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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

„Und morgen wird der Unglückliche aufwachen,“ sagte Heine nach einer kleinen Pause, „ohne sich des heute Abend Vorgefallenen nur zu entsinnen. Würden Sie das Wahnsinn nennen? Die Geschichte mit einem plötzlichen Unwohlsein Dumas’, den er wie einen Bruder liebt, hat mir schon manchmal gedient. Jetzt führt ihn mein Portier zum Doctor Blanche, dessen Anstalt er bewohnt, und wenn die Krankheit seit einem Monate nicht wesentlich fortgeschritten, so ist er morgen schon wieder auf den Beinen.“

„Ich habe nie von alledem gewußt, obgleich ich Gerard seit zwei Monaten kenne,“ sagte ich.

Heine hatte seinen Kopf wiederum in’s Kissen zurückfallen lassen. Seine Augen waren nicht geschlossen, seine Hand nicht zusammengekrampft, kein Zeichen körperlichen Schmerzes war an ihm sichtbar, und doch las ich in seinen abgemagerten Zügen solch herben, herzzerreißenden Schmerz, daß ich Alles aufzubieten suchte, um ihn zu zerstreuen, und mich, wie es gewöhnlich bei solchen Gelegenheiten geht, sehr ungeschickt dabei benahm und die Sache verschlimmerte.

„Wie ist denn diese sonderbare Geisteskrankheit dem armen Gerard gekommen?“ fragte ich in der Absicht, ihn durch eine Erzählung nach und nach auf ein anderes Thema zu bringen. Er schwieg einen Augenblick.

„Nehmen Sie doch jenes Buch da vom Fenster,“ sagte er. „Es sind Schiller’s Gedichte, thun Sie mir den Gefallen und lesen Sie mir ‚das verschleierte Bild zu Saïs‘ vor.“

Ich gehorchte, suchte das Gedicht und las es. Als ich geendet hatte, sah mich Heine regungslos an. „Sie fragten mich, woher Gerard’s Geisteskrankheit komme,“ sagte er, „Schiller hat Ihnen geantwortet, wenn Sie anstatt ‚Wahrheit‘ – ‚Glück‘ setzen … Ja,“ fuhr er nach einer Pause fort, „wen Jupiter strafen will, macht er zum Dichter! Armer Gerard! Denken Sie Sich, lieber Herr, er hat in der ganzen literarischen Sippschaft keinen einzigen Feind … alle Börsen sind ihm offen und Niemand weiß, woher ihm sein Wahnsinn kommt, ich auch nicht, und doch errathe ich es! … Einen großen Dichter haben Sie heute Abend gesehen, er ist verrückt; kommen Sie einmal des Donnerstags her, dann will ich Ihnen Alfred de Musset zeigen, welcher in einer Flasche Absynth Vergessen und Tod sucht und ihn sicher bald finden wird. Ich habe ihn oft und hart angegriffen und muß doch eingestehen, daß er einer der größten Poeten unserer Epoche ist … nein gewesen ist; denn jetzt ist er nichts mehr als eine Ruine … Sie können Sich auch den Doctor der Jurisprudenz Heinrich Heine ansehen, welcher die Rückenmarkdarre hat, obgleich man ihm das Gegentheil einreden will – das ist auch einer der Dichter unserer Zeit, die an einer Art von poetischem delirium tremens sterben werden, und recht bald, so Gott will … Lieber Herr, thun Sie mir den Gefallen, wenn Sie einmal einen Sohn haben, der poetische Anlagen besitzt, geben Sie ihm so viel Grütze zu essen, daß er fett wird und seine ganze Poesie in seinem Fette verschwindet …“

Ich konnte es nicht länger ertragen.

„Schweigen Sie, schweigen Sie!“ rief ich, „Sie regen mich zu schmerzlich auf … und Sich gewiß noch mehr.“

Heine lachte.

„Armer junger Mann!“ sagte er, „leben Sie noch ein Jahrzehnt in der Welt und Sie werden über die Jeremiaden des sterbenden Poeten lachen, wie unser ganzes Geschlecht!“

Und er lachte weiter mit einem krampfartigen, mißtönenden Lachen, das mir das Mark in den Knochen erstarrte und machte, daß ich mich meilenweit fortwünschte.

Ich schauderte … es ist mir unmöglich, die Gefühle, die mein Gehirn verwirrten, wiederzugeben. Der Cynismus des Kranken erregte mir Abscheu, seine Schmerzen Mitgefühl, sein Geist Bewunderung. Als ich ihm darauf bemerklich machte, welchen Antheil das deutsche Publicum an Heine’s Leiden nehme, lachte er aus vollem Halse, d. h. so sehr es seine Krampfanfälle zuließen.

„Sie haben Recht,“ sagte er, „neulich war der große Schimpanse des Jardin des Plantes auch unwohl, und ganz Paris interessirte sich für den kranken Affen, und als er endlich starb, gab es Kindermädchen, die täglich den Garten besuchten, welche traurig den Kopf hängen ließen und seufzend ihren Gefreiten sagten: ‚Ach, solch einen Affen giebt es nicht mehr!‘ Ich werde eher in Deutschland vergessen werden, als der große Affe des Jardin des Plantes, und ich will Ihnen auch erklären weshalb und Deutschland gegen mich selbst vertheidigen. Ich hätte mir als lyrischer Dichter Ruhm erwerben können … und Deutschland hätte mich geliebt, als satirischer hätte es mich gefürchtet, als Polemiker hätte es auf mich gehört und mich gehaßt! Nun bin ich aber, Gott sei’s geklagt, so ziemlich Alles gewesen und Niemand weiß mich zu classificiren; da mein Deutschland sich aber nicht gern den Kopf über Kleinigkeiten, wie ich bin, zerbricht und zu viel zu thun hat, um die transscendentalen Ideen seiner Politiker zu begreifen, so macht es unter mein Dichten und Trachten einen Strich und sagt: diese Rechnung ist geschlossen! und geht zu einem anderen Conto über.“

Ich mußte malgré moi die Einfälle des Kranken belächeln.

„Bitte, holen Sie mir einmal aus dem Schranke dort Alfred de Musset’s Poesien,“ sagte er, „geben Sie das Buch her, hier … lesen Sie mir einmal diese Stelle vor. Ich kann den Menschen nicht leiden, und doch ist es mir ein Bedürfniß, seine Verse zu hören.“ Ich las … es war eine der besten und zugleich der schrecklichsten Poesien des verzweifelten Dichters. Es ist „Les voeux stériles“ betitelt und ist wahrscheinlich in Deutschland wenig bekannt. Das Gedicht ist an die Poeten und poetischen Naturen gerichtet und prophezeit ihnen, daß die Menge sie und ihre Gefühle immer verhöhnen wird, daß die Menge nur an Thatsachen, an „fließendes Blut“ glaubt, aber „tiefe, verzehrende Seelenschmerzen“ als poetische Erfindungen verlacht. Es ist unmöglich, eine Analyse dieses schaurigen Meisterwerkes zu geben, und diejenigen, welche sich für die Unterhaltung interessiren, die ich an diesem mir unvergeßlichen Abend mit Heine hatte, müssen es selbst lesen. Mit geschlossenen Augen hatte mir Heine zugehört und während meiner Lectüre in kleinen Zügen das vorher von seiner Frau bereitete Getränk geleert. Als ich geendet hatte, fragte er mich, ob ich das Gedicht schon früher gelesen. Ich verneinte es.

„So lesen Sie es, so oft Sie können,“ sagte er, „und wenn Sie ein Dichter sind oder Anlagen dazu haben, was ich fast befürchte, dann lesen Sie es täglich Morgens, Mittags und Abends, lernen Sie es auswendig und lehren Sie es Ihre Kinder; beinahe möchte ich Ihnen sagen, wie die Juden in ihren Gebeten: schreiben Sie es an die Pfosten Ihres Hauses und binden Sie es vor Ihre Stirn.“

„Und wenn das Alles nicht hilft?“ fragte ich schüchtern.

„Ja dann,“ sagte der kranke Dichter sehr ernst, „wenn es geschrieben steht … dann kann kein Musset helfen, dann, mein lieber Landsmann, kann ich Ihnen nur rathen, die Märtyrerkrone mit Würde zu tragen und“ – er lächelte beißend – „Ihr Geld keinem Schwindler anzuvertrauen! Und nun leben Sie wohl, lieber Herr, ich werfe Sie hinaus, aber, Sie werden mir verzeihen, ich muß mich schonen, denn ich erwarte noch einen Besuch und habe sehr viel gesprochen … Leben Sie wohl, und wenn Sie wieder nach Paris kommen, besuchen Sie mich – wenn ich nämlich dann noch sichtbar bin,“ setzte er mit einem mir gezwungen scheinenden Lachen hinzu.

Ich ging näher und reichte ihm die Hand … Heute darf ich es gestehen, hätte ich mich nicht mit Gewalt bezwungen, ich hätte geweint.

Eine Dienerin öffnete die Thür und meldete: „Frau von Girardin.“

„Da kommt mein seit einem ganzen Monate erwarteter Besuch!“ rief Heine.

Eine schlanke, noch jugendliche Figur mit einem höchst interessanten Gesichte trat ein und ging auf den Dichter zu, dem sie herzlich die Hand drückte.

„Ave, Delphina gratia plena, moriturus te salutat!“[1] rief Heine; „ich werde heute Abend sehr Pedant sein, liebe Madame, ich habe eine ganze Stunde mit einem Deutschen, dem hier, gesprochen.“

Erröthend verneigte ich mich und schritt der Thür zu.

„A propos!“ rief mir Heine nach, „da Sie wahrscheinlich einmal dem Verlangen unterliegen werden unsere Unterhaltung zu veröffentlichen, so thun Sie mir doch den Gefallen, Nichts von Ihrer eigenen Erfindung hinzuzusetzen und meine Gedanken so dem hochverehrten Publicum wiederzugeben, wie Sie solche von mir erhalten. Thun Sie mir den Gefallen, seien Sie ein ehrlicher Mensch … nicht wahr?“

Ich ging. –

  1. „Willkommen, anmuthvolle Delphina, ein Sterbender begrüßt Dich!“
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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_010.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)