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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

No. 1.   1865.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.




Der Richter.
Nach brieflichen Mittheilungen. 0Von J. D. H. Temme.


1.0 Der Ruf der Nachteule.

In einem anmuthigen Bergkessel, nicht weit von dem freundlichen Friedrichshafen am Bodensee, liegt das kleine Dorf Schönthal. Die Berge umher, die es einschließen, sind nicht zu hoch und dachen sich meist allmählich ab. So scheint die Sonne schon früh des Morgens in das Dörfchen hinein, und ihre letzten Strahlen verschwinden erst wieder, wenn auch jenseits der Berge der Abend bald anbrechen will. Das Dörfchen ist wohlhabend; seine hellen hübschen Häuser, die freundlichen Gärten vor und neben diesen zeigen es. Ein klarer Bach rauscht an dem Orte vorüber und verliert sich dann zwischen Weiden und Gebüsch in die grünen Wiesen, die sich ringsum ausbreiten. Die Berge sind mit Waldung bedeckt und die Bäume ziehen sich bis unten in die Schlucht hinein, wo sich buntes Buschwerk anschließt. Ersteigt man die Berge, so hat man oben auf der Höhe die reizendste Aussicht und weiß nicht, soll man den Blick lieber wenden in die stille Schlucht mit den hellen Häusern, den freundlichen Gärtchen, den grünen Wiesen, dem blauen Bache, der zwischen dem Allen sich hindurchschlängelt, oder hinaus in die weite Ferne jenseits der Berge, zurück in die fruchtbaren Ebenen und holzreichen Gebirge des Württemberger Landes, vorwärts auf den mächtigen grauen Bodensee, über ihn hinweg in die hoch zu den Wolken hinaufragenden Alpen und Schneefirnen der Schweiz, in das Glarner und Appenzeller Land, in das Toggenburg bis weit hinten nach Graubünden hinein.

Zu Ende des Dörfchens in der Schlucht liegt auf einem kleinen Hügel die Kirche, um dieselbe herum der Friedhof, zu dessen Füßen das Pfarrhaus, welches von dem freundlichsten Gärtchen des Dorfes umgeben ist. An einem hellen und warmen Nachmittage des Mai saßen in diesem Gärtchen an der Vorderseite des Hauses der Pfarrer und seine Frau. Es waren ein paar alte Leute. Das lange, etwas lockige Haar des Pfarrers war silberweiß, unter der Mütze der Pfarrerin sahen weiße Löckchen hervor. Sie waren Beide noch rüstig; man sah ihnen die stille Zufriedenheit an, die das lange, ruhige und zufriedene Leben in dem stillen Thale ihrem Innern gegeben hatte. Der Pfarrer las seine Zeitungen und rauchte seine Pfeife. Die Pfarrerin strickte und ließ über das Strickzeug hinweg die Augen durch das Gärtchen, über Dorf und Schlucht zu den Bergen hinaufschweifen. Beide tranken sie ihren Thee; Brod und Himbeeren und Johannistrauben lagen in Schüsseln daneben. So saßen sie an dem kleinen Tische unter dem Schatten eines Kirschbaums, dessen rothe Frucht zu ihnen herunter hing.

Aus dem Hause trat ein junges Mädchen zu ihnen, das siebenzehn bis achtzehn Jahre zählen mochte. Sie war das schönste und reizendste Bild dieses Alters; hoch und schlank gewachsen; die Züge regelmäßig und edel geformt; das ganze Gesicht weiß wie die Blüthe und roth wie die Frucht der Kirsche; die großen dunklen Augen voll träumerischer Gluth - Alles an ihr freundlicher Liebreiz, unbewußter Adel und das selige Glück eines Kindes. Sie war die Tochter des alten Pfarrerpaares; das einzige Kind, das ihnen der Himmel erst in später Ehe geschenkt hatte, war sie zugleich der Augapfel, das Glück der Eltern.

„Darf ich meinen Spaziergang machen?“ fragte sie.

„Wohin heute?“ fragte der Vater nur zurück.

„Zu dem Ahornberge nach dem See hin.“

Der Vater nickte.

„Du bleibst doch nicht zu lange?“ fragte die Mutter.

„Vor Sonnenuntergang bin ich wieder da, Mütterli.“

Sie kehrte in das Haus zurück, um Hut und Tuch zu dem Spaziergange anzulegen. Die beiden Eltern sahen ihr mit dem vollen Glücke ihrer Herzen über das liebliche Kind nach.

„Wie schön sie ist!“ sagte die Mutter.

„Und wie brav!“ sagte der Vater.

„Und wie freundlich und kindlich und liebevoll gegen uns!“ sagten sie alle Beide.

„Wenn sie einmal von uns müßte, Vater! Wenn ein Mann sie in die Fremde holte!“

„Sie ist noch jung.“

„Aber sie kann alle Tage heirathen.“

„Sie könnte auch hier bei uns bleiben, Mutter.“

„Wer wäre in diesem Dorfe ein Mann für sie?“

„Mein Nachfolger zum Beispiel. Ich bin alt, ich könnte mir einen tüchtigen jungen Geistlichen adjungiren lassen.“

Die Pfarrerin antwortete nicht; sie sah auf ihre Stricknadeln nieder, aber mit einem eigenthümlichen Ausdrucke ihres Gesichts. Und dieser Ausdruck schien zu sagen: „Das Kind ist so besonders schön, ist so brav und edel, hat die vortreffliche Ausbildung in der Pensionsanstalt zu Canstatt erhalten und sollte als Pfarrerin in dem kleinen Dorfe, in der engen Schlucht versauern!“

Sie selbst hatte als Pfarrerin in dem kleinen Dorfe und in der engen Schlucht ein langes Leben voll Glück und Zufriedenheit verlebt; aber das Mutterherz hat seine besonderen Pläne und Hoffnungen und Träume. Sie wurde in ihren Hoffnungen und Träumen unterbrochen. Aus einem der Berge, die das Thal umgaben, ertönte der schrille Schrei einer Eule; die länger gezogenen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_001.jpg&oldid=- (Version vom 10.4.2019)