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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

melancholischen Töne des Vogels der Nacht folgten. Es dauerte nur ein paar Secunden; dann war Alles still. Der Pfarrer blickte unmuthig in die Gegend, aus der die Töne kamen.

„Das ist nun schon seit vierzehn Tagen,“ sagte er verdrießlich.

„Und so früh, noch am hellen Tage,“ sprach die Pfarrerin; aber weniger verdrießlich.

„Das Thier ärgert mich,“ fuhr der Pfarrer fort. „Ich bin nicht abergläubisch, aber der Schrei der Nachteule war mir immer widerwärtig.“

„Mich ängstigt er,“ meinte die Frau; „aber nur des Nachts, wenn Alles still ist, oder wenn der Wind heult.“

Sie sprachen nicht weiter darüber. Der Pfarrer las, die Pfarrerin strickte wieder. Sie sah aber auch wieder über das Strickzeug hinweg, und da gewahrte sie etwas, worüber ein neues Gespräch der alten Leute sich entspann. Oben an der Kirche über dem Pfarrhause stand ein junger Mann in der eleganten Kleidung der Touristen; es war eine hohe Gestalt, von stolzer Haltung.

„Da ist der fremde Herr wieder,“ sagte die Pfarrerin. „Wer er nur sein mag? Er muß nun schon seit vier bis fünf Wochen in der Gegend sein.“

Auch der Pfarrer sah den jungen Mann.

„Er wohnt unten am See in dem Heusser’schen Landhause,“ sagte er.

„Aber wer er sein mag?“ wiederholte die Frau.

„Er nennt sich Bormann.“

„Ja, ja! Aber hinter dem simplen Bormann muß mehr stecken. Er hat das ganze Haus für sich allein gemiethet. Er hält sich Bedienten, Kutscher, Wagen und Pferde; er hat seine Gondeln auf dem See. Alles für sich ganz allein. Er muß sehr reich sein.“

„Er soll ein Kaufmannssohn aus Hamburg sein,“ meinte der Pfarrer, „und in Hamburg sind sehr reiche Kaufleute.“

„Das mag sein. Aber er hat so etwas besonders Vornehmes, Stolzes! Wie ein Fürst!“

„Auch die Hamburger Kaufleute werden vornehm und stolz sein können.“

Sie wurden in ihrem Gespräche unterbrochen. Das schöne Mädchen kehrte aus dem Hause zurück. Sie war jetzt in Hut und Shawl und schien eilig zu sein, ihr Gesicht war etwas geröthet. Es war eine so feine Röthe in dem feinen Gesichte. Der weiße runde Hut, den sie trug, warf mit seinem breiten Rande einen so wunderbaren Schatten gegen die Abendsonne darauf. Das Mädchen war wunderbar schön. Sie war eilig; sie machte dennoch den Umweg zu den Eltern, um Abschied von ihnen zu nehmen. Nur für eine Stunde. Zum Sonnenuntergang wollte sie zurück sein. Die Sonne schien nur noch kaum über die Berge der Schlucht herüber; in einer Stunde mußte sie auch schon jenseits, da hinten über dem oberen Bodensee, untergegangen sein.

„Bis nachher,“ sagte sie freundlich.

„Bis nachher, Johanna,“ sagten freundlich die beiden alten Leute.

Sie ging. Sie ging so glücklich.

„Du bleibst doch nicht zu lange?“ rief ihr die Mutter noch nach. Die besorgliche Frau hatte es ihr schon vorhin gesagt.

„Nein, nein, lieb Mütterli!“

Und das schöne Mädchen wandte sich noch einmal um, während sie diese Worte rief. Und sie sahen noch einmal das schöne, blühende Gesicht, die dunklen Augen, die in diesem Momente nicht träumten, sondern hell glänzten in Glück, in Ahnung, in Verlangen.

„Wie schön und brav sie ist!“ sagte die Mutter noch einmal.

„Mein Gott, wenn wir das Kind verlieren müßten!“ rief auf einmal die Mutter. Sie war blaß geworden.

„Mutter, wie kommst Du auf den Gedanken?“

Die Pfarrerin antwortete nicht, aber sie war blaß geblieben. Und so war sie noch lange und suchte es dem Manne zu verbergen. Sie wußte ja selbst nicht, was es war; sie hatte wohl eine Ahnung, aber auch für diese keinen Grund.

Der Pfarrer ging in das Haus, um noch an seiner Predigt für morgen zu studiren, denn es war Sonnabend. Die Pfarrerin saß allein in dem Gärtchen. Der Gedanke: wenn wir das Kind verlieren müßten, wollte sie nicht wieder verlassen und machte ihr das Herz schwerer und schwerer.

Die Sonne war untergegangen. Unten in der Schlucht war es schon dunkel. Der alte Pfarrer in seinem Studirstübchen arbeitete schon bei der Studirlampe. Die Pfarrerin saß noch unter den rothen Kirschen in dem Gärtchen vor dem Hause. Die Stricknadeln ruhten vor ihr auf dem Tische. Sie blickte zu dem Abendhimmel hinaus, an dem noch einzelne goldene Wolken ruhten. Sie sah den Weg hinunter, den ihre Tochter zurückkommen mußte. Die Sonne war schon untergegangen und noch vor Sonnenuntergang hatte das Mädchen zurück sein wollen. Es wurde dunkler; die Wolken hatten nur noch oben einen hellen Saum. Die Pfarrerin wurde unruhig.

„Wo das Kind bleiben mag?“

Die Wolken oben am Himmel waren grau geworden, unten in der Schlucht lag der volle dunkle Abend. Die Pfarrerin litt es nicht mehr auf ihrem stillen, einsamen Platze. Sie ging in das Haus, in das Studirstübchen ihres Mannes.

„Vater, die Johanna ist noch nicht wieder da.“

Der Pfarrer war noch am Studiren. Seine Gedanken waren in seinen Büchern.

„Sie wird schon kommen,“ sagte er.

Die Frau wagte nicht, ihn weiter zu stören. Sie ging in die Küche zu den Mägden, in die Scheune zu dem Knechte.

„Habt Ihr die Johanna nicht gesehen?“

Niemand hatte sie gesehen. Sie kehrte in das Gärtchen vor dem Hause zurück und ging bis an das Pförtchen. Sie sah, sie horchte in den Weg hinein, den das Mädchen vorhin gegangen war, den es zurückkommen mußte. Sie sah, sie hörte nichts. Es wurde ihr heiß.

„Mein Gott, wo bleibt das Kind? Es ist ihr doch nichts zugestoßen? Dort, in dem dunklen Wege!“

Sie ging wieder in das Haus, in die Küche, in die Scheune, zu den Mägden, zu dem Knechte.

„Das Kind ist noch immer nicht wieder da. Geht doch in das Dorf, nach ihr zu fragen, ob kein Mensch sie gesehen hat. Sie wollte zum Ahornberge und schlug den Weg dahin ein.“

Die Leute gingen in das Dorf. Sie selbst ging in die nächsten Nachbarhäuser, aber sie fand Niemanden, der ihr Kind gesehen hatte. Die Domestiken kehrten zurück. Im ganzen Dorfe hatte kein Mensch von dem Fräulein etwas gesehen oder gehört. Sie ging wieder zu ihrem Manne hinauf.

„Vater, die Johanna ist noch immer nicht wieder da. Im ganzen Dorfe weiß kein Mensch von ihr.“

Die Gedanken des Pfarrers verließen seine Bücher.

„Unser Kind? Johanna? Es ist ja neun Uhr! Sie hätte seit zwei Stunden zurück sein müssen!“

„Ja, Vater, und ich habe eine so entsetzliche Angst. Wenn das Kind nicht wiederkehrte!“

„Wie kommst Du auf den Gedanken, Mutter?“

„Schon seit einigen Tagen war es mir so besonders. Vorgestern war ich mit ihr oben an der Kirche. Wir sahen auf den Kirchhof herunter, auf die Gräber, die vor uns lagen, auch auf die Ruhestätte, die wir beiden alten Leute für uns bestimmt haben. Da wurde es mir auf einmal so schwer auf dem Herzen. ‚Johanna,‘ sagte ich, ,Deine Liebe sollte uns dahin geleiten. Wenn nur fremde Menschen an unserem Sarge stehen, zu dem Grabe da unten uns das Geleite geben müßten, unser Kind dort nicht für uns beten dürfte?’

‚Dürfte, Mutter?‘ rief sie. ‚Wie wäre das möglich?‘

Sie war mir seit einiger Zeit so sonderbar vorgekommen. Sie hatte etwas auf dem Herzen und wollte es mir manchmal sagen. Sie konnte es nicht. Darüber hatte ich nachdenken müssen, als ich zu den Gräbern hinunterblickte. Da hatte ich ihr das Wort gesagt. Es erschreckte sie.

‚Mutter, wie wäre das möglich?‘ rief sie.

‚Sieh mich an, Johanna,‘ sagte ich. ‚Hast Du etwas, das Du mir nicht sagen kannst?‘ Sie konnte mich nicht ansehen. Sie war blaß geworden. ‚Johanna, was ist es mit Dir?‘ fragte ich sie. Sie fiel mir weinend an die Brust.

,O meine liebe Mutter,’ sagte sie, ‚vertraue mir, vertraue Deinem Kinde, das immer Gott und seine Eltern vor Augen haben wird.‘

Ich konnte nicht weiter in sie dringen. Hätte ich es gethan!“

„Du hast mir nichts davon erzählt, Mutter,“ sagte der Pfarrer.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_002.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)