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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

allgemein bekannt, daß Herzog Friedrich, der zur Stärkung seiner Gesundheit niedrere Jahre in Italien gelebt hatte und dort mit Hülfe der Jesuiten katholisch geworden war, total geistesschwach und der Sprache fast völlig beraubt die Regierung des ihm zugefallenen Landes angetreten hatte. Die nicht ungegründete Befürchtung des Direktoriums, daß diese Geistesschwäche und der Sprachmangel mit einem lebensgefährlichen organischen Uebel zusammenhängen, wurde indeß von den beiden Leibärzten des Herzogs beseitigt, welche eine vom Vorstande der Union ihnen vorgelegte Reihe von Fragen, den Gesundheitszustand den zu Versichernden betreffend, in beruhigendster Weise beantworteten. Sie erklärten ausdrücklich, daß der Herzog an keinem andern körperlichen Gebrechen leide, als an einem grauen Staar auf dem linken Auge und einer bloßen Schwerfälligkeit der Sprache, die seit dem Jahre 1819 eingetreten sei. Sonst aber seien Umstände, die sein Leben in Gefahr bringen und eine Versicherung darauf mehr als gewöhnlich gefährden könnten, bei ihm weniger als bei jedem Andern zu fürchten, da die Lebensweise des Herzogs nach ärztlicher Anordnung auf das Genaueste geregelt sei und seine Umgebung auf’s Sorgfältigste über die Erhaltung seiner Gesundheit wache.

Trotz dieser beruhigenden officiellen Erklärung der herzoglichen Leibärzte übernahm die Union doch nur unter außergewöhnlichen Vorsichtsmaßregeln den Versicherungsantrag. Sie verlangte in dem gegenwärtigen Falle eine jährliche Prämie von fünf Procent, während sonst bei neunundvierzig Jahre alten Personen – so alt war damals der Herzog – nur eine Prämie von zwei und vier Fünftel Procent bei Versicherungen auf fünf Jahre üblich war. Die Versicherer schlugen mithin die außerordentliche Gefahr, die nach ihrer Meinung für die Dauer des körperlichen Wohlbefindens des Herzogs Friedrich vorhanden war, auf zwei und ein Fünftel Procent an und verlangten mithin fast das Doppelte der gewöhnlichen Prämie. Außerdem erklärte die Union, daß sie nicht die ganze Summe, mit welcher die Beteiligten das Leben des Herzogs versichern wollten, übernehmen werde, daß sie aber bereit wäre die Versicherung des Restes bei andern Londoner Gesellschaften zu vermitteln. Dieser Umstand allein dürfte schon den enormen Betrag der Schulden constatiren, die Herzog August bei seinen Landeskindern contrahirt halte. Die Betheiligten gingen auf die ihnen gemachten Bedingungen ein. Die Union übernahm die Versicherung bis zur Höhe der von ihr festgestellten Summe und versicherte den Rest bei vier andern englischen Gesellschaften, nämlich bei der Atlas Assurance Company, London Assurance Corporation, West of England Company und der Eagle Assurance Company. Bei der damaligen schwerfälligen Correspondenz zwischen Gotha, Hamburg und London verging eine geraume Zeit, bevor das Geschäft definitiv abgeschlossen wurde. Erst im Juni 1824 erhielten die Gothaer Interessenten ihre Policen und zahlten die erste Prämie an den Unteragenten der Union in Erfurt.

Aber nicht viel über ein halbes Jahr später (am 11. Februar) starb, unerwartet für seine ganze Umgebung, Herzog Friedrich nach einem Schnupfenanfalle, der den Aerzten keinen Anlaß zu irgend welcher Besorgnis; gegeben hatte, und mit ihm erlosch die Gothaisch-Altenburgische Dynastie. Bei der, wie es heißt, auf Anordnung des Großherzogs von Weimar vorgenommenen Section fand sich in der Schädelhöhle eine das Gehirn zusammenpressende Balggeschwulst, die sechs Zoll drei Linien in der Länge und drei Zoll zwei Linien in der Breite betrug und über acht Loth schwer war, während sich zwischen den Gehirnhäuten und dem Gehirn eine Menge Wasser vorfand, deren Gewicht nicht weniger als zwanzig Loth betrug. Diesen widernatürlichen Wassererguß erklären die Aerzte für die nächste Veranlassung des schnellen Todes des Herzogs, während sie unwiderleglich beweisen zu können aussprachen, daß die Ursache des beschränkten Geisteszustandes des Herzogs schon in dessen frühesten Lebensjahren entstanden wäre und den Tod desselben nicht herbeigeführt hätte. Der Befund dieser merkwürdigen Section wurde officiell in der Gothaer Zeitung veröffentlicht.

Die Inhaber der Policen machten nunmehr ihre Forderungen an die englischen Versicherungsgesellschaften geltend. Die Union und die West-Company leisteten Zahlung für die bei ihnen versicherten Summen, die drei übrigen Gesellschaften erklärten aber nach vielen Weiterungen, daß sie wegen eines Bruches der Bedingungen nicht zahlen würden. Alle Vorschläge, sie günstiger zu stimmen, wären ebenso vergeblich, wie die Versuche, sie zur Angabe eines speciellen Grundes ihrer Weigerung zu vermögen. Es blieb den Interessenten in Gotha nichts übrig, als ihre Ansprüche auf gerichtlichem Wege zu verfolgen. Aber auch die Klageführung vor den englischen Gerichtshöfen wußten die Compagnieen auf alle Weise zu erschweren. So wollten sie z. B. eine Bürgschaft von fünfhundert Pfund Sterling, welche das Haus Rothschild für die Kläger geleistet, für nicht sicher genug gelten lassen!

Endlich, nach langen, zu keinem Endziele führenden Verhandlungen, ordnete der Gerichtshof der Kings-Bench aus seiner Mitte eine Untersuchungs-Commission nach Gotha ab. Es war das nicht etwa eine Commission von Rechtsgelehrten, die sich über diese Angegelegenheit an Ort und Stelle unterrichten und mit den gothaischen Behörden in Vernehmen setzen sollten, sondern ein vollständiger englischer Gerichtshof, dem mit specieller landesherrlicher Ermächtigung des durch den Erbvertrag von 1826 zur Regierung gelangten Herzogs Ernst des Ersten von Sachsen-Coburg-Gotha die Befugniß eingeräumt war, auf deutschem Grund und Boden nach englischen Rechtsnormen zu verfahren und für seine Verfügungen und Requisitionen unweigerliche Folgeleistung zu fordern.

In der Geschichte deutscher Rechtspflege dürfte dieser Fall wohl einzig in seiner Art dastehen.

In England würde ein ähnlicher Verzicht auf die eigene Justizhoheit zu Gunsten eines ausländischen Forums so gut wie eine mathematische Unmöglichkeit, etwas geradezu Undenkbares sein. Wir brauchen nur, um von eben Erlebtem zu sprechen, an die Erbitterung zu erinnern, welche sich bei Gelegenheit des Müller’schen Processes in der englischen Presse gegen den dortigen deutschen Rechtsschutzverein kund gab. Und doch war in der Thätigkeit dieses Vereins auch nicht eine entfernte Spur von richterlichen Usurpationen oder von dem Versuche einer Beeinflussung des englischen Rechtsganges zu entdecken, da bekanntlich das löbliche Wirken des Vereins sich darauf beschränkt, dem deutschen Landsmanne die ihm schwer zugänglichen Mittel zur Erstreituug seines Rechtes oder zu seiner Vertheidigung vor englischen Gerichtsschranken zu Gebote zu stellen.

Leider aber können wir nicht constatiren, daß sich damals in unserm Vaterlande auch nur eine einzige patriotische Stimme zu einem Proteste gegen den fremdländischen Gerichtshof auf deutschem Boden erhoben hätte; keiner der berühmten Rechtslehrer, welche jener Zeit an deutschen Universitäten docirten – Savigny, Thibaut, Mittermaier, Zachariä – ließ sich auch nur mit einem Ausdrucke des Erstaunens über diesen fremden Einbruch in das deutsche Recht vernehmen. Erst im Jahre 1830, nachdem der Proceß schon längst zu den Acten gelegt war, durfte der in Gotha damals erscheinende „Allgemeine Anzeiger der Deutschen“ seiner durch das Imprimatur des Censors autorisirten Entrüstung gegen den englischen Gerichtshof Luft machen, freilich unter ausdrücklicher Wahrung der dankbarsten Anerkennung gegen den regierenden Herzog, der lediglich „in der Absicht, seinen Unterthanen zu dem Ihrigen zu verhelfen“, fremdes Recht und fremde Richter in’s Land gerufen hatte.

Die Sitzungen der Kings-Bench Commission, die volle fünf Monate dauerten, fanden unter dem Präsidium eines Mr. Mitchell im Gasthofe „zum Mohren“ in Gotha statt, in welchem die right honourable gentlemen ihren Wohnsitz aufgeschlagen hatten, zur großen Genugthuung des Mohrenwirthes, da diese seltenen Gäste nach höchstem englischen Style lebten, aber zu eben so großem Mißvergnügen der an dem Rechtshandel betheiligten gothaischen Bürger, welche die Zeche für jene Herren bezahlen mußten.

Die englische Untersuchungs-Commission nahm auch durchaus keinen Anstand, von den ihr eingeräumten Befugnissen den ungenirtesten Gebrauch zu machen – sie that, als ob sie zu Hause wäre, und da sie’s einmal durfte, that sie – unseres Bedünkens – Recht daran. Den damaligen Gothanern jedoch muß es curios genug vorgekommen sein, ihren „hochseligen“ Landesvater gewissermaßen wieder aus seinem Grabe ausgescharrt zu sehen, um nochmals dem unbarmherzigen, pietätlosen Secirmesser der fremden Richter unterworfen zu werden. Denn die Untersuchung ging vorzüglich darauf aus, nicht blos den körperlichen und geistigen Zustand, sondern auch die geheimen Lebensgewohnheiten weiland Herzog Friedrich’s des Vierten auf’s Gründlichste festzustellen. Die Leibärzte des Verstorbenen wurden zu dem Behufe vor den Schranken der Kings-Bench-Commission im „Mohren“ der ganzen Peinlichkeit eines englischen Kreuzverhöres unterworfen, und sie mußten sich’s gefallen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_014.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)