, und wenn es auch nur ein Wälzen von Gedanken ist, ich arbeite. Was thaten Sie bisher?“

Er hatte sich in leidenschaftlicher Erregung hoch aufgerichtet. Hinter ihm leuchtete und flammte jetzt der ganze Himmel. War es der Wiederschein des Morgens oder Scham, Gustav’s Antlitz glühte. Aber mit dem rauhen Ton verletzter Eitelkeit entgegnete er: „Halten wir uns an die Thatsache, mein Herr! Ich bilde mir nicht ein, Haupt- und Staatsfragen zu lösen, aber über die Tugend eines Mädchens kann ich urtheilen, wenn ich mein Urtheil nöthigenfalls mit der Pistole in der Hand vertheidige.“

„Herr,“ versetzte der Andere zornig, während er vorwärts trat und Gustav’s Arm preßte, „die Tugend der Frauen ist kein Ziel für Kugeln.“

„Bah, ich glaube mit mehr Recht, als Sie, für Elise schwärmen zu dürfen. Ich liebte sie; ich war überzeugt von ihrer Tugend, stolz auf ihre Treue.“

„Würden Sie diese Sprache auch Ihren Genossen, Ihren Freunden gegenüber führen?“ fragte Oldenburg mit kühler Verachtung und ließ den Arm des Andern los. „Würden Sie vor der jeunesse dorée der Residenz Ihrer Liebe zur Apothekerstochter in anderem Ton, als Ihrer andern Eroberungen, Erwähnung thun?“

„Herr!“ brauste Gustav auf.

„Ich frage, warum Sie den Fehltritt eines Mädchens plötzlich schmähen, da ich hundert Mal Ihresgleichen sich solcher und größerer Vergehen rühmen hörte!?“

In der Verwirrung widerstreitender Gefühle entflohen Gustav die Worte: „Sie thun mir Unrecht. Ich wäre an Elisens Seite etwas geworden.“

Oldenburg sah mit ernstem, großem Blick den Jüngling an. „Was thaten Sie denn,“ sprach er, „den Traum Ihrer Jugend zu verwirklichen? Man muß sich sein Ideal verdienen. Wenn Sie nicht Seelenstärke genug besitzen, dem Mädchen zu verzeihen, seien Sie wenigstens auch darin Egoist, sich aus Ihrem Verlust Gewinn zu schaffen. Im Schmerz liegt Kraft. Widmen Sie diese Kraft dem Guten, dem Schönen, dem Vaterlande!“

Gustav blickte nachdenklich vor sich hin. In seiner Seele ward es mehr und mehr klar und lichtvoll, wie draußen am Himmel … „Sie sind frei,“ sagte er leise, „Sie werden Elisen jetzt Ihre Hand reichen.“

„Wie klein denken Sie von ihr, von mir!“ versetzte Oldenburg mit schmerzlichem Lächeln. „Sollen wir die Lästerungen durch eine Lüge zum Schweigen, soll ich über dem Grabe meiner Frau des Mädchens Zukunft zum Opfer bringen? Nein, Elise liebt mich nicht. Ich aber werde meine Schuld büßen, ohne Sie in mein Schicksal zu ziehen und Sie zum Mörder zu machen. Gestern Nachts während des Brandes erhielt ich aus der Residenz die Nachricht, daß unser König für Schleswig-Holsteins Recht das Schwert ergreift. Der Krieg ist erklärt, das Heer bricht auf. Ich werde für die Ehre Deutschlands kämpfen, ich werde dafür fallen …“

Er sprach dies mit schlichter Innigkeit; der erbittertste Verleumder hätte seinen Worten geglaubt. Und wie er so dastand, von rosigem Licht übergossen, die Augen voll milden Ernstes dem Sonnenaufgang zugewandt, ein Bild kraftvoller Schönheit, ergriff Gustav tiefe Bewegung. Aber noch drängte dieser den Sturm zurück. „Was wird aus Elise werden?“ fragte er mit bebender Stimme.

„Elise ist eine große Seele,“ gab Oldenburg als Antwort zurück. „Sie wird denjenigen, welche sie gestern am grimmigsten lästerten, am meisten Gutes thun. Ihr Alle, wenn ich längst vergessen und begraben bin, werdet sie einst bewundern und segnen.“

Da warf sich Gustav plötzlich aufweinend an Oldenburg’s Hals. „Nein,“ rief er, „ich werde Sie niemals vergessen, so wenig ich dieser Nacht vergesse, die mich in meinem tiefsten Wesen verwandelt und geläutert hat. Sie sind ein Held, ich will wenigstens ein Mann sein. Heute noch, in Ihrer Gegenwart, werfe ich mich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 819. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_819.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)